Ich bin ein Anlassdichter
Ich bin ein Anlassdichter
Dirk von Nayhauß
"Ich bin ein Anlassdichter"
Er braucht die Welt, das Wegfahren ist seine Heimat, sagt der Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel. Und auf der Bühne glüht er.
Dirk von Nayhauß
22.10.2019

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Eigentlich bin ich ein großer Rationalist. Aber auf der Bühne glühe ich. Dort denke ich nicht viel, konzentriere mich auf das Wesentliche: das Lied und die Emotionen, die meine Band und ich erzeugen. Sicher hat das auch was Narzisstisches – man muss immer aufpassen, die Eitelkeit ist nicht umsonst eine Todsünde.

Haben Sie eine Vorstellung von Gott?

Ich habe ein pantheistisches Weltbild: Ich glaube, dass ­es ­einen Zusammenhang gibt, der außerhalb unseres ­Wissens steht. Groß geworden bin ich in einem atheistischen ­Elternhaus. Mein pubertärer Protest bestand darin, dass ich mich zwei Jahre mit der Bibel beschäftigt habe, und dabei entdeckte ich die Psalmen, die ich – in der Luther­übersetzung – noch immer für die größte Lyrik halte. Vor einigen Jahren habe ich Psalmen vertont und zum 39. eine Collage gemacht: "Wende von mir deinen Blick / Dass du spürst, wenn ich dir fehle, / was dann fehlt zu deinem Glück / Deinem Sinn und Deiner Seele." Ich finde, dass es ein großer Defekt ist, wenn wir uns nicht auf ein göttliches Prinzip beziehen. Das 20. Jahrhundert hat es ohne Gott versucht, und das ist überhaupt nicht geglückt.

Hans-Eckardt WenzelDirk von Nayhauß

Hans-Eckardt Wenzel

Hans-Eckardt Wenzel, geboren 1955, ist Lyriker und Liedermacher. Er zählte zu den Hauptautoren einer Resolution von Musikern, die Veränderungen in der DDR einforderten. 1989 trat er mit der Satire "Letztes aus der Da Da Er" auf, "einem dadaistischen Abgesang auf die Heimat". Seit den 90er-Jahren hat Wenzel mehr als 35 CDs veröffentlicht, zuletzt "Wo liegt das Ende dieser Welt" (matrosenblau). Er erhielt unter anderem den Deutschen Kleinkunstpreis und den Deutschen Kabarettpreis. Hans-Eckardt Wenzel ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt in Berlin und in Kamp, Vorpommern.
Dirk von Nayhauß

Dirk von Nayhauß

Dirk von Nayhauß absolvierte die Journalistenschule Axel Springer und studierte Psychologie in Berlin. Er arbeitet als Journalist, Buchautor und Fotograf (vertreten durch die renommierte Fotoagentur Focus). Für chrismon macht er die Interviews und Fotos der Rubrik "Fragen an das Leben".

Sehnen Sie sich nach der DDR zurück?

Nein. Ich sehne mich nur nach bestimmten Dingen, die man hätte übernehmen können. Zum Beispiel gab es einen anderen sozialen Zusammenhalt. Das lag daran, dass das Geld keine Bedeutung hatte in dieser Gesellschaft. Das war ein guter Zustand. Was mir auch gefiel: Man konnte in der DDR quasi nur oppositionell sein, wenn man klüger war als die Regierung. Jetzt kann man oppositionell sein, wenn man dümmer ist. Neonazis und die AfD sind dafür ein gutes Beispiel. Das intellektuelle Argument hat keine Kraft mehr in dieser Gesellschaft.

Wo ist Heimat?

Meine Heimat ist das Wegfahren, pro Jahr gebe ich etwa 100 Konzerte. Ich war mit der Band auf Kuba, habe in den USA und in der Türkei gespielt, im Kurdengebiet. Ich möchte etwas entdecken von dieser Welt. Ich bin ein Anlassdichter, ich sehe jemanden, laufe dem hinterher und überlege: Was ist das für einer? Welchen Beruf hat der wohl?

Welche Liebe macht Sie glücklich?

In einer Partnerschaft braucht jeder seine Geheimnisse. Alles, was wir kennen oder glauben zu kennen, erzeugt Langeweile. Wie bei Rumpelstilzchen: Sobald die Königstochter den Namen des Bösen weiß, hat es seine Kraft verloren. Mein Leben hat viele Brüche, ich habe mit vielen Frauen zusammengelebt und habe vier Kinder. Ich weiß nicht, wo es herkommt, aber es gibt manchmal den Punkt, an dem ich das, was eigentlich funktioniert, zerschlage.

"Schön sind nur die Sanften"

Muss man den Tod fürchten?

Nein, er gehört dazu. Ich versuche, so zu leben, dass es schnell passieren kann, ich schiebe wenig auf. Das ­Paradies – das sind die Erinnerungen der anderen. Wenn ich Gutes hinterlasse und die anderen gut über mich ­sprechen, ist das meine Unsterblichkeit. Das hat auch ­etwas damit zu tun, sich dienend einer Sache hinzu­geben. Bei Brecht steht die schöne Zeile: "Du weißt es: Wer gebraucht wird, ist nicht frei." Ein großer Gedanke. Unsere soziale Verantwortung muss die individuelle Freiheit ­definieren. Immanuel Kant.

Ist alles vergebens? Die Welt verloren?

Eigentlich ja. Wir werden die Arbeit und die biologischen Prinzipien, die den Menschen ausmachen, durch künstliche Intelligenz abschaffen. Das ist verheerend. Die Sinnlichkeit verschwindet. Wir müssen dem etwas entgegensetzen: ­Lebenssinn. Kürzlich saßen Eltern und ihr dreijähriges Kind mit mir im Zug, die Erwachsenen spielten an ihrem Handy herum, das Kind wollte mit ihnen sprechen, aber sie haben nicht reagiert. Was ist das für eine Sozial­erfahrung? Die ­gucken ihr Kind nicht mal an. Vielleicht merken ­jüngere Generationen: Wir sind in ein Instagram- und ­Facebook-Ghetto geraten. Dieses sinnlose Rumgewische auf einem Display! Irgendwann hat jede Droge ihre Funktion erfüllt, und dann langweilt sie nur noch. Hoffentlich.

Was können Erwachsene von Kindern lernen?

Es tut Kindern gut, wenn man sie lobt. Tadelt man sie, ­machen sie schnell zu. Erwachsene vergessen das oft, weil Sanftheit für sie keinen Effekt bringt. Man wird aber hässlich, wenn man etwas mit Macht durchsetzen will. Schön sind nur die Sanften.

Wenzel & Band live in Dresden, Konzertmitschnitt auf YouTube:

Permalink

Hans-Eckardt Wenzel lässt uns mit diesem Beitrag an so vielen klugen Gedanken teilhaben, dass ein Wider­spruch besonders ins Auge fällt. Oer Lyriker und Lieder­ macher bekennt sich zu einem pantheistischen Weltbild, versteht unter "Unsterblichkeit" aber lediglich die Er­innerung der Lebenden an den Verstorbenen. Wie passt das zusammen?
Uwe Tünnermann

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