Ich war nur 
der Hirte
Christvesper mit Krippenspiel in der evangelischen Kirche in Grossstaedteln bei Leipzig an Heiligabend
Jens Schulze/epd-bild
Ich war nur der Hirte
Beim Krippenspiel wollte er so gern den Josef spielen. Eine Weihnachtsgeschichte zum Lesen und Vorlesen .
Alexander GruberPrivat
10.12.2019

Man hat mich gefragt, ob ich nicht eine der beliebten Weihnachtsgeschichten schreiben wolle, und ich habe Ja gesagt. Jetzt sitze ich da und merke, ich hätte Fragen stellen müssen: An welchen Rahmen ist dabei gedacht? Wer soll angesprochen werden? An welche ­Altersgruppe wende ich mich? Wie viel Vorwissen setze ich voraus?

Alexander GruberPrivat

Alexander Gruber

Alexander Gruber, 82, ist Autor und Übersetzer von Theater­stücken und Gedichten. ­Von 1975 bis 1998 war er Chefdramaturg in Bielefeld. Im Pendragon-Verlag erscheinen seine "Tiermärchen vieler Völker".

Zugleich steigen Erinnerungen an eigene Weihnachtserlebnisse auf: die Schlittenfahrt an Heiligabend, der Gang durch den Schnee in der Tannen­schonung, das Krippenspiel in der Kinderkirche – ein Beispiel. Wann ist das gewesen? War ich vier oder fünf Jahre alt? Genaue Zeitangaben ohne äußere Hilfsmittel oder Anhaltspunkte fallen dem Gedächtnis schwer. Jedenfalls – das weiß ich sicher – sollte meine Schwester die Jungfrau Maria spielen, das war von vornherein ­allen klar: Sie mit ihrem feinen runden Mädchengesicht, den großen dunklen Augen darin, anrührend durch den leichten Silberblick und die ins Kas­tanienbraun spielenden Haare, die ­unter ein schönes blaues Baumwoll­tuch geborgen wurden.

"Ich wollte Josef sein, oder der Hirte, oder der Engel"

Ich wollte Josef sein, na klar! Sie musste singen: "Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen mein Kinde­lein!" Und ich hätte recht garstig geantwortet: "Wie soll ich dir helfen, dein Kindlein wiegen? Ich kann ja kaum selber die Finger biegen." Aber für mich war ein Hirte vorgesehen und noch nicht einmal der, der mit dem Engel redet. Den Engel hätte ich auch spielen mögen, der recht aus Herzensgrund "große Freude" verkündet, "die allem Volk widerfahren wird". Da hätte mich keiner übertreffen können, denn der, von dem die Rede ging, lag ja noch als lebensgroße Stoff­puppe auf Heu und auf Stroh und konnte nicht sprechen. Aber der Engel war Waltraut, die beste Freundin meiner Schwester.

Vor der Tür hatte ich sie noch an den Haaren gezogen. Ein ­Engel, wenn auch geflügelt, war ­eigentlich männlich, und das war Waltraut mit ihrer Piepsstimme ganz und gar nicht. Oder, wenn ich der ­Engel nicht sein konnte, warum nicht ein Weiser aus dem Morgenland und ­Heiliger Drei König? Würdevoll wollt’ ich wohl sein und an alle die schönen Sachen und Reichtümer denken, die wir dabeihaben sollten, aber nicht ­zeigen konnten: die rassigen Pferde in ihrem funkelnden Fell unter kostbaren Satteldecken, die Diener unter leuchtenden Seidenturbanen, geschmückt mit Agraffen aus Edelsteinen und langen, wippenden Pfauenfedern und mit Goldgeschirr voller Substanzen und Düften wie im Weihnachtsgebäck: Zimt, Kardamom, Anis, Vanille, Nelken, Orangeat und Zitronat . . .

"Warum nicht gleich Ochs oder Esel?"

Dies alles, wenn auch bloß gedacht, hätte mir Würde verliehen, und der Engel hätte zu mir gesagt, dass ich nicht zu König Herodes zurückgehen sollte, dem elenden Kindermörder, der noch immer ob der Welt sitzt und sie grausig regiert, und dem Engel hätt’ ich gefolgt, auch wenn ich dann das Liedchen nicht hätte singen können unterm Stern: "Die Heiligen Drei Könige mit ihrem Stern, sie ­essen und trinken und bezahlen nicht gern." Ich war mucksch.

Warum nicht gleich den Ochsen, der Muh macht, oder den Esel, der sein Iah ganz süß und leise singt, um das Kind, das jetzt schläft, ja nicht zu wecken. Klar, dass man den neugierigen Hirten brauchte, wenn schon weder Diener noch Mägde um den Weg waren. Der hatte das Feuer hinter dem Hügel gesehen, wie der Schnee strahlte und funkelte, und war losgelaufen: Da war’s gar kein Feuer, es war ein Stern, und der Engel tanzte in seinem Schein so lustig und fröhlich, dass, wer es sah, mittanzen musste.

"Oder auch nur ein anspruchsloser Hirte"

Natürlich würde Waltraut nicht lachen und nicht tanzen vor lauter Ängstlichkeit, und womöglich würde ich ihr noch den Text ein­sagen müssen: "Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk ­widerfahren wird . . .!" Aber ich würde mich freuen und spielen, dass sie mich angesteckt hat mit Fröhlichkeit und nicht mit ihrem Lampenfieber, und würde mich umdrehen und die anderen rufen, während sie mit dem Schäfer redet. Ich würde allen zurufen und singen, so laut ich kann: "Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frau’n . . .", und ihnen sagen, wenn sie von den Seiten hereinströmen, die ­Eltern und die ganze Gemeinde: "Stellt euch vor: Friede! Friede! Friede für alle Menschen! Da, der Engel hat es gesagt." Mir würden sie glauben, auch wenn sie nur als Zuschauer dasitzen würden; und dann, mit einem Mal, wusste ich, dass der Hirte im Spiel so wichtig ist wie der Engel und die Könige mit ihren Kamelen und Pferden und die ganze kleine Familie im Stall: Ohne ihn, den gewöhnlichen kleinen und anspruchslosen Hirten, wäre nicht Weihnachten! Und den hab ich beim Krippenspiel begeistert gespielt. –

Und, ja, das ist meine Weihnachtsgeschichte!

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