Ahnenforschung
Sie ­kannte nicht mal seinen Namen
Nach 25-jähriger Recherche findet Nicole Läderach heraus, wer ihr Großvater ist. Was sie herausfand, war schockierend
Collage aus Illustrationen und einem Foto der Autorin
Nicole Läderach betreibt Familienforschung. Illustriert von Véronique Stohrer
Véronique Stohrer
Nicole LäderachPrivat
Véronique StohrerPrivat
03.02.2024
16Min

Als Kind war ich verwirrt. Warum BRD und DDR, wenn doch beides Deutschland ist? Als Tochter eines Deutschen hätte ich ein Recht auf eine Erklärung gehabt, fand ich. Immerhin war mein Vater dort geboren und aufgewachsen. Es hieß, ich sei noch zu klein, um das zu ­verstehen. Drängender aber waren andere Fragen: Warum hat mein Vater keinen Vater? Ich dafür eine Oma, die gar nicht meine Oma ist? Mein Vater nannte sie dennoch ­Mama und liebte sie innig. Seine leiblichen Eltern durften kein Thema sein. Meine Schwester und ich akzeptierten das, er würde seine Gründe haben.

Nicole LäderachPrivat

Nicole Läderach

Nicole Läderach, geboren 1979, lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Nähe von Zürich. Sie arbeitet als Juristin bei einem Krankenversicherer.

Geboren im Januar 1953 in der Nähe eines amerikanischen Militärstützpunktes in Bayern, war unser Vater der Sohn eines ihm unbekannten US-Soldaten und einer damals 19-jährigen Sudetendeutschen. Unehelich. Im tiefkatholischen Allgäu. Etwas Schlimmes muss in seiner frühesten Kindheit vorgefallen sein – darauf wollte Vater nicht eingehen –, auf alle Fälle sei er, wenige Monate alt, zu einer Pflegemutter gekommen. Eine Witwe, die ihm Liebe gab und ein Zuhause. Meine Oma Elisabeth. Von seiner leiblichen Mutter wollte er nichts wissen.

Aber ich selbst fühle eine schwer zu beschreibende ­Leere. Die Frage, wer meine Großeltern sind, lässt mir ­keine Ruhe. Man kennt das, wenn es um Menschen geht, die durch eine Samenspende gezeugt oder adoptiert ­worden sind – ihre Orientierungslosigkeit, die innere Unruhe. Auch ich erlebe mich als rastlos. Obwohl es ja nur die Großeltern sind.

Lesen Sie hier: Prominente Kriegsenkel über Geheimnisse ihrer Familien

Herbst 1999: Während eines Sprachaufenthalts in ­Cleveland, Ohio, will ich das aberwitzige Unterfangen beginnen, nach meinem Großvater zu suchen. Meine Großmutter hatte ich da schon gefunden, heimlich, und ihr ­einen Brief geschrieben. "Ich bin Nicole, deine ­Enkelin. Was weißt du noch von Großvater? Name, Alter, Herkunft?" Feinfühliger und diplomatischer natürlich, aber ich hatte auch durchblicken lassen, dass ich keinen weiteren Kontakt wünschte. So viel Loyalität mit meinem Vater musste sein. Aber dann quälten mich doch Gewissens­bisse: Jetzt erfährt die alte Dame mit Mitte sechzig, dass sie zwei Enkelinnen hat, die an ihr nicht interessiert sind. An Großvater hingegen schon.

Großmutter schreibt zurück: Sie freue sich, von mir zu erfahren, und gebe mir gern die wenigen Informationen, die sie habe. Ein paar Jahre älter als sie sei er gewesen, und er habe wohl Simon geheißen. Oder Laurie, sie hätte ja kein Wort Englisch gesprochen und sei sich daher auch nicht sicher, was Vor- und was Nachname sei. Aus South Carolina sei er gewesen, Columbia allenfalls.

In Cleveland am Computer sitzend kann ich mit den Angaben wenig anfangen. Das Internet steckt ja noch in den Kinderschuhen. Ich tippe Simon Laurie South Carolina in die Suchmaschine. Ich rufe alle Simons an, die über 70 sind. Aber ich finde sie nicht, die Nadel im Heuhaufen.

Großmutter

2001: Mit Anfang zwanzig bitte ich meinen Vater zum Gespräch in Zürich, wo er arbeitet und ich studiere. Alles möchte ich wissen und endlich Antworten erhalten. Wer, was, wann, wie und warum. Er fühlt sich überrumpelt, versteht aber auch, dass ich endlich wissen will, woher ich komme. Was er erzählt, darf getrost als schwierige Kindheit bezeichnet werden. Mir ist nun jedenfalls klar, warum mein Vater mit seiner leiblichen Mutter gebrochen hat und weswegen er – ganz anders als ich – nie das geringste Bedürfnis verspürte, herauszufinden, wer sein Vater ist.

"Jedes Haus braucht ein Fundament, und die Herkunft ist meines"

Ein Sonntag im Sommer 2016. Mein Telefon klingelt, es ist Papas leibliche Mutter, sie möchte mit ihm ­sprechen. Seit unserem Briefwechsel sind fast zwanzig Jahre vergangen. Nun reden die beiden das erste Mal nach knapp 50 Jahren Funkstille. Sie hat zwischenzeitlich vieles verdrängt und einiges vergessen. Weil mein Vater zögert und sich ein Treffen kaum vorstellen kann, bieten meine Schwester und ich an, ein erstes Kennenlernen zu übernehmen. Kurz darauf fahren wir in einen kleinen Ort in den Allgäuer Alpen. Die Knie zittern und unsere Herzen pochen fast hörbar, als ich klingle. Eine alte Frau öffnet die Tür, sichtlich bewegt fällt sie uns in die Arme. Mit 37 Jahren lerne ich nun also meine Großmutter kennen.

Wir reden stundenlang, auch um den heißen Brei. Was soll man machen, wenn man sich total fremd bei Kaffee und Kuchen gegenübersitzt? Sie holt Fotoalben und erzählt von ihrer Familie und der Vertreibung damals aus dem heutigen Tschechien. Es ist mir wichtig, vorurteilslos zuzuhören. Sie auszufragen und dabei die Erlebnisse aus Papas Kindheit gekonnt zu umschiffen, verlangt viel Geschick. Ich schreibe mit, Namen, Daten, wer weiß, ob ich sie nochmals sehe? Meine Vorfahren großmütterlicherseits kenne ich jetzt, und ich weiß, dass mein Vater ein Einzelkind blieb. Nun lenke ich das Gespräch auf Großvater. Ich möchte ihn suchen, Oma, jede Einzelheit könnte wichtig sein.

Kolumne Transitraum: Der Großvater, der vor dem Krieg gestorben ist

Sie hat ihn 1952 in einem Tanzlokal kennengelernt. ­ Die Schwangerschaft war natürlich ungeplant. Der Amerikaner habe sich leider als eher grober Typ erwiesen. ­Seinen neugeborenen Sohn besuchte er noch im ­Krankenhaus und teilte Großmutter dort mit, dass er in Amerika bereits verheiratet sei. Mit Mary*. Auch eine Tochter habe er, Melinda. Diese Namen würde Großmutter nie vergessen. Kurze Zeit später war sein Einsatz in Deutschland beendet. Großmutter hat nie mehr von ihm gehört.

Rückschlag

Erschöpft vom Aufeinandertreffen mit unserer Großmutter sitzen meine Schwester und ich am Abend im Hotel vor dem Laptop. Wir wollen herausfinden, wie deutsch-amerikanische Besatzungskinder an Informationen über ihre ­Väter gelangen. Immerhin teilen Hunderttausende der Nachkriegsgeneration Vaters Schicksal. Detailliert finden wir aufgelistet, welche Dokumente in welchem amerikani­schen Militärarchiv verwahrt sind; solange man Einsatzort und Jahr kennt, stehen die Chancen gut. Wir reiben uns die Hände. So nah am Ziel! Eines der vielen Archive, ausgerechnet "unseres", ist unglücklicherweise vor Jahren einem ­verheerenden Brand zum Opfer gefallen. Wie viel Pech kann man haben?! Aber Aufgeben ist keine Option. Jedes Haus braucht ein Fundament, und die Herkunft ist meines.

Mittlerweile habe ich geheiratet und bin Mutter zweier Söhne. Wann immer der Kinderarzt nach "Krankheiten in der Familie" fragt, fühle ich einen kleinen Stich.

Erschöpft vom Aufeinandertreffen mit unserer Großmutter sitzen meine Schwester und ich am Abend im Hotel vor dem Laptop: Wir sind so nah am Ziel!

Neue Wege

Winter 2021. Beim Spazieren höre ich wie immer Podcasts. An diesem Morgen ist es ein Interview mit der Wissenschaftlerin Barbara Rae-Venter, die ein forensisches Institut in den USA leitet und maßgeblich an der Enttarnung des sogenannten "Golden State Killers" beteiligt war. Rae-Venter hatte die Idee, die DNA des mutmaßlichen Serien­mörders auf bekannte öffentliche DNA-Datenbanken hochzuladen, wo sich zwecks Suche nach leiblichen Verwandten oder Informationen über ihre ethnische Herkunft, flapsig gesagt, Hinz und Kunz tummeln. So fand sie mehrere entfernte Verwandte des Phantoms und baute nun, ausgehend von den Informationen über diese Personen, einen Familienstammbaum.

Wenn sie mit dieser Methode Erfolg hatte, warum sollte ich es nicht auch probieren? Ich kaufe einen DNA-Test und stehe plötzlich vor einem Problem: Will ich meine DNA, ein Unikat immerhin und abgesehen davon das Privateste, was es von mir gibt, auf eine Website uploaden? Echt jetzt? Ja, will ich, muss ich. Langes Abwägen erspare ich mir. Und doch komme ich erst mal nicht voran. Meine ­Daten führen zu keinen Matches. Aber im Dezember 2022 ­registriere ich mich auf einer weiteren Website, die auch DNA-Testing anbietet. Mittlerweile habe ich Routine und bin schnell. Zack, DNA ist hochgeladen. Es ist bereits nach Mitternacht, morgen muss ich früh raus. Licht aus.

Im Zug zur Arbeit vergewissere ich mich, dass der Upload von gestern geklappt hat und sehe mir die Seite genauer an. Finde heraus, wo man sich seine Matches anzeigen lassen kann. Mir fällt fast die Kinnlade runter, als ich lese: "Delores Goodman, 363 cM shared." cM ist die Abkürzung für Centimorgan und vereinfacht gesagt so was wie das Längenmaß der DNA. 363 cM versprechen einen Verwandtschaftsgrad, wie ich ihn mir nur erträumen konnte: Delores und mein Vater sind mit einiger Wahrscheinlichkeit Cousin und Cousine! Ich texte sofort meiner Schwester, Aufregung mal zwei.

Ab jetzt gibt es kein Halten mehr, ich verbringe jede freie Minute vor dem Bildschirm. Zu Delores bekomme ich keinen Kontakt, aber ich will so viel wie möglich über sie in Erfahrung bringen. Ich bin getrieben und hochgradig fokussiert. Meine Buben und mein Mann zeigen Verständnis, sind aber, glaube ich, auch ein wenig beeindruckt ob so viel Hartnäckigkeit.

Die Suche

Legalen Zugang zu Personendaten bekommt man in den USA erstaunlich einfach. Das kostet zwar Geld, aber was ich dann finde, verschlägt mir die Sprache. Ich erfahre nicht nur Delores’ letzte Adressen, Telefonnummern, Nachbarn und ausgeübten Berufe der vergangenen Jahrzehnte, ­sondern auch manches über ihre Hochzeiten und Scheidungen. Wäre Delores je straf- oder zivilrechtlich verurteilt worden, würde mir selbst das angezeigt. Auch jedes Bußgeld wegen Geschwindigkeitsübertretung. Hallo, Datenschutz?!

Um meine Chancen zu erhöhen, erwerbe ich auch gleich ein Abo auf der Datenbank Newspapers.com. Nun habe ich Zugang zu einer Unmenge an amerikanischen Zeitungen der letzten hundert Jahre in digitalisierter Form. Tagein, tagaus sichte ich Todesanzeigen, Sterbe- und Heiratsregister, Erhebungen aus Volkszählungen. Auch Facebook kommt zum Einsatz, wo viele Menschen (zu meinem Glück!) wenig Hemmungen im Umgang mit Privatem zeigen. ­Gegen Weihnachten 2022 kenne ich die Namen von ­Delores’ Eltern und Großeltern. Hunderte von Stunden habe ich zu diesem Zeitpunkt bereits der Recherche gewidmet.

Kolumne Ostwärts: Was bleibt, wenn der Vater geht

Es ist wieder mal am späten Abend, als mir plötzlich das Blut in den Adern gefriert: DA IST ER! Simon Laurie oder ähnlich habe er geheißen, hat Großmutter damals gesagt. In der Todesanzeige von Delores’ Tante ist als hinterbliebener Bruder erwähnt: Semon Lowry, West Columbia, South Carolina. Er muss es sein!

Im Todesregister des US-Kriegsveteranenministeriums lese ich, dass Semon 1928 geboren und im April 2000 verstorben ist. Es dauert lange, bis ich weitere Informationen zusammen habe. Von Ehefrau Mary hat er sich scheiden lassen und war noch mindestens drei weitere Male verheiratet. Es heißt, alle seine Ehefrauen seien tot. Mehr lässt sich über Großvater nicht finden. Nicht einmal eine Todesanzeige scheint zu existieren. Mir wird bewusst, dass ich schon gerne wüsste, was für ein Mensch er war und wie sein Leben verlief. Ich möchte ihn fassen können. Auch ein Foto wäre wichtig. Also werde ich Semons Nachkommen ausfindig machen müssen. Und merke bald, es wimmelt von Kindern. Zu diesem Zeitpunkt kann ich aber noch nicht ahnen, wie kompliziert die Verhältnisse sind.

Puzzleteile

Verwirrend sind die Angaben überdies. Ich rätsele: Sind Mary und Marie die gleiche Person? Es scheint, als würden alle willkürlich mal mit dem ersten, mal mit dem zweiten Vornamen geführt. Plötzlich stolpere ich über den ­Namen Melinda und erinnere mich: Semons Tochter, Groß­mutter hatte sie damals erwähnt. Fast süchtig nach dem Kick ­einer weiteren Information forsche ich zu diesem Zeitpunkt längst auch am Handy beim Friseur, im Zug und auch beim Kochen. Wie wird eigentlich Besessenheit definiert?

Die Verwandtschaftsbeziehungen sind so undurchsichtig, dass ich irgendwann beginne, relativ wahllos und auf gut Glück Facebook-Profile nach Hinweisen zu durchforsten. Einige Familien erweisen sich nach ­stundenlanger Prüfung ihrer Profile als nicht im Ansatz mit mir verwandt, dafür weiß ich jetzt, was sie von Trump halten, wie sich das Leben mit einer Knie-Totalendoprothese anfühlt und welche Verluste sie betrauern. Ich verfolge die Postings nichtsahnender Männer und Frauen über Jahre zurück in der Hoffnung, dass sich unter irgendeinem Foto ein Kommentar findet, der weiterhilft. So muss sich eine Stalkerin fühlen. Die Vorstellung gruselt mich. Selten, aber immerhin, werde ich fündig, das Glücksgefühl ist dann überwältigend. Es verschafft mir Aufwind. Neue Möglichkeiten. Was wäre eigentlich, wenn Großvater gar kein guter Mensch war? Oder wenn heimtückischer Krebs, ALS oder sonst was potenziell Tödliches in der Familie vererbt wird?

Lesen Sie hier: Was machte Großvater in der Nazizeit? Eine Anleitung zur Recherche

Langsam ergibt sich ein Bild. Ich verschlinge Zeitungsartikel ohne Ende und befinde mich gerade im Florida der 80er Jahre, als ich im "Miami Herald" lese: Ein Bruder von Großvater, Paul, wurde ermordet. Dann South Carolina, nur zwei Jahre zuvor: Die erst 42-jährige Schwester von Großvater starb unter ungeklärten Umständen, die Polizei ermittelte. Ich bin fassungslos. Ein anderer Bruder wiederum wurde als gefallener Soldat posthum mit verschiedenen Medaillen und Orden für heldenhaftes Verhalten ausgezeichnet. Mein jüngerer Sohn ist neun, ein Alter, in dem Jungs bekanntlich gerne kämpfen und die Armee das Männlichste ist, das sie sich vorstellen können. Als er von der Geschichte Wind bekommt, stellt er sich vor, dass auch sein Urgroßvater ein Kriegsheld war. Sein Heldenmut ­könne ja nicht von ungefähr kommen, findet er.

Melinda

Schließlich schreibe ich Semons Tochter Melinda und einige ihrer Schwestern auf Facebook an. War ihr Vater 1952/1953 in Deutschland stationiert? Ich glaube, Sie sind meine Tante. Beste Grüße aus der Schweiz. Beim ­Schreiben halte ich inne: Diese Geschichte hört sich doch irre an, sie alle werden meine Nachricht sofort löschen und ­denken, ich sei eine Goldgräberin. A scam. Tatsächlich erhalte ich keine Antwort. Ich schicke ihr eine zweite Nachricht. Wieder ohne Reaktion.

"Ich habe einen Namen und ein Gesicht. Alles, was ich je wollte"

Im Februar 2023 schreibe ich einen langen Brief an ­Melinda in Kalifornien. Sie ist 73 Jahre alt und scheint ­Semons ältestes Kind zu sein. Auf den Fotos auf Social ­Media wirkt sie jung geblieben, lebenslustig und weit gereist. Um sicherzustellen, dass Melinda überhaupt zu lesen beginnt, lege ich viele Fotos bei von uns allen. Jedes Einzelne wird auf der Rückseite fein säuberlich beschriftet. Ich versichere ihr, dass ich keinen Kontakt erzwingen möchte und einfach froh wäre, könnte ich irgendwann einmal noch ein Foto von Großvater bekommen. Ein Gesicht zum Namen sozusagen. Falls das für sie nicht infrage komme, solle sie meinen Brief doch bitte an jemanden weiterleiten, der mir helfen könne. Ich bringe außerdem mein Verständnis zum Ausdruck, wie verstörend die Nachricht für sie sein muss – immerhin erfährt sie vom unehelichen Kind ihres Vaters.

Dreizehn Tage später kommt eine E-Mail. Absender: ­Melinda, Attachment: unscharfe Schwarz-Weiß-Auf­nahme eines sympathischen, dunkelhaarigen jungen Mannes inmitten mehrerer Frauen und Kinder. Ich habe es geschafft! Urplötzlich bin ich vollkommen. Verankert. Hastig lese ich die Legende: Liebe Nicole, das ist dein Großvater Semon mit mir auf dem Arm, seine Mutter, seine Schwestern sowie ein Neffe und mein Bruder. Und dann: Sehr gerne würde ich bald mit dir telefonieren. Beste Grüße, Melinda.

Lesen Sie hier: Umgangsbegleiterin hilft, damit Trennungskinder beide Eltern treffen können

Überbordende Freude und gedankliche Luftsprünge. Ich seziere das Foto förmlich. Spüre ich eine Verbindung zu ihm? Ist mir irgendetwas an diesem Mann vertraut? Sehe ich ihm ähnlich? Die folgende Nacht wird kurz. Sofort nach dem Erwachen leite ich das Bild an meine Schwester und meinen Vater weiter. Er ist vor kurzem 70 Jahre alt geworden. Papa findet, es sei ein mächtiges, nicht einzuordnendes Gefühl, seinen Vater das erste Mal zu sehen. Gut, einfach auch seltsam. Meine Schwester teilt meine Euphorie.
Ich bedanke mich sehr herzlich bei Melinda. Aufgrund der Zeitverschiebung von neun Stunden würde ich sie am Abend anrufen. Es ist der 26. Februar 2023, gerade bin ich 44 Jahre alt geworden.

Überbordende Freude und gedankliche Luftsprünge: Spüre ich eine Verbindung zu ihm? Ist mir irgendetwas an diesem Mann vertraut? Sehe ich ihm ähnlich?

Um 21 Uhr sage ich den Kindern Gute Nacht und bitte meinen Mann, mir die Daumen zu drücken. Wer weiß, mit wem ich gleich sprechen werde? Es klingelt nur zweimal, ehe eine warme Stimme fragt: Hi! Is this Nicole? Melinda berichtet, wie unglaublich sie sich über meinen Brief gefreut habe, sie betrachte uns, meine Schwester, unseren Vater und mich, als ein Geschenk des Himmels. Meine Anspannung löst sich. Sie habe ihren Vater zuletzt als 18-Jährige gesehen, weshalb sie nicht viel über ihn erzählen könne. Er habe sich nicht um die Familie gekümmert und später keinen Unterhalt gezahlt. Einen richtigen Job hatte Großvater nie. Typ Taugenichts, aber charmant.

Er habe wohl an einer psychischen Störung gelitten, an Elektroschocktherapie könne sie sich ­erinnern. Die Diagnose kenne sie nicht. Gestorben sei Semon an Magenkrebs, nur zwei Tage nach seiner Ex-Frau Mary, Melindas Mutter. In der Tat habe sie viele Geschwister. Außer ihr sei jedoch höchstens noch Olivia Semons Kind; jedes ihrer weiteren Geschwister habe je einen anderen Vater. So groß ist meine Familie also gar nicht. Kompliziert, meint Melinda, sei es auch dadurch, dass ­ihre Mutter Mary nach der Scheidung von Semon dessen Bruder Paul geheiratet habe und mit ihm mindestens ein weiteres Kind bekam. Ich schlucke hörbar und hoffe, dass meine Englischkenntnisse mir soeben einen Streich gespielt haben (haben sie nicht, ich vergewissere mich mehrfach). Paul sei später an Leukämie verstorben, ihre Mutter heiratete noch viele Male.

Die Wahrheit

Leukämie? Ganz bestimmt nicht. Wie ich in diversen Zeitungsberichten gelesen habe, war Großvaters Bruder Paul ermordet worden und das vom eigenen Stiefsohn. Wusste sie das nicht?! Sofort ruft sie aufgeregt ihren Mann Greg herbei: Greg, he was MURDERED! Sie bittet um Einzelheiten, was mich enorm viel Überwindung kostet. Den Zeitungen zufolge wurde der zum Tatzeitpunkt 18-jährige Täter nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, weil er sich in Notwehr gegen einen erneuten sexuellen Missbrauch gewehrt hatte. Ah, that makes sense. Greg, he abused his son.

Und noch bevor sie mir von ihren drei Kindern, den Enkeln und ihrer 40-jährigen Ehe erzählt, erfahre ich jetzt komplett unvorbereitet, wer mein Großvater auch war, wenn er mit seinen Kindern und Stiefkindern alleine war. Nicole, I’m very, very sorry. Deswegen also hatte meine Tante den Kontakt zu Großvater als Teenagerin abgebrochen, darum hat sie die Nachricht von Pauls Übergriffen nicht erstaunt. Kurzzeitig habe ich das Gefühl, dass mir alles zu viel wird. Was führen wir hier eigentlich für ein Gespräch? Are you sure? I mean, like, do you know for a fact? Die Frage hätte ich ihr ersparen ­sollen, Melinda beantwortet sie aber. Ich bringe keinen Ton heraus und muss leichenblass sein jetzt. Als wir uns emotional durchgeschüttelt nach zwei Stunden verabschieden, sagt Melinda: Lucky you all, you’ve never met him. Wie kann ich eine derart tolle Tante haben und gleich­zeitig einen so grausamen Großvater?

Kolumne Luftbrücke: Als Familie in Deutschland eine neue Heimat finden

Die nächsten Tage kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Familie zu gewinnen ist überwältigend! Die Wahrheit zu kennen überwältigt mich. Mir gehen absurde Gedanken durch den Kopf. Ist das am Ende vererbbar? Tragen wir eine Art Erbschuld? Kann und darf ich das meinem Vater und meiner Schwester überhaupt erzählen? Falls ja, wie?

Erstaunt stelle ich fest, dass ich seit Tagen nicht mehr am Laptop war. Die Getriebenheit ist weg. Ich kann durchatmen, mal wieder ein Buch zur Hand nehmen. Schlechte Nachrichten sind offenbar besser als keine. An Melinda denke ich oft.

Achterbahn

Mitte März erkundigt sich Melinda nach meinem ­Befinden. Ihre eigene Verfassung sei nicht allzu gut. Alles von damals sei wieder hochgekommen, sie schäme sich zutiefst für das Erlebte. Can we talk again, Nicole?

Sobald es Morgen ist in Kalifornien, rufe ich Melinda an. Ich fühle mich genauso schuldig wie sie. Wofür, weiß ich nicht, das Gefühl ist allerdings schwer auszuhalten. Wir knüpfen nahtlos an die Vertrautheit des ersten Gesprächs an.

Pure Euphorie habe sie erlebt nach dem ersten Telefongespräch mit mir, drei Tage lang sei sie quasi geschwebt. Dann der Absturz in dunkelste Gefilde. Lange Verdrängtes war auf einmal wieder da. Reden hilft uns beiden. Erschöpft lassen wir es irgendwann gut sein und wechseln auf eine leichtere Ebene. Es gibt zwei Leben zu ­erzählen! Bald kichern wir wie Schulmädchen. Lachen über Anek­doten und schicken uns gleichzeitig Fotos. Meinen ­üppigen grünen Garten findet sie wunderschön! Ganz anders als der ihre, Mojave-Wüste halt. Irgendwann fragt sie mich, wie wir ihn denn jetzt so gestalten werden, diesen Kontakt. Ohne nachzudenken erwidere ich, dass wir das gar nicht wissen müssen zu diesem Zeitpunkt. Es gibt kein Handbuch für unsere Situation. Lassen wir es auf uns zukommen, Melinda. We keep in touch.

Papa

Als ich meinem Vater von den Gesprächen mit seiner Halbschwester erzähle, ist er erstaunt zu hören, dass ich sie als offenen, lustigen und sympathischen Menschen ­beschreibe. Damit hat er offensichtlich nicht gerechnet. Ob sie einen guten Kontakt zu ihrem Vater gehabt habe, möchte er noch wissen. Weitere Fragen hat er nicht. Die Stille bereitet mir Unbehagen, ich empfinde sie als verkehrt. Aus dem Bauch heraus entscheide ich, ihm die Wahrheit zu erzählen. Sie erschüttert ihn kein bisschen. Eine abfällige Geste später wechselt er auch schon das Thema. Nicht, um abzulenken. Er interessiert sich einfach nicht dafür und spricht lieber von seinen neuesten Ferienplänen. Schlagartig wird mir klar, wie tot Großvater für Papa seit jeher war. Nicht der Rede wert. Familie in Amerika zu haben, bleibt für ihn ­daher abstrakt und im Grunde unwesentlich. Er wird nie den Wunsch verspüren, mit Melinda Kontakt aufzunehmen. Ganz anders meine Schwester und ich. Unsere Flüge nach Kalifornien sind bereits gebucht.

Immer noch wache ich morgens auf und denke, es ist nur ein Traum. Da ist tiefer Dank. Gefunden habe ich am Ende in jeder Hinsicht viel mehr, als ich gesucht habe. Fürs Erste bin ich einfach froh, all die Jahre nie aufgegeben zu haben. Ich habe einen Namen und ein Gesicht. Alles, was ich je wollte. Ich habe Ruhe, Wurzeln und Familie ­gewonnen. Mehr noch: Versöhnung im Wissen, dass es mein Glück war, Großvater nie begegnet zu sein.

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Habe gerade "Wo ist Großvater?" von Nicole Läderach gelesen. Ganz großes Kino! Inhaltlich und stilistisch ein Meisterwerk. Kein Drehbuchautor hätte sich das ausdenken können.
MfG
Oliver Vornberger
Osnabrück

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Das Verhalten der Protagonistin ist mir schwer verständlich - ich bin allerdings auch nicht betroffen (soweit mir bekannt).
Entscheidend sind die Personen, mit denen man aufwächst. Gene sind gegeben, egal woher und nach der Zeugung (fast) nicht mehr änderbar, egal ob der Spender anwesend war oder nicht.
Falls sich die erziehende Mutter oder der erziehende Vater explizit abweichend verhalten, bekommt das Kind nachträglich eine Erklärung – dies ist aber der einzige Gewinn (eventuell noch ein Erbe oder eine Warnung vor Krankheiten).
Die übertriebene Suche nach den Vorfahren ist eine unproduktive Sucht, nahe an Erlösungshoffnungen.

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