Wohnlage Stochkolm Etagenbetten
hus24
Coliving in Stockholm
Weniger ich - mehr wir
Die eigene Wohnung, ein eigenes Zimmer? Muss nicht unbedingt sein. In Stockholm probieren 13 berufstätige Menschen aus, wie es ist, mit wenig Platz viel Lebensqualität zu gewinnen. Sechs von ihnen schlafen in einem Zimmer in Doppelstockbetten.
Tim Wegner
17.08.2023

Das Foto oben stammt nicht aus einer Jugendherberge, auch nicht aus einem schicken Hostel, es gehört zum Co-Living-Projekt „Hus24“ in Stockholm. 13 berufstätige Menschen wohnen auf 200 qm über fünf Stockwerke in einem schmalen, historischen Haus aus dem 18. Jahrundert mitten in der Altstadt. Ganz unten liegt das kleine separates Apartment mit Küche und Badezimmer, dann folgen darüber vier Zimmer für ein bis zwei Personen; drei Bäder, eine Sauna; eine große Wohnküche mit drei Kühlschränken und Esstisch; ein ca. 25 qm großer Wohnraum mit mehreren PC-Arbeitsplätzen, Sofalandschaft und Beamer-Leinwand. Und das oben abgebildete Schlafzimmer mit sechs Ikea-Doppelstockbetten.

In einem dieser Betten lebt seit über einem Jahr mein Sohn Jan-Niklas. Er ist 28 Jahre alt und arbeitet bei einer schwedischen Bank in Stockholm im Nachhaltigkeitsmanagement. Wenn er schlafen geht, zieht er den selbstgenähten dunklen Vorhang vor seinem Bett in der oberen Etage zu. Das und der kleine Teil eines Kleiderschranks für seine Sachen genügen ihm als private Fläche.

Letzte Woche habe ich ihn besucht und konnte mitfeiern: Eine Crayfish-Party, das traditionelle schwedische Krebse-Sommeressen. Es fand direkt vor dem Haus, in der schmalen Gasse in Gamla Stan, dem historischen Zentrum von Stockholm, statt. Gekommen waren alle Bewohner*innen, viele Ehemalige, ein paar Gäste wie ich und Menschen aus der Nachbarschaft. Das Event kann auf eine mehrjährige Tradition verweisen. Dazu gehört auch, dass die Gruppe jedes Jahr den König einlädt. Das Schloss liegt direkt nebenan. Doch bis jetzt ist er nicht gekommen. Schade. Dafür schoben sich an dem Abend immer mal wieder ein paar Touristen vorbei und schossen Fotos. Wir waren ein echtes Event!

Gemeinsam feiern, essen, singen in Gamla Stan, dem historischen Zentrum von Stockholm
Auf den Tischen standen mehr vegane Salate und Tartes als Crayfish (Flusskrebse), viel selbst gebackener Kuchen und, klar, Alkohol. Am schönsten waren die schwedischen Volkslieder, die wir zusammen anstimmten. Jedes Lied endete mit einem Schnaps: Skål.

Viel gute Laune und genügend Zeit für mich zum Nachfragen, was die Menschen im Hus24 zusammenhält.

Zum Beispiel Halley: Sie ist 30 Jahre alt und lebt seit vier Jahren im Haus. Halley wuchs in einer Öko-Kooperative in Kalifornien auf: „Wir Kinder spielten immer auf den Straßen und sind mit dem ganzen Dorf groß geworden.“ Für Halley ist das Hus ein Gegenkonzept zur herrschenden „me, me, me“ Einstellung der Jetzt-Zeit: „Unser Zusammenleben funktioniert, weil wir Rücksicht aufeinander nehmen.“ Es herrsche ein „Level of Respect“, wie sie, die schon in unterschiedlichsten Konstellationen gewohnt hat, bisher selten erfahren habe.

Ist der wenige persönliche Freiraum ein Grund? Ja, sagt Halley: „Wir müssen immer wieder austarieren, wo die Grenzen eines jeden Einzeln liegen.“ Fitnesstraining im Gemeinschaftsraum? Anstrengend, wenn andere gerade schlafen wollen. Und während der eine noch am PC arbeitet, wollen ein paar andere gemeinsam einen Film gucken.

Jan-Niklas im Wohn-Beamer-Arbeits-Fitnessraum....
Alle zwei Wochen trifft sich die Gruppe zu einem Gesprächsabend. Ende August geht es für ein Wochenende auf eine Schären-Insel in ein gemietetes Wochenendhaus: „Das schweißt uns zusammen“, weiß Halley, die sich bei aller Begeisterung über ihr heiß geliebtes „Home“ darüber ärgert, wenn die Küche mal wieder nicht so aufgeräumt ist wie eigentlich besprochen.  

Gerade hat Halley mit ihrem Freund Emil (Schwede und neu im Verbund) das freiwerdende Appartement unten im Haus bezogen. Dhruv, Tech-Unternehmer, wohnte dort 7 Jahre. Jetzt zieht er nach New York. Wechsel der Bewohnerschaft im Hus gehört dazu, doch während in den Anfangsjahren viele Menschen ein paar Monate blieben, sind es mittlerweile im Schnitt zwei Jahre. Halley, die längst genauso gut schwedisch wie englisch spricht, will noch viele Jahre im Hus24 leben.

Das Love-Nest im Untergeschoss

Sex? Ist natürlich ein Thema im Haus. Wer kein eigenes Zimmer alleine bewohnt und ungestört Besuch haben will, bucht über den hauseigenen Slack-Channel das „Lovenest“ im Kellergeschoss; ein bisschen düster ist es da, aber mit Kerzenlicht ganz romantisch und ein Ausweichquartiert, wenn jemand krank ist, wie z.B. in der Corona-Zeit, als sie noch mehr als sonst aufeinander Rücksicht nehmen mussten.

Gegründet hat sich das Hus24 vor über 10 Jahren, als Non-Profit-Digital-Hub mitten in Stockholm; das Silicon Valley mit seinen Tech-Farms lässt grüßen. Das Haus gehört einem Stockholmer Privatmann, der hier mit seiner Familie gelebt hat und nach seinem Auszug nicht verkaufen wollte. Es gibt eine „Satzung“ mit klaren Regeln. Aufgenommen werden nur Berufstätige ab 25 Jahren; wer sich bewirbt, wohnt einen Monat zur Probe und startet immer im 6-Bett-Zimmer. Ein vierköpfiges „Board“ verantwortet die Hauptorganisation und Finanzen; andere Kleingruppen kümmern sich um gemeinsam zu beschaffende Lebensmittel; den Putzdienst (einmal pro Woche kommt eine Reinigungskraft für 3 Stunden); nötige Reparaturen, Anschaffungen usw. Zusammen zahlen die 13 Personen, von denen vielen in sehr gut bezahlten Positionen arbeiten, ca. 4500 Euro. Das Einzelzimmer kostet 530 Euro warm; das Doppelzimmer 760 Euro – die Bettetage im Sechser-Zimmer kommt auf 280 Euro.

Das Digital-Hub-Konzept ist mittlerweile aufgeweicht. Sara beispielsweise ist Schauspielerin. Die 26-jährige kommt aus Nordschweden. Schon mit 20 ist sie zum Studium von zuhause ausgezogen, und hat dann in ihrer neuen Wahlheimat Stockholm das Hus24 entdeckt. Wie Halley ist sie fasziniert von dem Gemeinschaftsgedanken, der die Gruppe trägt: „Oft komme ich abends total fertig nach Hause – und da steht jemand in der Küche und fragt, ob ich mitessen möchte. So was macht mich glücklich.“

Nach einiger Zeit im 6er-Zimmer wollte sie etwas neues ausprobieren und hat ein Zweibettzimmer bezogen. Auch Sara kann sich vorstellen, noch viele Jahre im Hus zu bleiben. Doch wenn das Thema Kinder aufkommen sollte, müsste sie wohl etwas ändern: "So richtig kinderfreundlich ist das Hus nicht“. Am Party-Abend auf der Straße sind unter den Ehemaligen auch Eltern dabei. Einige von ihnen leben mittlerweile außerhalb der Stadt in einem selbst gekauften Co-Living Haus: Hus24 2.0.

Jack, Halley (mit Fotos der gesamten Hus24-Bewohnerschaft auf Hose und Shirt) und Sara wollen noch lange zusammen wohnen

Und dann ist da noch Jack. Der 31-jähriger Schwede ist geboren in Göteborg und arbeitet als Radiomoderator beim Schwedischen Rundfunksender P2. Vor fünf Jahren zog er ins Hus und wenn es nach ihm ginge, würde er hier alt werden. Jack kann nicht nur begnadet Gitarre spielen und schwedische Volkslieder singen, sondern auch viel deutsches Liedgut auswendig vortragen, von Georg Kreisler über Jürgen Marcus bis Reinhard Mey. Ein Idol von ihm ist Wolf Biermann, den er vor einigen Jahren live fürs Radio interviewt hat; in fließendem Deutsch. Das hat er in Köln gelernt, wo er einige Monate lebte. Jack findet es gut, dass die Gruppe mittlerweile so bunt gemischt ist, und ist froh, wenn sich Menschen mit anderen Background bewerben: „Einmal hatten wir einen 63-jährigen schon fast aufgenommen.“ Doch der sprang "leider" wieder ab.

Jack lebt vegan, wie viele im Hus24. Er findet es ok, wenn Leute Fleisch kaufen und Hot Dogs zum Dinner essen. Jan-Niklas würde gerne viel ökologischer leben. Das ist in Stockholm erstaunlicherweise schwierig. In der Hauptstadt des Landes, dass sich vor allem für seine Naturschätze rühmt, gibt es keinen einzigen Öko-Supermarkt, und Plastikbecher in allen Biergärten sind die Regel. Gerade deshalb schätzt Jan-Niklas sein Leben im Hus24: Weniger privater Platz bedeutet weniger Privateigentum und Konsum; das gemeinsame Lebensmitteleinkaufen und Kochen reduziert den Nahrungsabfall; die wenigen Quadratmeter Wohnfläche pro Kopf den Energieaufwand.  Bei ihrem Wochenende in den Schären will die Gruppe nicht nur den Zusammenhalt feiern, sondern auch Wünsche, Probleme und das zukünftige Zusammenleben besprechen. Vielleicht auch für mehr Nachhaltigkeit? Stoff für viele Diskussionen.

Und nach dem Diner ab ins Hafenbecken - am besten alle zusammen
 

Das Crayfish Dinner nähert sich seinem Ende. In Blitzgeschwindigkeit landen Tische und Stühle im Keller, die Pappbecher und Teller füllen die Mülltüten, oben in der Küche stapelt sich das Geschirr, eine erste Spülmaschine läuft, Rest-Essen kommt in die Kühlschränke. Bevor es ganz dunkel wird, ziehen sie los zum Hafenbecken um die Ecke. Das gemeinsame Schwimmen gehört zur Haus-Tradition. Im Winter auch im Eis. Dann geht es Schritt für Schritt die Treppe an der Kaimutter herunter und sie tauchen vorsichtig ein. Jetzt im Sommer springen sie in einer großen Gruppe zusammen ins Wasser.

Seh- und Hörtipp chrismon-live:
Wie können wir preiswert und gemeinschaftlich wohnen? Hier geht es zur Aufzeichnung meines Web-Talks mit Jennyfer Wolf vom Wohnprojekt Allmende in Freiburg und Jörn Luft vom Netzwerk Immovielien e.V. vom 17. August 2023
 

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Kolumne

Dorothea Heintze

Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß aus eigener Erfahrung: Das eigene Wohnglück finden ist gar nicht so einfach. Dabei gibt es tolle, neue Modelle. Aber viele kennen die nicht. Und die Politik hinkt der Entwicklung sowieso hinterher. Über all das schreibt sie hier.