Ruanda: Das „Land der 1000 Hügel“
Ruanda: Das „Land der 1000 Hügel“ galt lange als unzugänglich – und die Deutschen hatten wundersame Vorstellungen über Wilde, Riesen und Zwerge
Anne Ackermann
Das Land der 1000 Rätsel
Ruanda ist das afrikanische Land, das am erfolgreichsten missioniert wurde: 90 Prozent der Bevölkerung sind Christen. Wie konnte gerade hier der schlimmste Völkermord der jüngeren Geschichte geschehen?
29.05.2016

Diese Geschichte über Mission beginnt im Ort Kirinda, im Westen von Ruanda. Sie muss hier beginnen, denn in Kirinda gründeten am 27. August 1907 deutsche Bethel-Missionare ihre erste Station.

Diese Geschichte wird auch in Kirinda enden. Sie wird enden mit dem evangelischen Pfarrer Aaron Rugemera, der am 14. April 1994 in Kirinda alles verloren hat. Sieben Kinder. ­Seine Frau. Und zeitweilig auch seinen Glauben an Gott. Wenn man Aaron, einen charmanten, akzentfrei Französisch sprechenden Theologen heute auf das Wort „Mission“ anspricht, dann verfins­tert sich seine Miene. „Échec!“, zischt er, „échec total!“ Gescheitert. Komplett gescheitert sei die Mission in Ruanda, sagt er. Und dennoch steht Pfarrer Aaron auch heute im Jahr 2016 sonntags auf der Kanzel und predigt: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Mission gescheitert? Was die nackten Zahlen angeht, war die Mission in Ruanda der größte Erfolg auf dem afrikanischen Kontinent. Kaum ein anderes Land hat so viele Einwohner, die sich zum christlichen Glauben bekennen, an die 90 Prozent, ungefähr zur Hälfte Protestanten und Katholiken. Ausgerechnet in diesem christlichen Land tobte 1994 ein grauenvoller Völkermord. Über 800 000 Tote in 14 Wochen, zehn Prozent der Bevölkerung wurden brutal dahingeschlachtet. Gotteshäuser, in denen angst­erfüllte Menschen Zuflucht gesucht hatten, wurden zu tödlichen Fallen. Viele evangelische Pastoren wurden zu Opfern. Aber einige wurden auch zu Tätern.

Pfarrer Aaron hat einerseits recht, die Mission in Ruanda ist gescheitert. Weil viele Einwohner gar keine wirklichen Christen geworden sind. Weil sich die Missionare, in unterschiedlichem Maße, gemeingemacht haben mit den Kolonialherren – und ­diese die Grundlagen gelegt haben für den Hass zwischen den Be­völkerungsgruppen Tutsi und Hutu. Und weil die evangelische und die katholische Kirche in Ruanda 1994 total versagten, als man den Genozid vielleicht noch hätte verhindern können. Dreimal gescheitert. Andererseits: Es ist ein Segen, dass es heute die evangelische Kirche in Ruanda gibt. Ein Ort der Versöhnung, eine Kirche, in der eine neue Generation engagierter Pfarrer vorbildliche Arbeit leistet. Mit einem Mann an der Spitze, der über die Friedensethik von Dietrich Bonhoeffer promoviert hat. Pascal Bataringaya, Kirchenpräsident seit 2014, schreibt in seiner Dissertation: „Die Hauptaufgabe für die ruandische Kirche wird es sein, Konflikte kreativ zu lösen, für Harmonie in den menschlichen Beziehungen zu sorgen und Menschenleben zu schützen.“ (Zur Friedensarbeit in evangelischen Gemeinden vgl. den Bericht in chrismon plus 5/2016.)

Missionare wurden benutzt. Vom König. Und von der deutschen Politik

Kirinda, August 1907. Es ist heiß und stickig. Ernst Johanssen aus Bielefeld, der erste evangelische Missionar, notiert in seinem Tagebuch: „Die hohe Temperatur wollte nicht weichen, im Zelt war es unerträglich heiß, die Hoffnung, schnell wenigstens einen Schuppen mit festem Dach bauen zu können, erfüllte sich nicht so bald, es fehlte an Bauholz.“ Sein Mitstreiter Gerhardt Ruccius erkrankt an hohem Fieber, es gibt keinen Markt mit frischem Obst in der Nähe, keinen Schatten.

Es hätte wirklich angenehmere Orte gegeben, um die erste ­Station der Bethel-Missionare aufzubauen, aber Musinga, der König von Ruanda, hat den Protestanten ausgerechnet diese unwirtliche Ecke zugewiesen. „Vielleicht wird es in späterer Zeit unbegreiflich erscheinen“, grummelt Missionar Johanssen, „dass eine deutsche Gesellschaft in einem deutschen Schutzgebiet nicht nach eigenen Wünschen die Platzwahl treffen konnte.“

Hier irrt der Missionar. In späteren Zeiten begreift man: ­König Musinga war ein schlauer Kerl. Er wies den beiden Bethel-Missionaren die lausigen Dörfer Zinga und Kirinda zu, weil diese nur fünf Stunden von der katholischen Station Nsasa ­entfernt lagen. Und dem König missfiel schon länger der Einfluss der katholischen „Weißen Väter“ auf seine Wider­sacher. Der König vertraute darauf, dass sich die Missionsge­sell­schaften gegenseitig auf die Füße treten und insgesamt ­an Einfluss ­verlieren. Im Klartext: Er spielte die Missionare gegeneinander aus.

Die Fotografin

###drp|r1LV_xVZ5YJPMVxfbZ5AyWyw00142197|i-43|Foto: Privat|###Anne Ackermann, 1980 geboren, lebt mit Mann und Kind im Nachbarland Uganda. Sie war beeindruckt von der ruhigen Freundlichkeit der Menschen in Ruanda, trotz der schwierigen Vergangenheit. 

Was war dieser König für ein Mensch, was war Ruanda für ein Land, als die Deutschen kamen? Auf jeden Fall ein Land, das die Sehnsüchte der Deutschen enorm beflügelte. Das „Land der 1000 Hügel“ galt wegen seiner Topografie lange als unzugänglich. Und je herber im kalten Deutschland die Folgen der Industrialisierung zu spüren waren, desto exotischer stellte man sich gerade diese unerschlossenen Länder in Afrika vor. Um die Jahrhundertwende blühten die Mythen über Ruanda. Man fantasierte von Riesen, die durch die Luft schnellen, und von Zwergen, die sich auf Bäumen verstecken. Tatsache ist: Als die ersten Forschungsreisenden nach Ruanda kamen, wegen der vielen Berge eben relativ spät, fanden sie weder Zwerge noch Riesen, sondern ein perfekt organisiertes Land mit einem elaborierten Straßennetz. Nach den Forschern kamen die Kolonialbeamten. Sie entschieden sich für das System der „Residentur“, eine relativ softe Art von Kolonialherrschaft.

Die Politiker mussten dafür die Sprache und die Eigenarten des ruandischen Volkes kennen – und dafür brauchten sie die be­lesenen und bildungsbeflissenen evangelischen Missionare. Die meinten es großenteils gut, kamen voller Idealismus. Aber sie ließen sich von zwei Seiten instrumentalisieren: Von den ruandischen Königen, die nie wirklich Christen wurden, aber die Missionare geschickt für sich einspannten. Und von der ­deutschen Politik.

Die ruandische Elite – immer nur Papierchristen

Pfarrer Aaron sieht es heute, im Jahr 2016, ganz nüchtern: „Die Elite in Ruanda ist nie wirklich missioniert worden.“ Klar, der eine oder andere Staatspräsident ließ sich taufen, hatte eine Hauskapelle oder ließ sich an Weihnachten im Gottesdienst blicken. „Aber in Wahrheit“, sagt Pfarrer Aaron, „sind sie immer ihrer Natur­religion treu geblieben.“ Das bestätigt auch Irmgard ­Schwaetzer, die als Außenpolitikerin das Land vor 1994 häufig besuchte: „Da waren die Ahnen und Voodoos immer wichtiger als der liebe Gott.“

Diese Erfahrung machte der erste Missionar Ernst Johanssen von Anfang an. König Musinga war zwar höchst interessiert an den Schreibkünsten der Protestanten und vor allem an deren technischem Know-how. Aber taufen ließ er sich nicht. Es hat schon etwas Rührendes, wie der Westfale Johanssen sich abmüht, den afrikanischen König zu beeindrucken:  

„,Ich bitte‘ – diese deutsche Wendung hat sich Musinga be­sonders eingeprägt. Ja, um was bittet er nicht alles? Heute meinte er, ob ich nicht einen schwarzen Anzug für ihn in meinem Koffer oder wenigstens in Kirinda habe...Aus seinem Herzen kam auch die dringende Bitte: ,Helft mir, legt mir einen Wald hier an, zeigt mir auch, wie man Kaffee pflanzt.‘ ...Ich freute mich, dass wir unter unseren Missionsarbeitern einen Diplomlandwirt haben, der imstande ist, diesen Wunsch des Königs zu erfüllen.“

Allein, es half nichts, der König war zwar beeindruckt vom protestantischen Arbeitsethos. Aber er wurde kein Protestant. Zwar bezeichnete sich Johanssen als „Hofprediger“ und versuchte, dem König die christliche Lehre beizubringen, aber er biss auf Granit. Wenn man heute als Touristin den Königspalast besucht, eine strohbedeckte Holzhütte in Nyanza, erzählt der einheimische Guide gerne von Saufgelagen, vielen Ehefrauen und Sex­gespielinnen des Königs. Von gottesfürchtigem Leben keine Spur.

Insgesamt ist der „Tauferfolg“ des Missionars Johanssen ohnehin sehr bescheiden: Im Jahr 1914, kurz bevor der Erste Weltkrieg ausbricht, gibt es nur 100 evangelische Christen.

Die aufrechten Bielefelder – Rädchen im Getriebe des Kolonialsystems

Tragisch – wie sich die ersten Missionare am afrikanischen König abarbeiten. Noch viel tragischer, wie naiv sie sich für die Ziele der deutschen Politik einspannen lassen. Diese Ziele kann man in schnörkelloser Klarheit hier nachlesen: „Wir haben weder [die] Kolonien erworben, um kaufmännische Geschäfte dort zu ­machen, . . . [noch] um die heidnischen Schwarzen um der Menschlichkeit willen zu christianisieren, sondern weil uns die Kolonien ein Stück überseeisches Deutschland werden sollen, Pflanzstätte des deutschen Wesens, Kraftquelle für die Heimat, Stützpunkte deutscher Macht.“ So steht es im Standardwerk „Das Deutsche Kolonialreich“, verfasst vom Verlegerspross Hans Meyer. Der hatte offenbar genug Zeit, nicht nur um seinem Hobby Bergsteigen nachzugehen – ­er ­bestieg als Erster den Kilimandscharo –, sondern auch um deutsche Expeditionen durch Ruanda zu führen.

„Nicht um der Menschlichkeit willen christianisieren“, klare Worte. Der Politik ging es um Macht, nicht um Menschlichkeit. Der Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl fasst es heute so zusammen: „Die Bethel-Mission in Ruanda war angetreten, eine neue Gesellschaft zu schaffen, die unter dem Dach des Christentums die besten Elemente der indigenen Kultur und der okzidentalen Zivilisation vereinen sollte. Zugleich war sie aber ein, wenn auch sehr kleines Rädchen im Getriebe eines kolonialen Systems, das, blind für die Folgen seines Handelns, Prozesse in Gang setzte, die schließlich aus dem Ruder liefen und zu Bürgerkrieg und Völkermord eskalierten.“

Wer bin ich? Hutu oder Tutsi – das sollen Kinder heute gar nicht mehr sagen. Auch Mädchen und Jungs sollen gleich sein, drum die Frisur

Ein kleines Rädchen – wirklich nicht schmeichelhaft für die aufrechten Bielefelder Männer, die Großes vorhatten. Aber am Ende in den Ersten Weltkrieg hineingezogen wurden. Das zeigt ­die Geschichte um das Motorboot „Bodelschwingh“: Friedrich von Bodelschwingh, der charismatische Gründer von Bethel, stirbt 1910 in Bielefeld und hinterlässt als letzten Wunsch einen Aufruf zur deutschen „Kongo-Liga“. Ungefähr zur selben Zeit kommt die Idee auf, in Ruanda nicht nur an Land präsent zu sein, sondern auf der 20 000-Seelen-Insel Ijwi im Kivusee ein Kreuz zu errichten. Dieser See liegt zwischen Ruanda und dem Kongo, seinerzeit ist ungeklärt, zu welchem Land die Insel Ijwi gehört. Natürlich wünscht sich auch der deutsche Resident, dass die Insel missioniert wird.

Daheim in Bielefeld wird eine der ersten groß ­angelegten Fund­raising-Aktionen in der deutschen Spendengeschichte gestartet: Die Deutschen trommeln – mit kitschigen Gedichten – für ein Missionsschiff, mit dem die frommen Männer in Afrika trockenen Fußes auf die Insel reisen können. Es kommen 18 114,91 Mark zusammen, das Schiff wird mit ungeheurem Aufwand in lauter Einzelteilen aus Stahl von Westfalen nach Ruanda gebracht. Zwei Diakone bauen es am Ufer des Kivusees zusammen, doch es wird keine einzige Fahrt für die Mission tun. Der Erste Weltkrieg bricht aus, das Schiff wird von der deutschen Schutzmacht requiriert – am Ende ist die „Bodelschwingh“ schlicht und ergreifend ein schnödes Kriegsschiff. Und wird am 14. Mai 1916 im Kivusee versenkt.

Nicht als Hutu und Tutsi geboren. Sondern dazu gemacht!

Die evangelischen Missionare haben sich schuldig gemacht. Als „Rädchen im Getriebe“ des Kolonialsystems. Und das Schlimmste daran ist: Alle zusammen – Forschungsreisende, Politiker und Missionare – sind einem fatalen ethnologischen Irrtum aufgesessen, der zu zwei Genoziden führte.

Ethnologen nennen es den „Mythos Ruanda“: Der Irrtum, Abatutsi, Abahutu und Abatwa seien getrennte Rassen. Es stimmte zwar: Tutsi nannten sich die Rinderhirten, Hutu die Ackerbauern und Twa die Töpfer. Aber man sah nicht – und man wollte nicht sehen –, dass alle drei dieselbe Sprache sprachen. Dass ein Hutu durchaus ein Tutsi werden konnte, wenn er seinen Acker verkaufte und ein Rind anschaffte. Dass es Misch­ehen gab zwischen den Gruppen. Kurzum: Die Kolonisatoren schufen einen ethnischen Konflikt, den es sonst womöglich nie gegeben hätte.

Und die Missionare trifft daran eine besondere Schuld. Da sich die Oberschicht der Christianisierung widersetzte, wurden vor allem die armen Hutu getauft. Die Politik hingegen setzte auf eine Tutsi-Oberschicht. Erst die deutschen, später die belgischen Kolonialherren wechselten in den Jahrzehnten mehrfach ihre Strategien – mal wurde in Konfessionsschulen eine Hutu-Elite herangebildet, mal eine Tutsi-Elite. Immer stärker wurden wirtschaftliche und soziale Gegensätze in ethnischen Kategorien gedacht, Historiker sagen „ethnisch überformt“ – bis es 1959 zum ersten Genozid kam und 1994 zum zweiten.

Genozid von 1994: Die Kirche hat ihre Mission nicht erfüllt

Neujahrstag 1994. Ein aufrechtes Häuflein engagierter Christen, vor allem Studenten, ruft auf zum „Friedensmarsch“ in Kigali. Krieg liegt in der Luft, Menschen haben sich längst bewaffnet, das Radio peitscht mit Propagandasendungen zum Hass auf die Volksgruppe der Tutsi. Die Studenten haben ein Manifest geschrieben: „Nein zur Zerstörung unseres Landes, nein zu Lüge und Manipulation. Wir verpflichten uns, unsere Verantwortung auf uns zu nehmen.“

Die Studenten rufen die Kirchenleitungen – die evangelische und die katholische – auf, das Manifest zu unterschreiben und für den Frieden auf die Straße zu gehen. Vergeblich.

Die Autorin

###drp|dJ_WBKVoFxrPX1hKANwYTyS800142914|i-43|Foto: Lena Uphoff|###Ursula Ott, 1963 geboren, findet ihre eigene Patchworkfamilie manchmal anstrengend. Als Witwer Aaron von seiner neuen Stieffamilie in Kigali erzählte, wurde sie ganz still.

Einer der Verfasser dieses Manifestes, Pascal Bataringaya, ist zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt. Er malt Transparente: „Unsere Kinder brauchen Frieden.“ Er ist entsetzt, fassungslos, dass seine Kirche sich dem Friedensmarsch nicht anschließt. „Weil die Kirchen­leitung uns im Stich gelassen hat, war die Demonstration erfolglos.“

Nach dem Genozid studiert er Theologie, befasst sich mit der Friedensethik von Dietrich Bonhoeffer, über die er schließlich promoviert. In seiner Dissertation arbeitet er die Schuldver­strickung seiner eigenen Kirche auf. Immerhin – im Jahr 1996 legt die ­Presbyterianische Kirche ein Schuldbekenntnis ab: „Die Synode bekennt, dass die Kirche sich vor der Welt schämt, weil sie nichts gesagt und getan hat, in einer Zeit, in der es sehr notwendig war, etwas zu sagen und zu tun.“ Und ein paar Zeilen weiter heißt es: „Weil die Kirche ihre Mission nicht erfüllt hat, bittet die Kirche um Vergebung.“ So steht es da wörtlich: Mission nicht erfüllt.

2016: Die neue Mission

Februar 2016, Karisimbi, ein kleines Dorf am Fuße des gleich­namigen Vulkans, in dessen Schatten es kauert wie ein Vogelnest. Ein schöner, grüner Flecken Erde, fast 2000 Meter hoch, die Nächte sind so kalt, dass hier die Chrysantheme wächst, aus der man ­Pyrethrum gewinnt, das Insektenschutzmittel. Viel Geld ver­dienen die Bewohner damit nicht, das Dorf ist nur über eine lange, staubige Holperpiste zu erreichen.

Pascal Bataringaya, der Friedensdemonstrant von einst, trägt längst edles blaues Tuch und Krawatte und gibt sich Mühe, sauberen Schuhes über staubige Pfade auf eine kleine Anhöhe zu klettern. Er ist inzwischen Kirchenpräsident und besucht eine neue Gemeinde im Aufbau. Denn natürlich wird in Ruanda heute wieder missioniert. Mit Erfolg. Von 2011 bis 2013 stieg die Anzahl der Gemeinden von 100 auf 160.

Es gibt jetzt 110 Pfarrer, davon ein Drittel Frauen, die meisten wollen in der Großstadt bleiben, wo die Kinder gute Schulen und Ärzte haben. Drum ist dieser Besuch wichtig, hier draußen auf dem Land.

Mission 2016: Kirchenpräsident Bataringaya besucht Karisimbi, eine Gemeinde im Aufbau. Der Evangelist Florian (links) hat sich für den Bau der Kirche eingesetzt

Aus einem Hauskreis, in dem Familien zusammen beten und ihre Probleme besprechen, hat sich in Karisimbi eine kleine Basisgemeinde gebildet, die vorerst von Florian, dem Dorflehrer, zusammengehalten wird. Der hat in Wochenendkursen eine einjährige Ausbildung zum „Evangelisten“ durchlaufen, einem Prediger, einer von 68 in Ruanda.

Der Kirchenpräsident kommt unangemeldet, und es gibt großes Hallo. „Heeeej!“ und „Yeee!“, die Gemeinde ist stolz: Seit der Chef das letzte Mal da war, hat sich viel getan. Mit ihren eigenen Händen haben sie ein Pfarrhaus gemauert und demnächst auch eine Kirche. Wenn die fertiggebaut ist, bekommen sie auch einen „richtigen“ Pfarrer.

Wie wirbt die evangelische Kirche heute um Mitglieder? ­Vor allem mit ihrer praktischen Arbeit, der Bonhoeffer-Schüler Bataringaya zitiert sein Vorbild: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Für andere – das heißt in Ruanda vor allem Versöhnungsarbeit. In den Kirchengemeinden, den Schulen und den Gefängnissen, wo immer noch Tausende von Mördern sitzen. „Die Heilung der Gesellschaft geht nur über die Heilung der Täter“, sagt der Theologe, und die Kirche genießt dafür großen Respekt. 

Kirche für andere heißt aber auch: Sozialarbeit, Sexualaufklärung, Aidsverhütung – Themen, bei denen die presbyterianische Kirche moderner und unverkrampfter auftritt als viele Pfingst­kirchen. Denn die florieren auch in Ruanda, wie überall in Afrika. „Aber Konkurrenz hält uns lebendig“, sagt der Präsident.

Kirinda und die Erinnerung

Kirinda, die alte Missionsstation von 1907, hat heute ungefähr 3000 Einwohner und ist Sitz eines Pastoralkollegs, an dem in den 90er Jahren Pfarrer Aaron Rugemera arbeitet. Als der Vater von sieben Kindern im April 1994 hört, dass in der drei Stunden entfernten Hauptstadt die ersten Morde passieren, beschließt er, mit der ­Familie zu flüchten. Die Rugemeras sind Tutsi, und sie suchen Zuflucht in der Dorfschule von Biguhu, die wegen der Oster­ferien leer steht. 50 Leute verstecken sich dort, als am 14. April eine Horde alkoholisierter, aufgepeitschter Hutu-Milizen die Tür einschlägt und alle, ausnahmslos alle bis auf Aaron, mit Holzbeil, Hacke und Machete erschlägt. Auch Aarons sieben ­Kinder, auch Aarons Ehefrau.

Warum ausgerechnet der Familienvater als Einziger überlebt hat? „Das habe ich meinen Gott auch gefragt. Warum?“ Aaron hat hinter der Tür gestanden, die aufgebrochen wurde. Er kann fliehen, er rettet sich barfuß über einen Fluss in den nächsten Ort, kann nirgends bleiben, weil alle Freunde Angst haben ihn zu verstecken. Er verbringt grauenvolle Wochen, versteckt in Bananenstauden und Erdlöchern – bis der Krieg vorbei ist. Er schlägt sich nach Kigali durch, wo von der Kirche nur noch die Grundmauern stehen. Wo man nicht weiß, welcher der evangelischen Brüder selber zum Mörder wurde: „Es war entsetzlich. Ich konnte keinem mehr trauen.“ Aaron stellt sich zunächst wieder auf die Kanzel, dann bricht er erschöpft zusammen.

Ein Jahr pflegen sie ihn in Europa, im Missionsinstitut in Genf. Dann kehrt er zurück, auf die Kanzel, nach Ruanda, er heiratet eine Soziologieprofessorin, die ihren Mann verloren hat, sie bringt drei Söhne mit in die Ehe. „Die Liebe dieser Frau“, sagt Aaron, „hat mich gerettet. Auch wenn uns Gott leider keine Kinder mehr geschenkt hat. Und ich frage ihn jeden Tag: warum?“

Aaron ist heute 66, und er stellt Gott viele Fragen. Warum hast du dieses Gemetzel nicht gestoppt? Warum lebe ich? Warum konnte ich meine Familie nicht beerdigen? Das ist für ihn das Schlimmste – die Mörder haben alle Leichen mit einem Liefer­wagen ans Flussufer gefahren und ins Wasser gekippt. Kein Friedhof, kein Grab. Jetzt baut die evangelische Kirche am Fluss­ufer ein Memorial. Damit die Trauer einen Ort hat.

Wie kann man das überleben? Sieben Kinder tot und die Frau? „Ich hätte mich umbringen können“, sagt Aaron, „ich hätte verrückt werden können oder Alkoholiker. Aber Gott hat mich gerettet.“

Ganz gescheitert ist sie nicht, diese Mission. 

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