Schleichendes Gift
Eine Minderheit lehnt die Corona-Regeln ab. Das kann man gelassen sehen. Aber die Proteste werden lange nachwirken, weil die Demonstranten ihre Giftpfeile längst abgeschossen haben. Was für Folgen das haben kann, zeigt ein Blick auf die Migrationspolitik. Ein Kommentar.
Tim Wegner
01.09.2020

Seit Verschwörungsverirrte und Rechtsextreme am vergangenen Samstag Reichsflaggen auf den Stufen vor dem Bundestag schwenkten, gab es - grob gesprochen - zwei Reaktionen: Einige Beobachter sahen die Demokratie in Gefahr, während andere beschwichtigten, man solle die Demonstranten nicht größer schreiben, als sie sind. Beides stimmt.

Umfragen signalisieren, dass gut zehn Prozent der Menschen die Maßnahmen ablehnen, mit der die Corona-Pandemie eingedämmt werden soll. Eine große Mehrheit befürwortet die Regeln. 

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Trotzdem ist nicht alles gut. Denn eine Minderheit reicht aus, um die Mehrheit zu verunsichern. Das zeigt die Entwicklung der "Neuen Rechten" in den vergangenen Jahren, in denen es den Rechtsextremen immer wieder gelungen ist, Themen zu setzen. Corona ist nur eine Fortsetzung dieser Strategie.

Der gemeinsame Nenner: die Opferrolle

Auf den ersten Blick ist es eine abseitige Allianz, die in Berlin (und andernorts) demonstriert. Esoteriker sind dabei, Anhänger der Homöopathie und Menschen, die Impfungen ablehnen. Anhänger der Reichsbürgerszene geben sich ebenso offen zu erkennen wie Verschwörungsgläubige. Sie folgen den krudesten Glaubenssätzen, die immer im Antisemitismus münden. All diese Gruppen haben einen gemeinsamen Nenner: Sie fühlen sich von "denen da oben" und den "Mainstreammedien" hinters Licht geführt, glauben sich im Besitz der Wahrheit und gefallen sich in der Opferrolle. Deshalb sind sie laut, voller Wut und oft auch Hass.

Wie die Krise zu lösen ist, wissen sie aber auch nicht. Sie schießen bloß Giftpfeile ab, oft gekleidet in Fragen. "Der Gates hängt da schon mit drin!" ist so ein Satz; "Ist es denn wirklich sicher, dass es ein neues Virus ist? Ist es nicht doch am Ende nur wie eine Grippe?" sind so Fragen. Irgendwas bleibt immer hängen, sagt man. In sich schnell wandelnden Gesellschaften gibt es ohnehin wenige Wahrheiten, die so beständig sind wie Naturgesetze. In Zeiten einer Pandemie ist das erst recht so. Deshalb können diese Giftpfeile die Gesellschaft auf Dauer tief verunsichern.

Zuwanderung und Integration als mahnende Beispiele

Es gibt ein Politikfeld, auf dem zu sehen ist, wie verheerend sich das Gift der Neuen Rechten auswirkt: Zuwanderung und Integration. "Schon wieder waren es die Ausländer!" ist so ein Satz, der aufzeigt, wohin giftige Fragen mit der Zeit führen. Die Rechten haben es geschafft, Zuwanderung als Gefahr darzustellen, indem sie Menschen anderer Herkunft wieder und wieder mit Zweifeln überzogen haben. Über Kriminalität und einzelne Straftaten wird in der Regel nur mehr debattiert - vielmehr: sich empört -, wenn der oder die Täter einen Migrationshintergrund haben. Bei komplexen Straftaten wie den CumEx-Geschäften oder den Betrügereien rund um das Unternehmen Wirecard, die die Gesellschaft Milliarden kosten, sind die Rechten still. War ja auch kein Dunkelhäutiger dabei. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass Integration ein Kinderspiel wäre.

Was hilft nun, angesichts der Querfront, die in Berlin demonstrierte? Einerseits Gelassenheit, denn wie gesagt: Dort brüllt eine Minderheit, die man immer wieder daran erinnern darf, dass Empörung und Hass allein noch kein einziges Problem gelöst, aber stets viele neue geschaffen haben. Probleme löst man durch Arbeit und mit Geduld. Und nicht mit weniger Wissenschaft, auch wenn sich das viele der wissenschaftsfeindlichen Krakeeler wünschen - sondern mit mehr.

Wir wissen längst nicht alles über das Virus

Und Ehrlichkeit hilft, man kann sie ruhig und gelassen vortragen: Wir wissen längst nicht alles über das neue Virus, es gibt mehr Fragen als Antworten, und solange das so ist, ist Vorsicht sehr viel besser als Nachsicht. Die Balance der Maßnahmen sind immer wieder zwischen Freiheit einerseits und dem Infektionsschutz andererseits auszutarieren. Das kann in einer Demokratie auch nicht anders sein, aber es macht: Arbeit. Sie wird übrigens Tag für Tag verrichtet. Ein Beispiel: Man kann die Kommunikation des SPD-Politikers und Epidemiologen Karl Lauterbach, der sich ob seiner düsteren Prognosen zu Beginn der Krise das Wortspiel "Apokarllypse" einhandelte, kritisieren. Es mag sein, dass er Menschen in den Defätismus gedrängt hat. Heute aber, mit wachsendem Wissen, ist Lauterbach bemüht, mit Hilfe von Schnelltests einen Weg hin zu mehr Normalität zu weisen. Dafür hat er Respekt verdient - und keine Drohungen.

Sicher gibt es nachvollziehbare Kritik an den Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Krise. Und Sorgen. Eltern etwa, die es ihren Kindern nicht zumuten möchten, stundenlang mit Maske im Schulunterricht zu sitzen. Oder Beschäftigte aus Branchen, die zweifellos enorm unter Einschränkungen und Umsatzverlusten leiden. Wieder andere wollen nicht umgehen mit Unsicherheiten und einem Berg an Wissen, der täglich wächst und sich ständig verändert. Einfache Wahrheiten, die große Verschwörung - das kann sehr verlockend sein. Trotzdem ist jede(r) verantwortlich, nach rechts und links zu blicken, wer da alles mitläuft.

So viel Eigenverantwortung wird man doch wohl gerade den Menschen abverlangen dürfen, die von sich behaupten, als Einzige zu durchschauen, was hier gerade gespielt wird.

 

 

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Eines ist mal GANZ SICHER: Wenn alles in Gemeinschaftseigentum verstaatlicht und wirklich-wahrhaftig demokratisch und zweifelsfrei menschenwürdig organisiert wäre, so daß ein konsequent-vernünftiger Lockdown keine wirtschaftlichen und existenziellen Probleme verursachen kann, könnten nur eindeutig Asoziale die derzeitigen Intrigen anzetteln.

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Laut Artikel wird doch hier zugegeben, dass es nachvollziehbare Kritik an den Corona-Maßnahmen gibt. Warum werden dann gleichzeitig die Kritiker alle in einen Topf geworden? Wichtig ist und bleibt doch die Verhältnismäßigkeit. Ganz genau, Herr Husmann.

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