Historisches Foto: Deportationsmarsch in die Wüste Syriens mit Hunderten Armeniern
Historisches Foto: Deportationsmarsch in die Wüste Syriens mit Hunderten Armeniern
picture alliance / CPA Media Co. Ltd
Zählen die Menschenrechte der Armenier weniger?
Corinna Kulenkamps Roman "Aprikosenzeit, dunkel" handelt vom Genozid an den Armeniern. Ein Gespräch über die neue Vertreibung, alte Traumata und die Rolle der Deutschen.
19.10.2023

chrismon: Sie haben einen deutsch-armenischen Roman geschrieben, in dem der Völkermord eine große Rolle spielt. Wie präsent war die Geschichte Armeniens in Ihrer Familie? Ihre Mutter ist Armenierin und im Libanon aufgewachsen, Ihr Vater ist Deutscher.

Corinna Kulenkamp: Meine armenischen Wurzeln waren schon deshalb präsent, weil ich zweisprachig aufgewachsen bin. Außerdem wurde meine Mutter immer wieder mal von Fremden gefragt, wo sie herkommt. Die wenigsten konnten mit ihrer Antwort, sie sei Armenierin aus dem Libanon, etwas anfangen. Als Erklärung dafür, warum die Armenier in alle Welt verstreut leben, erzählte meine Mutter dann auch vom Genozid.

Bei dem Völkermord 1915 und 1916 starben bis zu 1,5 Millionen Armenierinnen und Armenier. Warum weiß man in Deutschland so wenig darüber?

Ich glaube, das Thema ist in Deutschland nicht gewollt. Es hat über 100 Jahre gedauert, bis der Genozid überhaupt anerkannt wurde. In der Schule lernt man darüber nichts, jedenfalls war das zu meiner Schulzeit so. Heute kommen nach meinen Lesungen Menschen auf mich zu, die überrascht sind, wenn sie durch meinen Roman auch vom Genozid erfahren und sich wundern, weshalb sie davon so wenig oder gar nichts wussten.

Erol Gurian

Corinna Kulenkamp

Corinna Kulenkamp, Jahrgang 1987, wuchs als Tochter einer Armenierin und eines Deutschen in der Pfalz auf. Sie studierte in München und Harvard Politikwissenschaft und Völkerrecht, promovierte und arbeitet heute als Schriftstellerin und Lektorin in München. Ihr Romandebüt "Aprikosenzeit, dunkel" ist im Berliner Orlanda Verlag erschienen. Er handelt von einer jungen Frau mit deutschen und armenischen Wurzeln, die sich auf Spurensuche nach Armenien begibt.
Tim Wegner

Katharina Müller-Güldemeister

Katharina Müller-Güldemeister hat Geografie, Kommunikationswissenschaft und Germanistik in Bamberg studiert, die Reportageschule in Reutlingen besucht und arbeitet als freie Journalistin von Berlin aus. Zu ihren Schwerpunkten gehören Reportagen und Porträts, Menschen, die das Radfahren lieben, Natur, Umgang mit der Klimakrise, Zusammenwachsen von Ost und West und auch das Lebensende. 2016 fuhr sie mit dem Fahrrad nach Teheran.

Wie erklären Sie sich das?

Ich glaube, den strategischen Interessen wird mehr Gewicht beigemessen als der historischen Verantwortung. 2005 war ich mit 90 anderen Jugendlichen aus Europa in den Deutschen Bundestag eingeladen, um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. Wir konnten mit Überlebenden des Holocaust sprechen und mit Politikern diskutieren. Just in derselben Woche stand in der Zeitung, dass ein winziger Abschnitt über den Genozid in Brandenburg in die Geschichtsbücher aufgenommen werden soll und dass die Türkei höchstpersönlich dagegen intervenierte, mit Erfolg. Ich sah, wie Deutschland einknickt, wenn es darum geht, Fakten zum armenischen Genozid weiterzutragen, in dem die Deutschen eine Rolle gespielt haben.

Das Deutsche Kaiserreich war mit dem Osmanischen Reich verbündet. Militär und Diplomaten wussten von den Vertreibungen und Massakern, ließen die türkische Armee machen und hießen sie teilweise sogar gut. Welche Folgen kann diese Unwissenheit in Deutschland haben?

Mit am schlimmsten daran fände ich, wenn Hitler recht behielte mit dem, was er sagte, als er den Holocaust plante: "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?" [Anmerkung der Redaktion: Diese rhetorische Frage soll Adolf Hitler vor den Oberkommandierenden am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg gestellt haben. Der Genozid diente beim Holocaust als Vorbild.] Denn genau das ist der Punkt. Alles hat eine Wirkung, auch das, was wir nicht tun: unser Schweigen, unser Wegsehen, unser Hinnehmen.

2016 wurde von der Bundesregierung offiziell anerkannt, dass es sich um einen Genozid handelte.

Ja, aber Frau Merkel und Herr Steinmeier sind der Abstimmung zur Resolution ferngeblieben. Ich denke, der Druck, den türkische Interessensgruppen aufgebaut haben, war einfach zu groß. Aber das sind natürlich Botschaften, die etwas nach außen senden.

"Gespräche, in denen der Genozid geleugnet wird, erleben Menschen mit armenischen Wurzeln immer wieder"

Die Hauptprotagonistin Ihres Romans "Aprikosenzeit, dunkel" ist die Studentin Karine Hansen, die wie Sie eine armenische Mutter und einen deutschen Vater hat. Dieser Teil des Romans spielt hundert Jahre nach dem Genozid, also 2015. Immer wieder wird Karine gefragt, wo sie "ursprünglich" herkommt, weil ihr Hautton sich um Nuancen unterscheidet. Fast immer muss sie mit dem Alltagsrassismus allein fertig werden. Irgendwann beschließt sie, nach Armenien zu reisen. Was erlebt sie dort?

Sie kommt in ein ihr zunächst völlig fremdes Land und findet auch dort nicht die Zugehörigkeit, die sie sucht. Nach und nach taucht sie aber ein in die Gesellschaft und engagiert sich dann mit ihrer Freundin Gohar in der Jungen Bewegung gegen Korruption.

Wie kamen Sie auf die Idee zum Roman?

Mir war zu Beginn meiner Romanidee vor allem die Geschichte der Figur Anusch präsent, sie ist die Urgroßmutter von Karine und eine der wenigen Überlebenden des Völkermords an den Armeniern. Ihre Erinnerungen an die Vertreibung, an die Wüste ist ein Kernstück, das ich in mir trug, seit ich 15 war. Schon damals wusste ich, dass ich darum herum einen Roman schreiben will.

In Ihrem Buch gibt es einige Parallelen zwischen Ihnen und Karine. Ist der Roman autofiktional?

Nein, "Aprikosenzeit, dunkel" ist Fiktion. Meine Protagonistin und ich teilen zwar die deutsch-armenischen Wurzeln. Identität ist schon ein Thema, das mir auf der Seele brannte für mein Debüt. Für meine Figur Karine erwachsen daraus viele Fragen für ihren Weg, ihre Selbstbestimmung, ihr Selbstbild. Die Figuren sind aber völlig fiktiv. Karine ist nicht ich, und sie agiert auch charakterlich völlig anders als ich.

Zweimal erlebt sie, dass der Genozid geleugnet wird. Ist das überzogen oder real?

Gespräche, in denen der Genozid geleugnet wird, erleben Menschen mit armenischen Wurzeln immer wieder.

Sie haben mehrere Monate in Armenien recherchiert. Wie war das für Sie, in das Land Ihrer Vorfahren zu reisen, das durch die Sowjetunion stark geprägt wurde?

Einerseits bereichernd, andererseits befremdlich. Es ist das Land, das für viele Armenierinnen und Armenier ein Sehnsuchtsort ist. Gleichzeitig ist es mit meinen Vorfahren und meiner persönlichen Geschichte nicht verbunden, weil meine Vorfahren dort gelebt haben, wo heute die Osttürkei ist. Insofern war es kein nach Hause kommen, sondern wirklich ein fremdes Land, aber eins mit vertrauten Elementen. Dass dort zum Beispiel Armenisch gesprochen wird, war sehr besonders für mich. Auch wenn sich das Ostarmenische in Armenien vom Westarmenischen unterscheidet, das ich spreche. Das hatte ich außerhalb meiner Familie in dieser Selbstverständlichkeit bis dahin nicht erlebt.

In Armenien angekommen, arbeitet Ihre Romanfigur Karine in einer NGO in Jerewan, die unter anderem den Handel mit Nachbarländern verbessern will. Die Türkei hatte die Landesgrenze 1993 aus Solidarität mit Aserbaidschan und den Kämpfen um Bergkarabach einseitig geschlossen. Armeniens Wirtschaft leidet darunter. Das Verhältnis zur Türkei ist außerdem angespannt, weil die Regierung den Genozid leugnet. Bald engagiert sich Karine gegen Korruption. Sind das aktuelle Themen in Armenien?

Im Roman sind es vor allem innenpolitische Probleme, mit denen einige postsowjetische Staaten zu kämpfen haben: oligarchische Strukturen, Korruption und Perspektivlosigkeit. Es sind Themen, gegen die die Jugend auch auf die Straße geht. Viele junge Menschen verlassen aber auch das Land, um sich woanders ein Leben aufzubauen. Natürlich hängt dies auch mit den geschlossenen Grenzen zusammen.

"Der Angriff auf Bergkarabach kam auch nicht so überraschend, wie es oft den Eindruck erweckt"

Und heute?

Bergkarabach wurde am 20. September von Aserbaidschan besiegt, einem Verbündeten der Türkei. Seitdem sind mehr als 100 000 Armenier aus Bergkarabach geflohen. Jetzt halten Experten für möglich, dass Aserbaidschan nach Bergkarabach auch Armenien angreift. Dahinter treten andere Probleme zurück.

Lassen sich die Vertreibung der Armenier vor mehr als 100 Jahren und die jüngste Vertreibung aus Bergkarabach vergleichen?

Sie weisen viele Parallelen auf, insbesondere weil die deutsche Regierung auch jetzt wieder wegsieht, aus geostrategischen Interessen heraus. Aserbaidschan ist ein wichtiger Gaslieferant, und wir wollen es alle schön warm haben im Winter. Der Angriff kam auch nicht so überraschend, wie es oft den Eindruck erweckt. Aserbaidschan hat Bergkarabach ja schon 2020 angegriffen, und spätestens als Aserbaidschan vergangenen Dezember begonnen hat, den Latschin-Korridor zu blockieren, also die einzige Verbindung zwischen Bergkarabach und Armenien, war das Ziel klar: ein Aushungern der Menschen.

Der große Aufschrei blieb aus.

Die Diplomaten und Politiker waren durchaus darüber informiert und äußerten sich monatelang nicht. Erst kurz bevor die Menschen in Bergkarabach dann auch noch bombardiert wurden, hat Deutschland gefordert, dass Aserbaidschan den Korridor öffnet. Da hatten die Menschen mit chronischen Erkrankungen aber schon monatelang ihre Medikamente nicht bekommen, die Fehlgeburtenrate war aufgrund der Mangelernährung enorm gestiegen, und die Menschen in Bergkarabach sind reihenweise vor Hunger in Ohnmacht gefallen. Unter diesen Voraussetzungen begann der Exodus und damit die ethnische Säuberung.

Und jetzt?

Jetzt, da Bergkarabach wieder von Aserbaidschan beherrscht wird, kündigte Frau von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin an, dass die EU 10,4 Millionen Euro für die Vertriebenen bereitstellt und noch mal 15 Millionen Soforthilfe für Armenien. Außerdem wird noch einmal scharf verurteilt, was Aserbaidschan getan hat. Aber wenn sie direkt gefragt wird, ob auch Sanktionen folgen, ist ihre Antwort nur: Wir haben es scharf verurteilt. Dadurch bricht für Armenier und Armenierinnen aus aller Welt das alte Trauma wieder auf.

Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

Sanktionen! Auch wenn mir bewusst ist, dass es die sogenannte Realpolitik gibt und dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine Deutschland Sanktionen erschwert, kann man ethnische Säuberung und Genozid nicht tatenlos hinnehmen. Ich hätte erwartet, dass die Bundesregierung schon 2020 genauer hinsieht, dann hätte man Abkommen mit Aserbaidschan an bestimmte Bedingungen knüpfen können. Denn natürlich zahlen wir jetzt einen viel höheren Preis, als wenn Deutschland gleich verantwortungsvoll gehandelt hätte.

Hat sich die politische Lage abgezeichnet, als Sie Ihren Roman angefangen haben?

Nein, ich bin völlig erschüttert, dass mein Roman mit den Erinnerungen an die Geschichte plötzlich brandaktuell ist. Das hatte ich mir beim Schreiben im Leben nicht vorstellen können, auch nicht, dass sich Deutschland wieder so zurückhalten würde. Das schockiert mich zutiefst - auch mit meinen deutschen Wurzeln, als Bürgerin dieses Landes.

Und als Politikwissenschaftlerin und Völkerrechtlerin?

Mir ist klar, dass Deutschland nicht jeden Konflikt dieser Erde lösen kann. Aber das hier ist kein Konflikt. Es wurden Menschen absichtlich von einem Partnerstaat der Europäischen Union ausgehungert! Aserbaidschan spricht an offiziellen Stellen davon, dass die Armenier der Tumor seien, den es zu entfernen gilt. Armenier werden als Ungeziefer bezeichnet. Wenn man das hinnimmt, senden wir eine Botschaft an die Diktatoren dieser Welt. Können wir noch ernst nehmen, wenn Deutschland das nächste Mal von Menschenrechten spricht? Zählen die Menschenrechte der Armenier weniger als die der anderen?

Infobox

Der Genozid an den Armeniern

In den Jahren 1915 und 1916 ermordeten und vertrieben Soldaten des Osmanischen Reichs gezielt Hunderttausende Armenierinnen und Armenier, die in der heutigen Osttürkei lebten. An der Spitze des multi-ethnischen Osmanischen Reichs stand zu dieser Zeit das diktatorische jungtürkische Komitee Einheit und Fortschritt, das im Ersten Weltkrieg seine eigene Macht und das wankende Großreich sichern wollte. Die Zahl der getöteten osmanischen Armenier schwankt je nach Einschätzung zwischen 300 000 und 1,5 Millionen. Eine noch im Osmanischen Reich von offizieller Seite mehrfach genannte Zahl beziffert die armenischen Opfer mit etwa 800 000. Das deutsche Militär ging zur gleichen Zeit von etwa der doppelten Zahl aus.

Das Osmanische Reich war im Ersten Weltkrieg einer der wichtigsten Verbündeten Deutschlands. Deutsche Diplomaten und Militärs im Osmanischen Reich wussten von der Vertreibung der armenischen Minderheit. Das geht aus einem Bericht hervor, den der damalige deutsche Botschafter in Konstantinopel, Hans Freiherr von Wangenheim, am 7. Juli 1915 nach Berlin schickte. Darin macht er sogar Vorschläge, wie verhindert werden könnte, dass das Ansehen von Deutschland durch den Völkermord in Mitleidenschaft gezogen wird.

2016 hat die Bundesregierung offiziell anerkannt, dass es sich um einen Genozid handelt. In der Türkei wird der Völkermord geleugnet.

Mehr Informationen zum Genozid an den Armeniern gibt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Bundesarchiv und dem Lepsiushaus in Potsdam.

 

Der Konflikt um Bergkarabach

Der Konflikt um das Gebiet Bergkarabach eskalierte durch den Zerfall der Sowjetunion zu einem Krieg. 1991 erklärte Bergkarabach, das überwiegend armenisch besiedelt war, die Unabhängigkeit von Aserbaidschan.

Im Krieg um Bergkarabach 1992 bis 1994 vertrieben armenische Truppen die aserbaidschanische Minderheitsbevölkerung und errichteten eine eigene Republik. International wurde der autonome Status allerdings nie anerkannt und das Gebiet blieb völkerrechtlich ein Teil von Aserbaidschan.

Im Herbst 2020 eroberte Aserbaidschan die umliegenden Regionen und einen Teil von Bergkarabach zurück. Im November kam es zu einem Waffenstillstandsabkommen und einer veränderten Grenzziehung. Doch befriedet war die Region damit nicht.

Ab Dezember 2022 blockierte Aserbaidschan den Latschin-Korridor und damit die einzige Verbindung von Bergkarabach zu Armenien. Dadurch kam es zu Hungersnöten und massiven Versorgungsmängeln. Am 19. September ließ der Diktator Ilham Aliyev die ausgehungerten Armenier in Bergkarabach angreifen. Bei dem Militäreinsatz sollen mindestens 200 Menschen getötet und mindestens 400 verletzt worden sein. Einen Tag später stimmten die ausgezehrten Armenier in Bergkarabach notgedrungen einer Feuerpause zu und Aserbaidschan erklärte den Sieg über Bergkarabach. In den Tagen danach flohen mindestens 100 000 Menschen nach Armenien und die selbst ernannte Republik Bergkarabach erklärte, sich bis zum 1. Januar 2024 aufzulösen.

 

Unterstützt wurde Armenien hauptsächlich von Russland durch militärische Aufrüstung, fühlte sich aber zuletzt im Stich gelassen. Aserbaidschans strategischer Partner ist die Türkei. Aus Solidarität zu Aserbaidschan schloss die Türkei bereits 1993 einseitig die Grenze zu Armenien.

Nach der Eroberung von Bergkarabach hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev zu dem "historischen Erfolg" gratuliert. Aliyev hat angekündigt, eine Straße in Bergkarabach bald in Enver-Pascha-Straße umzubenennen, einem der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern 1915.

Mehr Informationen dazu gibt es zum Beispiel bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Roller aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.