Mission in Indonesien
Über den Markt mit ­offenem Abwasserkanal in Gunung-Sitoli lief die Autorin als Kind und lobte Gott laut auf Niassisch. Oben links: das Missionars­haus. Unten, von links: Gabriele, Ruth, Joachim, Jürgen und Christiane Kosack, eine Missionars­familie in den 1960ern
Archiv- und Museumsstiftung / Jürgen Kosack
Mein Vater, der Missionar
Die Drehbuchautorin Gabriele Kosack erinnert sich an ihre Kindheit auf Nias, einer abgelegenen indonesischen Insel
Foto: Privat
23.07.2016

„Misuno Lowalangi – lobt Gott!“,  schmetterte ich fröhlich, wenn ich als Zweijährige an der Hand meines Vaters über den Markt in Gunung-Sitoli auf der indonesischen Insel Nias gelaufen bin, so erzählten es meine Eltern. Ausdruck meiner Lebensfreude – geprägt davon, Tochter eines Missionars und einer Lehrerin zu sein, auf einer kleinen tropischen Insel am Äquator westlich von Sumatra. Die Insel entsprach gewiss nicht den landläufigen Vorstellungen von Südseeparadiesen, selbst wenn mein Vater in einem Brief an seine Mutter von der bunten Korallenwelt schwärmte. Doch war es ein damals noch sehr seltenes Privi­leg, diese fast unerreichbaren Riffe bei Dienstfahrten zu den umliegenden Inseln zu erkunden.

Meine Eltern, Ruth und Jürgen Kosack, arbeiteten von 1959 bis 1968 im Auftrag der Rheinischen Mission (RM, später Vereinte Evangelische Mission, VEM) auf Nias. Ihre drei Kinder – ich bin die Älteste – wurden dort geboren. Als meine Eltern einige Monate vor meiner Geburt ankamen, herrschte in Indonesien Bürgerkrieg. Nur wenige Jahre später erlebten sie die grauenvollen Massaker im Zuge des Machtwechsels von Sukarno zu Suharto mit.

Aus gnädigem Abstand immerhin: Nias liegt so weit ab vom Schuss und war für die Mächtigen auf Java und Sumatra so uninteressant, dass meinem Vater und seinen Kollegen dort das Schicksal vieler anderer Missionare erspart blieb. Sie wurden nicht interniert, ihre Familien nicht gezwungen, in der Nähe der Lager unter oft elenden Umständen auszuharren. Dennoch war es insgesamt eine harte Zeit, mit Gewalt, Konflikten, gravierenden Engpässen bei der täglichen Versorgung. Meine Eltern waren gewarnt worden, hatten indes abgewunken: Wir haben doch vor nicht allzu­langer Zeit als Kinder, als Jugendliche den Krieg überstanden.

Mit Milchpulver, gegen Mücken, Schlangen und Hitze

Wir waren sehr weit weg von daheim. Kaum Infrastruktur, keine Elektrizität; Wasser aus der Zisterne, das in anhaltenden Dürreperioden knapp wurde. Das Postschiff mit den wichtigsten Alltagsdingen, Grundnahrungsmitteln und – stets sehnsüchtig erwarteten – Briefen und Carepaketen von den Großmüttern und den Tanten daheim kam alle ein bis zwei Monate.

Meine Mutter hat uns mit Milchpulver hochgepäppelt; kämpfte fortwährend gegen die Mücken wegen der Malariagefahr, gegen Giftschlangen, gegen die Hitze, hohe Luftfeuchtigkeit, ungewohnte Bakterien und Krankheiten. Weit weg war sie von ihrer Mutter, ihrer Schwester, den Freundinnen – all denen, an die eine junge Mutter sich sonst wendet.

Unterstützung bekam sie, sehr fürsorglich, von den ältlichen, unverheirateten Missionsschwes­tern sowie aus Fünfzigerjahrebüchern mit Titeln wie „Mutter und Kind“ oder „Die gute Hausfrau“, die ich mangels kindgerechter Lektüre schon als Sechsjährige verschlang, zusammen mit dem Katechismus, chinesischen Märchen, griechischen Götter- und Heldensagen, theologischen Werken aus dem Bücherschrank meines Vaters – oft, ohne zu verstehen, was ich da las, Hauptsache, ich las.

Die anderen Kinder nannten mich Lügnerin

Wegen der spärlichen Kommunikationsmöglichkeiten erfuhr meine Mutter vom Tod ihres Vaters verzögert per Telegramm. Mal eben zurückzufliegen zur Beerdigung war undenkbar. Ausgereist waren meine Eltern noch mit dem Schiff, verbrachten Monate auf See; der erste Flug, zum Heimaturlaub 1964, zog sich – mit Stationen in Medan, Singa­pur, Delhi, Karachi, Abu Dhabi, Kairo, Athen – über mehrere Tage.

In einer Zeit lange vor Internet und Fernreisen war Nias noch weiter weg. Das machte die endgültige Rückkehr nach Deutschland kompliziert: Ich war neun Jahre alt und noch nie in die Schule gegangen; meine Mutter hatte mich, wie die anderen Missionarsfrauen ihre Kinder, selbst unterrichtet. Es fiel mir nicht leicht, mich in eine Gruppe einzufügen, die Regeln zu durchschauen, die andere im Kindergarten lernen – eine Schwierigkeit, deren Spuren sich bis in mein Erwachsenenleben ziehen.

Meine Lehrer meinten es gut, ermutigten mich, von Nias zu erzählen, Gegenstände mit in die Schule zu bringen, die illustrieren sollten, aus welch einer exotischen Welt ich kam. Für meine Vorträge kleidete ich mich in Landestracht – die anderen Kinder nannten mich Angeberin, Lügnerin... Woher hätten sie es auch besser wissen sollen? Ich verstummte. Und tauchte erst während der Pubertät wieder auf und in die Jugendlichenwelt der siebziger Jahre ein. So wie ich schon als Vierjährige verstummt war – auf unserer ersten Reise nach Deutschland, dahin, wo „die Bäume alle so kahl waren“. 

Ich wuchs zweisprachig auf, Niassisch war mir fast geläufiger als Deutsch – das sprachen ja „nur“ meine Eltern und die wenigen anderen von der Rheinischen Mission nach Nias Entsandten. Die erste Station jener Reise in den Heimaturlaub 1964 war Pematang Siantar auf Sumatra. Dort lebten und arbeiteten etliche Missionsleute bei den Batak. Diese sahen aus wie Niasser, doch sie verstanden mich nicht, was mich schwer irritiert, ja verängstigt haben muss.

Mädchen, die für den Missionar arbeiteten, erzielten einen hohen Brautpreis

Ich war es doch gewohnt, mit allen zu plaudern, die bei meinen Eltern auftauchten: den Pandita (Pfarrern) mit den gewichtigen Mienen, die mit meinem Vater in seinem Arbeitszimmer tagten; den Bittstellern, die bei ihm vorsprachen; den Handwerkern, die er fortwährend für Projekte beschäftigte; den Frauen und Kindern, die in Scharen bei meiner Mutter auf der Terali, der umlaufenden Terrasse unseres uralten, von holländischen Farmern während der Kolonialzeit erbauten Hauses, hockten und löffelweise Zucker in den Tee gaben, weil Zucker ein Zeichen für Reichtum war. Die Missionare waren ja reich. In den Augen der Niasser auf jeden Fall. 

Deswegen war eine Anstellung als Hausmädchen oder Köchin bei meinen Eltern auch so begehrt: Das Mädchen erzielte später einen höheren Brautpreis. Für die Missionare zu arbeiten, hinter ihre Kulissen zu schauen, das bisschen Berührung mit einer märchenhaft fremden Welt hatte sie quasi geadelt.

Die Rolle der Missionare hatte sich im Laufe der Nias-Kirchengeschichte seit dem Gründungsjahr 1865 verändert: Zunächst repräsentierten die Missionare die Kolonial­mächte; später verschob sich das Image in Richtung des reichen Onkels aus Amerika.

„He Tua Jesu – Herr, bleibe bei uns“, der Kanon stand auf seiner Todesanzeige

Mein Vater musste nicht mehr im ursprünglichen Sinne missionieren. Die Leute waren lange zum Christentum bekehrt, hatten ihre animistischen Vorstellungen elegant integriert, sahen das ziemlich pragmatisch. Warum Nias christlich und nicht muslimisch ist, im größten muslimischen Land der Erde? Vertreter beider Religionen gelangten Mitte des 19. Jahrhunderts dort hin. Doch viel mehr als theologische Inhalte interessierte die Niasser die Frage, welche der fremden Religionen ihnen weiter den Genuss von Schweinefleisch erlauben würde. Das spielt in Ernährung, Bräuchen, Riten eine zentrale Rolle. Daher wählten sie das Christentum.

Mein Vater war also eher als Berater, als Erbauer von Schulen, Krankenhäusern, Brücken auf Nias. Was ihm von seiner Persönlichkeit her gerade recht kam. Natürlich predigte er, war Seel­sorger. Natürlich übersetzten er und meine Mutter viele Kirchenlieder ins Niassische: „He Tua Jesu / Herr, bleibe bei uns“ – der Abendkanon ist einer unserer Familienschlager, stand auf seiner Todesanzeige. Dennoch hat ihn wohl fast mehr das Abenteuer nach Nias gelockt als der theo­logische Auftrag.

Und es gab politische Beweggründe. Als Student engagierte er sich für Gustav Heinemanns Gesamtdeutsche Volkspartei, rebellierte gegen den Mief der Adenauerära. Vielleicht wollte er einfach bloß weg aus dem Land, in dem die Vätergeneration nach den Verbrechen der Nationalsozialisten schlicht weitermachte; wollte zeigen, dass Deutschland noch ein anderes Gesicht hatte als das, was sein ­Vater als Kriegs­richter in Russland gezeigt hatte. Sein Bruder wanderte übrigens nach Amerika aus, seine Schwester heiratete ­einen RM-Missionar und lebte zeitweise in Namibia.

Alle Ausländer sprachen Niassisch

Auf einem uralten japanischen Motorrad oder zu Fuß eroberte sich mein Vater das schwer zugängliche Inselinnere, während meine Mutter daheim die Stellung hielt und am häufigen Alleinsein nicht verzagte, sondern sich ihre eigenen Aufgabenbereiche eroberte; er besuchte selbst die entlegensten Dörfer, um mit den Oberen und Pandita zu sprechen. Er hatte keine Berührungsängste, lebt mit den Einheimischen so wie sie. Und ich konnte vergnügt „Misuno Lowalangi!“ krähen, unbefangen mit jedem drauflosreden. Hätte mein Vater reserviert oder gar missbilligend drein­geschaut, hätte ich mich gewiss nicht getraut. Selbst die abgerissensten Passanten, die mein weißblondes Haar anfassen wollten, ließ er gewähren. Seine Freundlichkeit war mir Vorbild.

Die Autorin

###drp|HO8YalQRCZgzQxW9rWnpbZTv00150660|i-43||###Gabriele Kosack, 1959 in Indonesien geboren, erlebte das Schreiben als bewegende Zeitreise, bei der sie die ganze Familie neu kennenlernte.

Mein Vater verwaltete offiziell die ­Missionskasse. Eine Aufgabe, die er gewissenhaft und kritisch erledigte. Seine Briefe nach Deutschland spiegeln die schwierige Aufgabe wider, Repräsentant der Geldgeber zu sein, die Summen gerecht zu verteilen, gleichzeitig dort zu helfen, wo er es für richtig erachtete. Er musste Begehrlichkeiten bremsen, musste zwischen den niassischen Gemeinden lavieren, die eifersüchtig darauf achteten, dass niemand bevorzugt wurde. Zugleich versuchte er der RM-Leitung in Wuppertal zu vermitteln, dass die von dort oktroyierten Vorstellungen und administrativen Vorschriften der niassischen Realität oft so gar nicht entsprachen. Sogar ich als Kind konnte das Konfliktpotenzial zwischen den Verantwortlichen in Deutschland und den Pragmatikern vor Ort spüren, als die Honoratioren aus Wuppertal zum 100-jährigen Jubiläum kamen.

All dieses Vermitteln, Lavieren, Manövrieren fand im Grenzland nicht nur der Kulturen, sondern auch der Sprachen statt. Meine Eltern, mein Vater zumal, mussten sowohl das offizielle Bahasa Indonesia als auch Li Niha – Niassisch – beherrschen. Als wir auf Nias lebten, sprachen alle Ausländer Niassisch, denn es waren ja nur solche da, die dort arbeiteten. Und die ­Niasser waren völlig verblüfft, als ab Mitte der sechziger Jahre die ersten Globetrotter auftauchten: Weiße, die unsere Sprache nicht verstehen . . .

„Es war so fremd, ich hatte keine Chance für Heimweh“, sagte die Mutter

Heute, da bescheidener Tourismus auf Nias existiert, aber kaum mehr Ausländer dort leben und arbeiten, ist es genau umgekehrt: Heute verblüfft man die Niasser, wenn man ihre Sprache beherrscht, und sei es noch so rudimentär. Die Erfahrung machte ich, als ich mich als Erwachsene für ein paar Monate mit dem alten Grammatikbuch und den Vokabellisten meiner Eltern nach Nias zurückzog, um herauszufinden, ob und wie schnell ich die Sprache wieder lernen würde.

Mein Experiment war ein voller Erfolg: Schon nach ein, zwei Wochen redete ich in dieser mir zu dem Zeitpunkt fremden Sprache munter drauflos; nach gut einem Monat konnte ich mich über alles verständigen, was ich wollte. Zur Belustigung der Niasser machte ich grammatikalische Fehler, sprach jedoch vollkommen akzentfrei. „Ono niha“, lautete der begeisterte Kommentar, wenn ich den Mund aufmachte. Ono niha – Kind des Menschen, so nennen die Niasser sich selbst. Und lachten verblüfft, weil eine Weiße ihre Sprache sprach. Waren sie doch inzwischen die australischen Surfer gewohnt, die ihren jungen Männern englische Zoten und Flüche beibrachten und keinerlei Interesse an niassischem Anstandsgefühl und ihrer Kultur zeigten.

Ich wiederum staunte bei der Lektüre der Grammatik, der Wortschatzübungen, die die deutschen Missionare im 19. Jahrhundert zusammengestellt hatten: „Der Niasser ist ja gerne faul“, lautete beispielsweise einer der zu übersetzenden Sätze. Wobei mich der Satz eher amüsiert als geschockt hat – aus der Erfahrung heraus, dass in der Fremde Widersprüchliches, ja vermeintlich Abstoßendes nebeneinander Bestand haben darf, haben muss. Um die Fremde auszuhalten.

„Es war so fremd, dass ich gar keine Chance hatte, Heimweh zu haben“, sagt meine Mutter über die Zeit damals. Natürlich vermisste sie – neben ihrer Familie, ihren Freunden – ganz banale Dinge wie ihren geliebten Käse, ihre geliebte Musik. Das mitgebrachte Radio für die Deutsche Welle oder BBC, der Plattenspieler verschimmelten, die alten Schellackplatten verbogen sich in der Hitze. Andererseits bedauerte sie ihre Schwägerin, die Missionarsfrau in Namibia, auch ein wenig, weil diese durch die starke Präsenz deutscher Kultur vor Ort ständig an das erinnert wurde, was man von Zuhause her vermisste. Und sich in ihren Briefen oft unglücklich äußerte.

Die Autorin, anderthalbjährig, mit ihren Eltern

Meine Mutter wollte nicht ohne meinen Vater zurück

Meine Mutter, selbst Pfarrerstochter, stürzte sich gleich zu Beginn ihrer jungen Ehe mit Feuereifer und Begeisterung in ihre Aufgaben. Sie war Ehefrau, Mutter, Missionarsgattin, Übersetzerin von Liedern, Chorleiterin, Organisatorin von Blockflötenunterricht und Jugendarbeit, später Lehrerin ihrer Kinder. Mich, ihre Älteste, nahm sie überallhin mit, wo es ging. Bis heute haben wir beide Tränen in den Augen, wenn wir diesen spezifischen Gesangsstil hören – leicht schrill, leicht mechanisch und doch so voller Inbrunst.

Meine Mutter ist meinem Vater wie selbstverständlich in die Fremde gefolgt. Doch sie war es auch, die am Ende ­energisch den Schlussstrich zog, um ihrer Kinder willen. Ich musste dringend auf eine weiterführende Schule. Ein englischsprachiges Internat in Singapur oder Jakarta hätten sie sich nicht leisten können. Mich allein nach Deutschland zurückzuschicken, kam für meine Eltern nicht in Frage. Vermutlich hätte ich bei einer meiner Großmütter leben können. Zumindest wäre mir das Schicksal von Generationen Missionarskindern erspart geblieben, eltern­los im Missionsinternat in Deutschland aufzuwachsen. Es müssen ziemlich grimmige, freudlose Orte gewesen sein.

Meine Mutter, Jahrgang 1930, war emanzipiert genug, um zu fordern: Ich gehe nicht als alleinerziehende Mutter mit drei Kindern zurück nach Deutschland, während mein Mann einen zweiten Zehnjahresvertrag mit der Missionsgesellschaft unterschreibt. Was mein Vater gern getan hätte. Er wurde nicht nur als Autoritätsperson, sondern auch als Mensch respektiert und anerkannt. Außerdem war man ja früher Missionar auf Lebenszeit. Das hat meine Mutter torpediert; und er war emanzipiert und fortschrittlich genug, sich darauf einzulassen, es gegenüber der RM-Leitung zu vertreten und sich in Deutschland als Pfarrer um die vierzig beruflich neu zu orientieren.

Wie wäre es eine Generation später gewesen?

Andererseits war meine Mutter trotz aller vernünftigen wie auch emotionalen Gründe für eine gemeinsame Rückkehr der Familie durchaus hin- und hergerissen. „Wir werden hier doch noch so gebraucht“, schrieb sie einige Monate vor der endgültigen Heimreise an ihre Mutter. Der Abschied ist meinen Eltern, ist auch mir ungeheuer schwergefallen, obwohl die letzten beiden Jahre auf Nias entbehrungsreich und schwer gewesen sein ­müssen.

Wegen der instabilen, ja gefährlichen politischen Situation fehlte es oft am Aller­nötigsten. Gleichzeitig konnten meine Eltern das Leben in der exotischen Ferne durchaus genießen. „Schaut mal, wie schön, der Mond!“, sagte meine Mutter in einer tropisch lauen Nacht, als man in geselliger Runde mit Kollegen beisammensaß, bekam allerdings prompt zu hören: „Für so was haben wir keine Zeit, wir sind zum Arbeiten hier.“ Ein Satz, der direkt aus dem Mund eines Missionarvorgängers aus dem 19. Jahrhundert hätte stammen können.

Manchmal frage ich mich, wie es gewesen wäre, eine Generation später als Missionarskind aufzuwachsen. Während jener Reise Anfang der 90er Jahre, als ich mir Niassisch selbst wieder beibrachte, hatte ich das Glück, Herbert Schekatz, den damaligen VEM-Südostasien­referenten und engen Studien­freund meines Vaters, auf eine Inspektions­reise ins Hochland von Irian Jaya zu „Steinzeitmenschen“ begleiten zu dürften, wo ich die Tomettens kennenlernte, ein Missionarsehepaar in meinem Alter mit Kindern in ähnlicher Konstellation wie meine Geschwister und ich seinerzeit.

Die wichtigste Zeit ihres Lebens

Fasziniert bekam ich mit, wie Barbara Tometten ihre Kinder barfuß laufen und mit den einheimischen Kindern spielen ließ – beides durfte ich nie! Die Berührungsängste waren bei ihnen geringer. Und die Bereitschaft, sich auf das Fremde einzulassen, größer. Schon meine Eltern hatten ja die Grenzen aufgeweicht, nicht den steifen, autoritären Abstand früherer Missionare gewahrt. Doch die Tomettens gingen noch weiter, in der Kindererziehung und im interkulturellen Austausch. Friedrich Tometten übersetzte nicht nur Teile der Bibel in die Stammessprache. Er ließ sich Mythen und Legenden erzählen, übertrug sie ins Deutsche, sah darin eine ganz wichtige Aufgabe.

Aber dieses Was-wäre-wenn-Gefühl verblasst vor der Dankbarkeit für eine Kindheit in einer Heimat, die es nicht mehr gibt – und die mich innerlich bis heute begleitet. Meinen Eltern ist es wohl ähnlich ergangen; sie sprachen stets davon, die Zeit auf Nias sei die wichtigste ihres Lebens gewesen, beruflich wie privat. 

1999, zum siebzigsten Geburtstag meines Vaters, unternahmen wir als Familie eine gemeinsame Reise dorthin. Bei der nächtlichen Abfahrt von Nias standen er und ich so lange nebeneinander an der Reling, bis die Lichter Gunung-Sitolis in der Ferne verschwammen und von den langen Leuchtketten, welche die Boote der Schleppnetzfischer in der Dunkelheit markierten, nicht mehr zu unterscheiden waren. Ihm war klar, er würde nicht mehr dorthin zurückkehren. Er wollte es auch nicht mehr. Er hatte noch einmal auf ­Niassisch gepredigt und wusste: Es war Zeit, auch in seiner zweiten Heimat endgültig in den Ruhestand zu gehen. 

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