Trost lenkt den Blick nach vorn
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Trost lenkt den Blick nach vorn
Und nach oben: Er richtet auf. Und doch kann Trösten auch scheitern. Eine Geschichte von Liebe und Menschlichkeit.
Alessandra Schellnegger
25.03.2021

Auf einmal stand diese Flasche Wein auf dem Schreibtisch. Was sollte das? Es gab nichts zu feiern, im Gegenteil. Da war dieser furchtbare Fehler, der den Schlaf raubte und den Boden schwanken ließ. Der Chef tobte, der Magen zog sich zu­sammen. Ein Post-it-Zettel klebte auf der Flasche, mit Filzstift beschrieben: "Wir wollten Dir nur zeigen, wie sehr wir Dich schätzen. Die Kolleginnen und Kollegen."

Eine kleine Geste nur, und trotzdem änderte sie die Welt: Sie wenden sich nicht ab von dir, du bist nicht allein in der Katastrophe, es wird schon weitergehen, das Leben. Ein warmer Strom floss durch den Körper, Erinnerungen an mütterliches Umarmen und väterliches Schulterklopfen, an die vielen Trostgeschichten, die aufgeschrammte Knie und Latein-Fünfen, die Beulen im Auto wie Liebeskummer zu vorletzten Dingen machten und selbst den Tod nicht das letzte Wort haben ließen. Trost verfliegt ja nicht. Er ­sammelt sich an, als Vorrat für die Zeiten des Kummers.

Alessandra Schellnegger

Matthias Drobinski

Matthias ­Drobinski, Korres­pondent der "­Süddeutschen ­Zeitung", merkte in der Zeit der Corona-Kontakt­beschränkungen, wie viel Trost sich Menschen gegen­seitig geben können und wie viel Kraft daraus entsteht. ­Eine echte ­Ent­deckung!

Die Frage nach dem Trost stand lange Zeit unter Verdacht. Da will doch jemand möglichst billig vertrösten: Nimm es nicht so schwer, wird schon, Kopf hoch! Da sucht doch jemand etwas, das ihn, husch, über Schmerz und Trauer hinwegtröstet. Der selbstbestimmte Mensch braucht keinen Trost; er macht die Sache mit sich aus. Wer sich für unverwundbar hält, braucht ihn nicht, weil es für ihn Verlust und Schmerz nicht gibt.

Das Jahr der Corona-Pandemie jedoch, von der Fas­ten­zeit 2020 zur Fastenzeit 2021, hat die gegenwärtige ­Trostnot offenbar gemacht. Viele Tausend Menschen sind elend und einsam erstickt auf den Intensivstationen der Krankenhäuser, beerdigt wurden sie im "engsten ­Familienkreis", wie es beschönigend heißt – oft durften keine zehn Menschen dem Sarg, der Urne folgen. Noch mehr Menschen sind krank geworden, viele leiden immer noch an den Folgen der Infektion. Ein ganzes Land hat seine großen und kleinen Verluste erfahren, vom Ende des mühsam aufgebauten Geschäfts über die abgesagte ­Abiturfeier zur ausgefallenen, lang geplanten Reise. So viel unwiederbringlich ungelebtes Leben. 

Jeder ist verwundbar

Der Mensch ist ein trostbedürftiges Wesen. Der ­Philosoph Hans Blumenberg hat das geschrieben. Er sagt: In dem Moment, in dem der Mensch begreift, dass er sterben muss, in dem er über die Grenzen seiner Existenz nachdenkt und das unvermeidliche Leid im Leben – da braucht er die Fähigkeit, Trost zu spenden und Trost zu empfangen "als Form der Distanzierung von der Wirklichkeit". Nicht als Realitätsverweigerung, sondern um Mensch zu bleiben angesichts des Leids, der unüberwindbaren Grenze, des unvermeidlichen Verlusts.

Trösten zu können, Trost empfangen zu können, gehört für Blumenberg zu den Fähigkeiten, die den Menschen zum Menschen machen – weil er begreift, dass er verwundbar ist, und so der Untröstlichkeit entkommen kann, die ihn im Bewusstsein seiner Endlichkeit eigentlich überkommen müsste. Die indo­germanische Wurzel des deutschen Wortes "Trost" heißt "deru"; es bezeichnet das feste Kernholz, das den Baum im Sturm bestehen lässt, das hält und Halt gibt. 

Hiobs Freunde

Aber wie geht das, trösten und getröstet werden? Seit Jahrtausenden widmen sich Dichtungen und Erzählungen dieser Frage. Eine ihrer Antworten heißt: Das kann auch schnell mal danebengehen. In der Hiobgeschichte der ­hebräischen Bibel zum Beispiel. Hiob hat alles verloren, ­seine Familie, seinen Besitz; seine drei besten Freunde ­besuchen ihn, um ihn zu trösten. Vor dem Elend ihres Freundes zerreißen sie ihre Kleider, setzen sich zu ihm und schweigen, sieben Tage und sieben Nächte lang. Zwei großartige Ges­ten. Sie lassen sich ergreifen und tragen den Schmerz ihres Freundes mit, und sie halten den Mund im Angesicht der Not. Dann aber beginnen sie, Hiob zu erklären, warum ihn das Unglück so getroffen hat: Du wirst schon irgendwas getan haben, was Gottes Zorn erregte. Na toll: Trauernden sagen, dass sie selbst schuld sind.

Der römische Philosoph Seneca, vom Kaiser verbannt, der Hinrichtung entgegensehend, schreibt seiner betrübten Mutter Helvia, dass sie, wenn sie es nur richtig betrachtet, völlig zu Unrecht trauert. Nimms nicht so schwer, du bist nur traurig, weil du die Gesamtlage nicht so richtig verstanden hast, dein Schmerz hat keinen Grund und kein Recht – erzählt der Theologe und Schriftsteller Reiner Strunk in seinem gerade erschienenen Buch über die Geschichte des Trostes in der Literatur und der Bibel. Der so heldenhafte wie abgrundtief unwissende Parzival schließlich versäumt es auf der Gralsburg Munsalvaesche, dem kranken und leidenden König Anfortas die heilende Frage zu stellen: Wie geht es dir? Was ist los mit dir? ­ Er schweigt, wahrnehmungslos, trotz aller Hinweise. 

Haptisch und konkret

Dabei muss man nicht einmal Kindergartenkindern groß erklären, was das ist: Trost. Die Bildungswissenschaftlerin Karin Borck von der Fachhochschule Potsdam hat das erlebt, als sie im Sommer 2019 mit Studentinnen und Studenten eine qualitative Studie zum Trösten und Getröstetwerden startete. Karin Borck wollte wissen, wie Menschen die Kraft des Trostes nutzen, wann sie Trost brauchen und Trost spenden, in den verschiedenen Alters­stufen. Wie also erklärt man Kindergartenkindern, was Trost ist?

Eine Kitagruppe machte sich einige Gedanken, aber die Fünfjährigen wussten es von allein. Trost ist, wenn einen jemand in den Arm nimmt, vor allem die Mutter, wenn man jemanden hat, der einen an der Hand nimmt und leitet. Oder wenn man in der Traurigkeit an was Schönes denkt, den letzten Geburtstag: Man kann sich auch selber trösten.

Trost ist haptisch und konkret – und doch mehr als das. Die Kinder sollten ihrer Fantasie freien Lauf lassen und ein Trostwesen malen. Ein Mädchen malte ein hilfloses Baby, das aber wächst, fliegen kann und bunte Trösteaugen hat und Sand für schöne Träume – und eine Kugel, die zeigt, wer gerade Trost braucht; das hätte der tumbe Parzival gut gebrauchen können. Mit seinen leuchtenden Augen kann das Wesen auch sich selber trösten – trostlos kann man nur begrenzt ein Trost für andere sein. 

Traurigkeit braucht ihre Zeit

Die älteren Schulkinder sahen sich häufiger durch Gemeinschaftserlebnisse getröstet, aber auch durch Musikhören oder Sport, einen Sommertag im Schwimmbad; ein Junge malte einen großmäuligen Sorgenschlucker, ein anderer eine Axt – starke Helfer, die auch mal dreinschlagen können wie der große Bruder, den man holt oder erfindet, wenn die anderen auf dem Schulhof gemein sind. Die ­Jugendlichen brachten eine weitere Dimension des Trostes ins Spiel: Man darf die Traurigkeit nicht vorschnell wegblasen wollen und übertrösten. Sie braucht ihre Zeit. Ihr diese Zeit zu geben und genügend Raum, allein das schon tröstet. Also: traurige Musik an, ein anrührendes Buch gegriffen und ins Bett verkrochen, mit Tee oder warmer Milch mit Honig, Augen zu. Mach mal Pause, böse Welt.

Als Erwachsener ist man dann beides, trostbedürftig und tröstend, mal das eine, mal das andere, mal beides zugleich. Die Pfarrerin, von Berufs wegen professionelle Trösterin, wird von ihrem Mann verlassen; ihr hilft der Gedanke, nicht allein mit ihrem Schicksal zu sein, sie fühlt sich gehalten von ihrem Glauben, dass Gott auf sie aufpasst, auch wenn das die Dinge auf Erden erst einmal nicht besser macht.

Der Polizist, der mit seinen Depressionen kämpft, findet Halt bei seinen Hunden – und durchaus auch bei den Kumpels, die ihn mal in den Senkel stellen: Jetzt lass dich nicht so hängen. Die besorgte Umwelt­aktivistin tröstet sich mit ihrem Engagement, von dem sie nicht weiß, ob es die Welt retten wird. Karin Borck sprach mit dem Feuerwehrmann, der bei einer Massenkarambolage bei den Ersten am Unfallort war – und hilflos mit ansehen musste, wie zehn ­Menschen verbrannten. Man muss die Ruhe bewahren und sich auf die Arbeit konzentrieren, hat der Mann ihr gesagt. Getröstet habe ihn der Gottesdienst mit den Helfern und den trauernden Angehörigen, obwohl er gar nicht sehr gläubig sei. Das Schreckliche aber hatte einen Ort und eine Form gefunden und war nicht mehr grenzenlos. 

Die Wunde nicht zupflastern

Und da war noch jene Frau, die zwei schwerbehinderte Kinder großzog, die Karin Borck sagte: Ja, mein drittes, gesundes Kind tröstet mich, die Freundin, die ihr einfach mal eine Hühnersuppe kocht, ohne groß zu reden, der Arzt, der ihr sagte, dass sie sich nicht überfordern dürfe. Aber an­gesichts der Leiden ihrer Kinder tröste sie nichts, sie sehe keinen höheren Sinn darin. Auch das ist das gute Recht eines jeden Menschen: einer Trostlosigkeit nicht auszuweichen, sie nicht schönzureden, die Wunde nicht zuzupflastern.

Am schwierigsten hatten es die Trostforscherinnen und -forscher mit den alten Menschen. Über den Trost zu reden bedeutet ja auch, über Wunden, Schmerzen und Verletzungen zu reden, über den Tod der Partnerin, des Partners, den Bruch mit den Kindern, die Traumata der Kindheit und Jugend im Krieg, die schleichenden, nagenden, zerstörenden Krankheiten der Gegenwart. Der Tod ist nahegerückt. In den Interviews konnten sich dann auch hochbetagte Frauen und Männer noch sehr genau an die Situationen erinnern, wo sie getröstet wurden – und wo niemand da war, sie zu trösten; oft lag am Ende des Gesprächs ein ganzes Leben offen da. Einige erzählten, wie sehr es sie tröste, wenn sie selber trösten könnten. Andere, dass man sich auch kümmern müsse, durch die Pflege von Freundschaften oder auch den rechtzeitigen Umzug in die Altenwohngemeinschaft. Der Trost kommt nicht von selbst – man muss ihn suchen. Und man muss offen sein für den Trost der Tröstenden. 

Trösten kann daneben gehen

Trösten ist und bleibt ein Risiko. Es gibt keine Input-Output-Logik, keine Wenn-dann-Muster. Wer trösten will, riskiert, genau das Falsche zu sagen und zu tun, egal, wie gut es gemeint ist. Der Schlag auf die Schulter, verbunden mit dem Satz: "Nimm es nicht so schwer", kann genau die richtige Geste im richtigen Moment sein – oder verletzend wirken und ignorant. Der Satz: "Ich weiß, wie es dir geht", kann verlogen wirken, weil niemand wirklich wissen kann, wie es der Trauernden, dem Leidenden geht. Oder er kann als tröstende Botschaft angenommen werden: Ich versuche, mich in deine Welt hineinzuversetzen.

Die hingestellte Hühnersuppe kann als herrlich wortlose Aufmunterung begriffen werden, aber auch als übergriffige Überlegenheitsgeste: Koste mal was aus meiner heilen Welt. Und selbst der klügste Satz, die tiefste Anteilnahme, die beste Freundschaftstat kann daran scheitern, dass der oder die Trauernde sagt: Ich will jetzt nicht getröstet werden. 

Sich verletzlich machen

Wechseln deshalb so viele Leute die Straßen­seite, wenn sie einen Menschen sehen, von dem alle wissen: Die Partnerin ist gerade gestorben? Bleibt deshalb die Frage "Wie geht es dir?" so häufig nicht mehr als eine Floskelfrage in Erwartung einer Floskelantwort? Steht deshalb umgekehrt auf so vielen Trauerkarten: "Von Trauerbesuchen bitten wir abzusehen"? Wer echten Trost spendet, macht sich verletzlich, solidarisiert sich mit der Not des anderen, verzichtet auf den billigen ­Triumph, sich über das elende Gegenüber zu stellen. Aber auch wer Trost empfängt, zeigt sich bedürftig und ver­wundet, in all seiner momentanen Schwäche. Wer tröstet und wer getröstet wird, legt Panzerungen ab, verlässt die vorgesehenen Bahnen. Trost ist entwaffnend.

Wohl auch deshalb war er an den Rand des öffentlichen Bewusstseins gedrängt, bis die Pandemie den allgemeinen Trostbedarf offenbar hat werden lassen. Bedürftig sein, schwach, verwundet und verwundbar, das schien nicht opportun zu sein im Reich der großen Selbstoptimierung, in dem man nur seine inneren Kräfte aktivieren muss, um weiterzukommen – und wenn nicht, dann hatte man etwas falsch gemacht. Es könnte nun eine der positiven Nebenwirkungen dieser elenden Pandemie sein, die Trostbedürftigkeit als Ausdruck des Menschseins wiederzuentdecken und den Trost als große Kraft der Menschlichkeit. 

Das Gesicht der Erde wird neu

Die christliche Tradition hat ausgerechnet das anarchi­sche, das am wenigsten zu fassende Wesen des dreieinen Gottes fürs Trösten zuständig erklärt: den Heiligen Geist. Der weht, wo er will. Er wirft die Maßstäbe der Menschenwelt ein ums andere Mal über den Haufen und gibt der Erde ein neues Gesicht. Was die Gelehrten über die Jahrhunderte gedacht und überliefert haben, ähnelt doch verblüffend dem Trostwesen des fünfjährigen Mädchens im Kindergarten: schwach und stark zugleich, beflügelt und beflügelnd.

Der Trost lenkt den Blick nach vorne, nach oben. Er richtet auf. Komm her, Schicksal, auch wenn du uns den Tod bringen wirst: Du hast nicht das letzte Wort. Du kannst uns beugen, nicht brechen. Und das Gesicht der Erde wird neu.

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Trost spenden, das ist ein gegenwärtiger Akt von menschlicher Teilnahme an einem anderen, in der Berührung durch das Gespräch und körperlicher Nähe. Die besondere Qualität des Trost gebenden und zu empfangen, ist besonders wirksam, wenn eine gemeinsame Vertrauens Beziehung bereits länger besteht. Die menschlich notwendige Begegnung ist lebendige Gegenwart um den Blick nach vorne wieder öffnen zu können. Die Coronapandemie hat in besondere Weise gezeigt, wie in der Altenpflege Menschen sterben mussten - ganz allein- ohne Trost.

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