Ein Interview über Kriminalität und die Angst vor Verbrechen

"Alles wird schlimmer!"
Justizbeamter auf einem der Zellenflure im Hafthaus der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Bützow

Jens Büttner /dpa / picture-alliance

Wird, wer hinter diesen Türen lebt, ein besserer Mensch? Ein Justizbeamter in der Justizvollzugsanstalt in Bützow, Mecklenburg-Vorpommern

Justizbeamter auf einem der Zellenflure im Hafthaus der Justizvollzugsanstalt (JVA) in Bützow, Mecklenburg-Vorpommern

Und wer Verbrechen begeht, landet im Luxusknast und kommt eh bald wieder frei. Ausländer? Die sind besonders kriminell! Solche Behauptungen sind an den (Internet-)Stammtischen weit ­verbreitet. Aber treffen sie auch zu? Der Kriminologe Jörg Kinzig hat ein Buch darüber geschrieben. Ein Interview.

Welche Vorurteile zu den Themen Verbrechen und Strafe hören Sie oft?

Jörg Kinzig: Den Satz: "Lebenslang? Der kommt ja bald wieder raus!" Lebenslang bedeutet aber tatsächlich mindestens 15 Jahre Haft. Wenn ein Gericht die besondere Schwere der Schuld feststellt, sind es noch mehr. Wer in den letzten Jahren aus lebenslanger Haft entlassen wurde, hatte etwa 19 Jahre hinter Gittern zugebracht.

Jörg Kinzig

Jörg Kinzig ist ­Professor für ­Straf- und Strafprozessrecht an der ­Universität ­Tübingen und ­Direktor des ­Instituts für Kriminologie. Sein Buch "Noch im Namendes Volkes?Über Verbrechen und Strafe" ist im Orell-Füssli-Verlag erschienen.
PrivatJörg Kinzig

Gibt es noch mehr Irrtümer?

"Im Knast geht es den Leuten so gut!" Beispiel Baden-Württemberg: Wenn sich zwei Gefangene in einer der älteren Anstalten eine Zelle teilen, hat jeder von ihnen nur Anspruch auf eine Nettogrundfläche von mindestens ­4,5 Quadratmetern. Das ist etwas komplett anderes als Freiheit! Außerdem ist der Glaube ungebrochen, dass Freiheitsstrafen wirken – je länger, desto besser. In Gefängnissen sitzen aber schwierige Leute aus schwierigen Verhältnissen auf engem Raum zusammen. Welche Hoffnung auf Re­sozialisierung soll man da haben?

Wie sehen die Rückfallquoten aus?

Eine Studie zu Erwachsenen, die 2004 aus der Haft entlassen wurden, zeigt: 64 Prozent von ihnen wurden in den folgenden neun Jahren wieder verurteilt, wenn auch nicht immer zu Haftstrafen. Wichtig ist, wie alt Straftäter sind, wenn sie entlassen werden.

"Wer erst mal im Renten­alter ist, wird selten kriminell"

Warum?

Im höheren Alter hat man geringere Rückfallraten. Es gibt eine Alterskurve 
der Kriminalität. Zwischen 15 und 19 Jahren erreicht die Kriminalität ­einen Höhepunkt, danach fällt sie langsam, aber stetig ab. Wer erst mal im Renten­alter ist, wird selten kriminell.

Warum sind junge Menschen be­sonders anfällig?

Darauf gibt es keine befriedigende Antwort. Ein gewisses Maß an Delin­quenz gehört offenbar zur Jugend, besonders bei Männern. Frauen ­werden viel seltener kriminell, nur sechs von hundert Inhaftierten sind weiblich. Spätestens mit Berufsleben und Partnerschaft werden die allermeis­ten Menschen ruhiger. Die Schwierigkeit besteht darin, diejenigen früh zu erkennen, denen das nicht gelingt und die der Gesellschaft als Intensivstraftäter dauerhaft schaden.

Im Sommer kam es in Stuttgart und Frankfurt zu nächtlichen Ausschreitungen. Häufig sollen junge Männer mit Migrationshintergrund daran beteiligt gewesen sein. Werden sie besonders häufig kriminell?

Das ist auch so ein Vorurteil: "Schon wieder waren es die Ausländer!"

Und trifft es zu?

Wenn man Verstöße gegen das Ausländerrecht herausrechnet, die ja nur Ausländer begehen können, haben mehr als 30 Prozent der Tatverdächtigen keinen deutschen Pass. Ähnlich hoch ist der Anteil der Ausländer unter den verurteilten Strafgefangenen. Damit ist diese Gruppe überrepräsentiert.

Also sehr kriminell?

Das ist viel zu pauschal! Menschen aus dem Irak, Afghanistan und Syrien stellten zuletzt fast 60 Prozent der Asylsuchenden, machten 2018 in der Gruppe der tatverdächtigen Zuwanderer aber nur 39 Prozent aus. Dagegen geraten Menschen aus Algerien, Tunesien und Marokko auffallend häufig unter Verdacht, obwohl sie nur gut zwei Prozent aller Asylbewerber ausmachen.

"Kriminalität hat ihre Ursachen in den Lebenslagen der Verdächtigen"

Was folgern Sie daraus?

Kriminalität hat ihre Ursachen in den Lebenslagen der Verdächtigen. Wer aus Nordafrika nach Deutschland kommt, ist oft jung und männlich. Das sind zwei Faktoren, die Kriminalität ohnehin begünstigen. Wenn man in Sammelunterkünften lebt, keine Arbeit und keine Bleibeperspektive hat, weil die Abschiebung droht, ist das eine ungute Mischung.

Jung und männlich sind viele Syrer, Iraker und Afghanen aber auch.

Aber ihre Aussicht, hierbleiben und eine Existenz aufbauen zu können, ist viel größer. Das ist der Unterschied. Ich möchte betonen: Egal ob Deutsche mit Migrationshintergrund, Zuwanderer oder Ausländer – die übergroße Mehrheit hält sich an die Gesetze.

In Stuttgart und Frankfurt gab es ein großes öffentliches Interesse daran, ob die Verdächtigen einen Migrations­-
hintergrund haben. Zu Recht?

Viele haben zunächst gesagt: "Mit dieser Gewalt haben wir nicht gerechnet! Das waren die größten Ausschreitungen, die es in Stuttgart je gegeben hat!" Ich finde es suspekt, dann am nächsten Tag zu suggerieren, dass die 
Herkunft der Täter alles erklären kann. 
Es gibt viele Gründe für diese Gewalt, zum Beispiel die Corona-Situation. ­Jugendlichen fehlt der Raum zum ­Feiern. Wenn jemand einem Polizisten ins Kreuz springt, ist das natürlich erschütternd. Solche Bilder lassen viele vermuten, dass alles immer schlimmer wird.

"Die Furcht vor Kriminalität nimmt zu"

Und ist das so?

Wenn ich die Polizeiliche Kriminalstatistik zugrunde lege, sind wir auf dem niedrigsten Stand der Kriminalität seit 1992. Auch die Gewaltkriminalität nimmt nicht zu – wohl aber die Furcht vor Kriminalität innerhalb der Bevölkerung.

Warum?

Ich lese zu Selbstversuchszwecken immer mal wieder Boulevardmedien, auch im Internet. Wenn Sie vorwiegend aus solchen Quellen Ihr Bild von der Wirklichkeit beziehen, macht das was mit Ihnen. Die Unsicherheit in der Gesellschaft steigt. Vor zehn Jahren hatte ich noch das Gefühl 
einer immer stärker werdenden Zivilisierung. Dieser Glaube ist auch in mir erschüttert worden. Da muss ich nur in die USA oder nach Brasilien schauen.

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Lesermeinungen

"Warum sind junge Menschen be­sonders anfällig?"

Weil sie meist die Kapitulation vor dem menschenUNwürdigen System noch nicht so funktional verinnerlicht haben.

Und ja, alles wird schlimmer, weil wir im zeitgeistlich-reformistischen Kreislauf des Systems wieder nahe der nächsten logischen Eskalation unsere Dummheit von gut & böse kulminieren lassen - Vernunftbegabung ist wie "Perlen vor die Säue"!?