Standpunkt: Was zum Festhalten
Klaas Neumann
Was zum Festhalten
Viele sehnen sich nach Klarheit und Echtheit. Doch das Leben ist selten eindeutig. Wer das ­akzeptiert, kann gelassener mit anderen umgehen.
18.09.2020

Vorgelesen: Standpunkt "Was zum Festhalten"

Authentizität ist die Sehnsucht unserer Gegenwart: "Wie authentisch darf die Royal Family sein?", zerbrach sich das Magazin "Der Spiegel" anlässlich des Rückzugs von Harry und Meghan den Kopf. "Trotz Corona-Ausbruch: Ischgl bleibt authentisch", versicherte die Zeitung "taz" den krisenfesten Skifreunden unter ihren Lesern.

Politik, Gesellschaft und Kunst haben längst auf diese Sehnsucht reagiert: Donald Trump nutzt Twitter als "way for me to get the truth out". Unzäh­lige Coachings und Seminare werden zu Authentizität angeboten: ­"Authentisch Frau sein" oder "Authen­tizität in der Führungsrolle". In der Literatur dürfen wohlmeinende Leser Karl Ove Knausgård dabei zusehen, wie er einige Tausend Seiten lang an seinem Leben leidet, oder mit Thomas Melle in die Abgründe einer manisch-depressiven Erkrankung abtauchen.

Privat

Erik Schilling

Erik Schilling, 36, lehrt Literatur­wissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2020 wurde er mit dem Heinz Maier-Leibnitz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausge­zeichnet. Kürzlich ­erschien sein Buch "Authentizität. Karriere einer Sehnsucht" (C.H.Beck).

Das Authentische bedient eine Sehnsucht nach dem Hier und Jetzt, nach dem Greifbaren, dem Realen, dem Echten. In einer Welt, in der wir in wenigen Stunden von Berlin nach Boston, von Paris nach Peking jetten, in der Skype und Whatsapp kommunikative Distanzen aufheben, in der Fakes den Glauben an Evidenz erschüttern und künstliche Intelligenz die Grenze zwischen Mensch und Maschine verschwimmen lässt, da wächst der Wunsch nach etwas Realem, an dem man sich festhalten kann.

Wenn jemand sagt, eine Person oder eine Sache sei authentisch, behauptet er willentlich oder unwillkürlich, die beobachtete Person oder Sache so gut wahrzunehmen, dass er Rückschlüsse ziehen kann von der äußeren Erscheinung auf einen vermeintlich wahren Kern. Ein extrovertierter Mensch ist authentisch, wenn er sich extrovertiert benimmt. Ein italienisches Restaurant ist authentisch, wenn Optik und Essen so sind wie in "echten" italienischen Restaurants.
Die Zuschreibung "authentisch" filtert die erbarmungslos auf uns einprasselnde Wirklichkeit, reduziert ihre Komplexität und ordnet sie in einfache Kategorien, die wir nicht hinterfragen müssen. Wenn wir ­etwas authentisch finden, können wir uns zurücklehnen, die Augen schließen und entspannen – nichts Unvorhergesehenes geschieht.

Mehr Raum für Ironie und Unschärfe

Doch diese Rede von Authentizität weist zwei Probleme auf: Sie unterstellt erstens, dass die Beobachtung objektiv sei (dass also tatsächlich das beobachtet werde, was für den ­"wahren Kern" charakteristisch sei), und zweitens, dass es einen "wahren Kern" eines Menschen oder Objekts tatsächlich gebe. Die Rede von ­Authentizität transportiert damit eine Sehnsucht nach Wahrheit und Eindeutigkeit. Dies ist im besten Fall naiv, im schlechtesten gefährlich.

Etwas authentisch zu nennen, lässt keinen Raum für Unschärfe, Ironie, wechselnde Perspektiven. Stattdessen behauptet der Begriff, dass alles genau wahrgenommen werden könne und auch genau so beschaffen sei. Er verkennt, dass viele Dinge weder eindeutig schwarz oder weiß sind, noch sich eindeutig in unmissverständliche Worte fassen lassen.

Doch die Sehnsucht nach Authentizität lässt sich nicht einlösen. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen bis zu einem Zeitpunkt, zu dem alles angeblich noch ganz einfach war: unverfälscht, unverdorben, nicht entfremdet. Wann dieser Zeitpunkt angesetzt wird, ist von Fall zu Fall unterschiedlich: im Jahr 1955, als Frauen noch nicht so aufmüpfig waren, sondern authentisch weiblich (also: hinter dem Herd) – oder auch im Jahr 955, als die authentischen Deutschen sich in der Schlacht auf dem Lechfeld noch gegen einfallende Migranten aus dem Nahen Osten (Ungarn) zur Wehr zu setzen wussten. Eine so verstandene ­Authentizität verkennt, dass die Wirklichkeit komplexer ist, als es die Idee eines wahren Kerns oder einer wahren etwa weiblichen oder deutschen Identität annimmt.

Professionelles Handeln

Statt uns zu fragen, ob eine ­Sache oder eine Person authentisch ist oder nicht, sollten wir daher zwei Dinge tun: professionelles Handeln stärker wertschätzen und mehr Toleranz für Vieldeutigkeit ent­wickeln. Mit professionellem Handeln meine ich, sich in beruflichen und privaten Situationen so zu ver­halten, wie die jeweilige Rolle es er­fordert. Ein solches Plädoyer mag nicht populär sein und konservativ scheinen, steht doch aktuell eher der Imperativ im Vordergrund, man solle sein "wie man selbst" – und nicht etwa so, wie bestimmte Konventionen es ­fordern. Doch ich behaupte, dass ­ohne professionelles Verhalten der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, schnell Risse bekommt.

Eine Gesellschaft, in der jeder nur so ist, wie er ist, mutiert rasch zu einem Kampf von jedem gegen jeden. Wo sich alles darum dreht, dass meinem ­wahren Ich Recht geschieht, kann ich verlangen, Stundenpläne nach meinen Interessen, Vorlieben, Ab­neigungen zu schreiben. Ich kann fordern, dass bestimmte Themen etwa in Literatur, Film oder Kunst nicht behandelt werden, weil diese für mich negativ besetzt sind. Die Sehnsucht nach Authentizität mutiert auf diese Weise schnell zu Egoismus. Zur Professionalität hingegen gehört, dass man akzeptiert, dass jeder Mensch Teil einer Gesellschaft ist. Sich professionell zu verhalten bedeutet, die Existenz anderer Menschen mit ihren Wünschen, Plänen, Zumutungen zu akzeptieren – nicht in unbegrenztem Maße, aber doch in einem solchen, das jedem von uns ein möglichst ­angenehmes Leben erlaubt.

Die Gefühle mal sacken lassen

Wer das authentische Sein sucht, geht davon aus, dass man klar ­zwischen echt und "fake", zwischen richtig und falsch unterscheiden kann. Dies verleitet dazu, schnell zu urteilen, oft auch zu verurteilen. Eine gewisse Toleranz für Vieldeutigkeit hingegen behält neben dem offensichtlichen Urteil auch andere Möglichkeiten der Interpretation im Blick.

Sie erlaubt es, die Dinge gelassener zu sehen: einen Tag abzuwarten und die Emotionen sacken zu lassen, ehe der Tweet ab­gesetzt wird; von Politikerinnen, Pfarrern oder Fußballspielern nicht zu erwarten, dass sie perfekte ­Menschen sind, sondern dass sie sinnvolle Politik, ansprechende Predigten, wichtige Tore zustande bringen – und ansons­ten tun und lassen, was sie wollen, solange sie niemand anderen damit beeinträchtigen.

Wie angenehm kann es sein, wenn man akzeptiert, dass es ­mehrere "Wahrheiten" und Perspektiven auf eine Sache gibt. Wie spannend ist es, das Aushalten von Vieldeutigkeit zu üben – und nicht sofort nach einer ­eindeutigen Antwort oder der richtigen Lösung zu fragen.

Wenn nicht alles sofort perfekt sein muss, bleibt auch mehr Raum für Experimente. Sei es in der Wissen­schaft, sei es in der persönlichen Entwicklung. Der aktuelle Ruf nach Authentizität führt dazu, dass eine Klarheit der Ergebnisse und Posi­tionierungen erwartet wird, die nicht nur bisweilen schwer zu erreichen, sondern auch reduktionistisch und langweilig ist. Warum nicht einmal eine gewagte Forschungsfrage formulieren, auch wenn sie kontrovers sein mag und möglicherweise keine verwertbaren Ergebnisse produziert? Warum nicht Erfahrungen sammeln, die am Rande oder gar jenseits des eigenen Horizonts und Interesses stehen, aber vielleicht dennoch – oder gerade deswegen – bereichernd sind?

Jeder kann dazulernen

Ziel ist eine Kultur der Ge­lassenheit, des Verzeihens, der Großzügigkeit, des Nicht-so-ernst-Nehmens. Wenn man nicht daran glaubt, dass Menschen ­einen unveränderlichen Wesenskern besitzen, besteht die Hoffnung, dass sie dazulernen und ihr Handeln ändern und dass man mit Geduld und Nachsicht dazu beitragen kann. Wenn man die Möglichkeit einer solchen Veränderung in Betracht zieht, kann man großzügiger mit seinen Mitmenschen und sich selbst umgehen und verzeiht eher einmal eine Unannehmlichkeit oder einen Fehler. Wenn ich selbstironisch eine Schwäche zugebe, diskreditiert das nicht gleich mein gesamtes Wesen. Ich nehme mich und die Welt nicht so ernst. Denn alles könnte sein, ­wie es scheint, es könnte aber auch ganz anders sein – und das ist doch wunderbar!

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Der Beitrag von Erkin Schilling hat mich seit Erscheinen immer wieder irritiert. Warum das so ist? Dem kann ich mich selbst nur annähern. Vielleicht verstehe ich den Text nicht so, wie er gemeint ist. Ich bin kein Literaturwissenschaftler, und sicherlich wird Herr Schilling sich dem Thema aus dieser Perspektive genähert haben. (1) Den Begriff Authentizität verwenden weder ich selbst noch mein Umfeld in Aussagen wie "er/sie/es IST authentisch", geschweige denn in der Form "ich will authentisch bleiben". Wenn dieser Begriff verwendet wird, dann eher in der Form "er/sie/es WIRKT authentisch. Durch diese Aussage erfolgt kein (vor-)schnelles Urteilen und erst recht belegt diese Aussage keine Behaupotung, man könne sehr genau wissen, was wahr und echt, eben authentisch sei. (2) Die Sehnsucht nach Echtem und Wahrem...ist diese wirklich so falsch und einschränkend, wie Herr Schilling es andeutet? Sie erscheint sie mir beinahe als eine Notwendigkeit, auch und gerade für ein nachhaltiges gesellschaftliche Leben. Der Wunsch nach Lebensmitteln ohne fragwürdige Bestandteile, nach Werkzeugen und technischen Geräten ohne Sollbruchstellen, ohne Tricks, die die Nachfrage am Laufen halten und Wegwerfmentalität fördern...das alles fällt ebenfalls in den Bereich dieses Begriffes der Authentizität. (3) Ich meine verstanden zu haben, dass es Herrn Schilling weniger um das voraus gesagte geht als darum, dass die Menschen für sich nach Authentizität streben. - und dass es ihm um die Gefahr der Egozentrik geht, die dieses Ausleben der eigenen Authetizität mit sich bringt. Sein Plädoyer für mehr professioneles Handeln (als Gegensatz formuliert zur Suche nach Authentizität) impliziert aber, dass es daran fehle. Und diesen Vorwurf halte ich für unangebracht, da zahllose Menschen jeden Tag bei ihren Tätigkeiten das Gegenteil beweisen. Sie stellen sich selbst und ihre Gefühle zurück und liefern aus, produzieren, reparieren, servieren, beraten etc.pp. Und wenn es mal mit der professionellen Freundlichkeit dabei nicht so klappt, wird es seine Gründe haben. Die Menschen dann schlicht in ihre derzeit ausgeübte Rolle zu verweisen, wirkt in diesem Zusammenhang tatsächlich ausgeprochen konservativ. Der Mensch ist keine Maschine, kann und soll es auch nicht sein. Meine These ist, dass wir heutzutage eher ein Zuviel an professionellen Beziehungen und professioneller Freundlichkeit haben - wobei mir bewusst ist, dass ich offensichtlich ein anderes Verständnis vom Begriff der Professionalität habe als Herr Schilling. Menschliches Zusammenleben, denke ich, braucht die Suche nach dem Echten und Wahren. Wie jedes Ideal wird dieser Zustand selbstverständlich nie erreicht werden. Das macht die Sehnsucht danach aber nicht falsch, wenn man auf diesem Wege den einen oder anderen Schritt in die richtige Richtung macht.

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