Anja Reschke Sreenshot
Reschke Fernsehen
Genossenschaften gehören immer zu den "Guten"? Leider nicht
Beim Wort "Genossenschaft" denken viele von uns an Werte wie Allgemeinwohl. Stimmt aber nicht immer, wie der Fall der "Bürgergenossenschaft Mittelsachsen" zeigt. Was hilft? Genau hingucken, nachhaken, melden.
Tim Wegner
04.08.2023

Hoppla, was ist denn das für ein Titelbild? Die Journalistin Anja Reschke in der Wohnlage?

Nein, ich hab Anja nicht zur Gründung eine Baugemeinschaft oder alternativen Wohnformen befragt, sondern ich habe ihre Sendung gesehen. Denn in einer der letzten Folgen von "Reschke Fernsehen" ging es um eine „Bürgergenossenschaft" in Sachsen. Die politische Ausrichtung dieser „Bürger“ wird vielleicht nicht auf den allerersten, aber sicher auf den zweiten Blick klar. Zitat von der Webseite: „Die BüG bietet eine Parallelstruktur des Zusammenlebens als Alternative zu vorhandenen Institutionen.“ Parallelstruktur? Was genau heißt das? In ihrer Sendung lässt Anja Reschke die Herren selbst zu Wort kommen (ab Minute 20) und über die Möglichkeit sprechen, auch in Deutschland „faktisch“ eine "Privatstadt" mit eigenen Gesetzen zu errichten und zwar über das Instrument einer Genossenschaft als Keimzelle. Selbst anhören lohnt, am besten die ganze Sendung.

Genossenschaften sind mein Thema. Schließlich habe ich selbst in Hamburg eine Wohnungsbaugenossenschaft mitbegründet. Ich weiß, wie lang der Weg von unserer ersten Idee bis zur Eintragung und Anerkennung durch einen Prüfungsverband war. Wer diesen Weg durchlaufen hat, darf ein „eG“ (eingetragene Genossenschaft) hinter dem Namen tragen. Die Bürgergenossenschaft hat dieses eG. Der zuständige Prüfungsverband, so steht es auf der Webseite, sitzt in Hildesheim und ist zugelassen von der Niedersächsischen Landesregierung.  

Erstaunlich finde ich. Wie passt ein so stramm rechts-national und rein kapitalistisch ausgerichtetes Leitbild zu den Werten von Genossenschafts-Gründervater Friedrich Wilhelm Raiffeisen "Einer für alle, alle für einen"?

Friedrich Wilhelm Raiffeisen, Gründer des Genossenschaftswesens - was würde er zu der Genossenschaft in Sachsen sagen?
Ich telefoniere mit Mathias Fiedler. Er ist Syndikusrechtsanwalt und Vorstand des ZdK, des Zentralverbandes der Konsumgenossenschaften. Wie kaum ein anderer in Deutschland kennt er sich mit dem Wesen von Genossenschaften aus und macht erst mal klar: „Genossenschaften sind per se nicht die Guten!“

Völlig unabhängig davon, was viele Menschen mit Genossenschaften, oft sehr „überhöht“, verbinden würden, ist jede Genossenschaft, egal welcher Art, einfach nur eine „Rechtsform“. Deren oberstes und wichtigstes Ziel, so besagt es das deutsche Genossenschaftsrecht, ist die „Förderung der Mitglieder“: Eine Energiegenossenschaft beispielsweise kann dafür sorgen, dass die Mitglieder mit günstigem Solarstrom versorgt werden; eine Wohnungsbaugenossenschaft stellt Wohnraum zur Verfügung usw. Was genau Mitgliederförderung ist, und was eben auch nicht, das erläutert Mathias Fiedler ausführlich auf dieser Seite. Die Mitgliederförderung kann demnach auch sehr egoistisch sein und muss nicht unbedingt auf das Allgemeinwohl ausgerichtet sein. Ebenfalls genossenschaftskonform ist der Aufbau alternativer Wirtschaftsformen. Genau das hat ja auch Raiffeisen angetrieben.

Was jedoch überhaupt nicht geht, so Mathias Fiedler, ist ein Agieren von Genossenschaften im rechtsfreien Raum. Demokratische Grundwerte, wie Mitbestimmung, Solidarität, Gleichberechtigung und Gesetzestreue sind Voraussetzung für die Anerkennung und Eintragung einer Genossenschaft in das Genossenschaftsregister. Gilt das für die Bürgergenossenschaft Mittelsachsen? Mathias Fiedler ist zumindest skeptisch. Hätte sein Interessenverband diese Genossenschaft unterstützt? Mit Sicherheit nicht.

Und was empfiehlt Mathias Fiedler vom ZdK? Hingucken, nachhaken, vielleicht dazu beitragen, dass Genossenschaften wie die Bürgergenossenschaft Mittelsachsen gar nicht erst zum Laufen kommen. Vermeintlich schwarze Schafe können gemeldet werden: z.B. beim Bundesverband der Verbraucherschützer und deren noch relativ jungen Einrichtung der „Marktwächter“. Verantwortlich sind auch die zuständigen Landesregierungen. Denn, so besagt es §81 des Deutschen Genossenschaftsrechts: Eine einmal zugestandene Eintragung kann auch wieder aberkannt werden, wenn nämlich durch „gesetzwidriges Verhalten ihrer Verwaltungsträger das Gemeinwohl“ gefährdet sei. Parallelgesellschaften, ob von rechts oder links, tun aber genau dies: Sie gefährden das Gemeinwohl.

Das Genossenschaftswesen boomt. Noch nie wurden so viele neue Genossenschaften gegründet wie 2022, gibt die DZ-Bank in einer Presseerklärung heraus. Besonders beliebt (und das ist auch besonders infam an der Namensgebung für die Genossenschaft in Döbeln) sind in den neuen Bundesländern Bürgergenossenschaften, wie eine neue Studie der Innova eG, einer Entwicklungsagentur für genossenschaftliche Lösungen in Leipzig erforscht hat. Noch einmal mehr wird hier ein guter Name missbraucht!

Seit 2016 gehört die Genossenschaftsidee und -praxis  zum Immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO.  Fast eine Milliarde Menschen sind in über 100 Ländern in Genossenschaften aktiv, nach dem Motto: Wir machen es selbst für uns und alle anderen, wo die Staaten nicht hinterherkommen. Doch was nicht dazu gehört: Diese Staaten und ihre demokratischen Rechtssysteme von unten her auszuhöhlen. Dagegen können und sollten wir uns wehren!

Hinweis:
Hör- und Lesetipp chrismon-live:
Wie können wir preiswert und gemeinschaftlich wohnen?
Hier geht es zur Aufzeichnung meines Web-Talks mit Jennyfer Wolf vom Wohnprojekt Allmende in Freiburg und Jörn Luft vom Netzwerk Immovielien e.V. vom 17. August 2023

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Vielen Dank für diesen Beitrag. Macht er uns doch aufmerksam auf ein kleines Detail, das mindestens rechtskonservative, aber möglicherweise auch Neonazis schleichend unsere Demokratie vergiften. Wir alle haben es in der Hand, in welchem Staat wir künftig leben wollen.

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Genossenschaft hört sich gut an, aber weil die Marginalisierten mit "sozialen" Transferleistungen an dieser nicht (oder nur mit ...?) teilnehmen können, ist es ...!?

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Kolumne

Dorothea Heintze

Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß aus eigener Erfahrung: Das eigene Wohnglück finden ist gar nicht so einfach. Dabei gibt es tolle, neue Modelle. Aber viele kennen die nicht. Und die Politik hinkt der Entwicklung sowieso hinterher. Über all das schreibt sie hier.