Sorben
Hannes Jung
Sie ­greifen nach der Macht
Deshalb haben sie jetzt ein Parlament, die Sorben in der Lausitz: den Serbski Sejm. Eine Reportage über Menschen, die ihre Heimat nicht verlassen, sondern gestalten wollen.
David KrenzDavid Weyand
Jannis Keil
02.09.2019

Ein Festsaal, Fahnen und unbedingt Ernennungsurkunden. Die erste Sitzung plant Hanzo als ­Feierstunde. Er sagt: "Ein Parlament gründen, das machst du ja nicht jeden Tag." Es ist Oktober 2018, Hanzo Wylem-Keł, 49, sorbischer Politiker, fährt durch Branden­burgs berühmte Baumalleen, vorbei an Seen, die einst Kohle­löcher waren, in Orte mit zwei Namen auf ­den Schildern: Proschim/Prožym, Werben/Wjerbno. Wahlkampftour in der Lausitz. Seit 1400 Jahren lebt das slawische Volk dort, einen Serbski Sejm, ein sorbisches Parla­ment, gab es noch nie.

Ein Parlament der Sorben und Wenden gab es noch nie. Bei der konstituierenden Sitzung im Sorbischen Kulturzentrum Schleife im November 2018 singen die frisch gebackenen Abgeordneten die sorbische Hymne
60 000 Sorben und Wenden soll es geben, eine Hochrechnung von 1990. Eine "dusselige Zahl", meint Hanzo, bestimmt habe jeder zweite der 1,2 Millionen Lausitzer sorbische Wurzeln. In den Dörfern sieht er sie an den Briefkästen, die "Nowaks", "Wehlans" und anderen Namen, "die im Deutschen keinen Sinn ergeben". Dort hinein wirft er seine Falt­blätter. Dass manche hier nicht wissen, woher sie kommen, ärgert Hanzo, aber wundert ihn nicht. Generationen von Sorben schufteten für deutsche Lehnsherren, "man tat sie als dumme Bauern ab". Statt sich weiter abwerten zu lassen, wechselten Nachkommen die Sprache. Und in die deutsche Mehrheit.

"Schade, dass die dörfliche Kultur, der Zusammenhalt verloren geht"

Hanzo, lang und schlank, schleppt ­Bea­mer und Sejm-Aufsteller ins Gasthaus "Zur Linde" in Zahsow, 300 Einwohner, das an den stillgelegten NVA-Flugplatz von Cottbus grenzt. Er hat einen Vortrag gebastelt: über andere Regionalparlamente in Europa, gegründet je von einem "kleinen Haufen Verrückter". ­Waliser, Samen, Deutschbelgier. Dank ­ihnen kehre die walisische Sprache zurück, bestimmten die Samen nun über ­Bodenschätze mit, bauten die Deutschbelgier mit 400-Millionen-Etat eigene Schulen und Arbeitsämter. Das wäre die Überleitung zu den Sejm-Zielen. Doch hockt er Schlag sieben allein zwischen Plaste-Olivenbaum und dem Aquarium mit drei Goldfischen. 15 Euro Raum­miete zahlte er, verteilte 50 Einladungen im Ort. Vielleicht verspätet sich nur jemand. Er sagt: "Ich mache das auch für einen Gast."

34 Frauen und Männer kandidieren für 24 Sitze, zwölf für die Niederlausitz, zwölf für die Oberlausitz. Studentin Sophia Cyžec etwa. Sie entdeckte in zwei Amerikajahren ihr "Sorbischsein". Ein ehemaliger Sparkassen­angestellter will die Lausitzer Wirtschaft ankurbeln, "zehntausend Holzhäuser könnten neue Arbeitsplätze schaffen". Der Rentner aus Weißkeißel: "Schade, dass durch immer ­größere Strukturen die dörfliche Kultur, der Zusammenhalt verloren geht. Das ist der Punkt, der mich antreibt." Heiko Kozel, für die Linke in Sachsens Landtag, bringt sein Handwerkszeug als Anwalt ein. Edith Pjenkowa, 80, Älteste im Kandidatenkreis, kommt aus Rohne am Tagebaurand. Bei böhmischem Wind hört sie das Rasseln der Bandanlagen. Ihr Moorbirkenwald, "wie im russischen 
Märchen", fällt bald.

Die Uroma konnte noch auf Wendisch fluchen

Beim Registrieren der Wähler und Kandidaten galt: Sorbe ist der, der sich dazu bekennt. Hanzo, im Hauptberuf Energiebe­rater, hat ­hessische, thüringische, böhmische Ahnen – keine sorbischen. Im Ausweis steht "Hannes Wilhelm-Kell", den Namen slawisierte er: Hanzo Wylem-Keł. Als Praktikant bei wendischen Teichwirten und durch seine erste Frau, die ­Sorabistik studierte, rutschte er in die Kultur. Sie zogen aufs Dorf, da gab es riesige Hoftore, nie verschlossen, erzählt er. "Du schautest einfach rein und dir ­wurde ein Bierchen aufgemacht." So lernte er die ­Sprache, mit 25 Jahren.

"Fast 140 Ortschaften sind bereits in der Lausitz vernichtet worden – da sollte
nicht eine mehr dazukommen." Edith Pjenkowa, Alterspräsidentin des Sejms, in einer Erklärung zum Braunkohleabbau vom 18. Juli 2019
Zehn nach sieben öffnet sich in der Zah­sower "Linde" doch die Tür. Ein Mann und eine Frau, beide um die fünfzig. Vom Vortrag wissen sie nichts, sie sahen im Vorbeifahren Licht brennen, was selten vorkommt, seit die Wirtin offiziell in Rente ist. Hanzo ­wittert trotzdem zwei Wähler. "Sprechen Sie Wendisch?", fragt er die Frau. Die Uroma, die ­konnte das noch, vor allem fluchen. Um den Sejm vorzustellen, sagt er, sei er hier. "Die ­Leute sind eben politikmüde", sagt die Frau mit Blick auf die leeren Stühle. "Mit der ­Politik", ruft die Wirtin, "ich hab das bis hier." Sie schimpft sich in Rage; Merkel, die nur mit der EU und "ihren Ausländern" beschäftigt sei, die Rentenkluft West und Ost, "vierzig Jahre haben wir gepuckelt wie die Blöden!". Der Mann, Pils vor sich, nickt. "Du kannst dir die Köppe am Stammtisch heißreden", sagt er, "es gibt doch keenen, der was ändert. Da wirst du mit deinem Parlament och nüschts erreichen." In Hanzos höflichen Widerspruch prescht die Wirtin: "Und wo sind die Kinder? Alle im Westen, studieren!" Das wendische Zampern, bei dem die Jugend singend und scheppernd den Winter austreibt, "das machen wir Alten". Manche mit "Schiebekarre", Rollator.

Die Sejm-Leute sagen: Ein Kulturverein kann kein Volk vertreten

Das Wählerverzeichnis der selbst ernannten "demokratisch legitimierten Volksvertretung aller Sorben und Wenden" um Hanzo listet einen ­Monat vor der Wahl im November 2018 gerade einige Hundert Namen. Das Volk zweifelt. ­Dieses "Parlament" sei nur ein Verein, mit nicht mehr Rechten als die "Jugendclique vor der Cottbuser Stadthalle", sagen jene, die den Aktivisten nichts zutrauen. Andere trauen ihnen vieles zu: Spaltung, Separatismus. Am Ende wollen die ihren eigenen Staat!

Saalau/Salow in der Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft. Hier sind die Dörfer katholisch, die Messen sorbisch, lebt die Sprache an Gartenzaun und Abendbrottisch
Und dann gibt es ja auch noch die "Domowina": Der Dachverband großer sorbischer Vereine betrachtet sich als legitime Sorbenvertretung, auch gegenüber der Politik, hat 7000 Mitglieder. In Interviews nennt die Domowina-Spitze die Sejm-Ideen romantisch, populistisch, separatistisch. Und die Sejm-Leute sagen: Ein Kulturverein kann kein Volk vertreten.

Was also wollen Hanzo und seine Mit­streiter? Im Sejm-Flyer steht: eigene Ver­fassung, neuer Staatsvertrag mit Bund und Ländern, stärken der Minderheitenrechte ­regional und in der Welt. Mit selbstbestimmten Schulinhalten, eigener Hochschule, Rund-um-die-Uhr-Rundfunk die sorbische Sprache und Kultur "zu neuer Blüte" führen. Und, Punkt 7: "Nationale Wiedergeburt".

"Bald läuft unsere Kultur unter Folklore"

Laute Worte. Sonst hallen eher Abgesänge aus dem Sorbenland. Die Zahl muttersprachlicher Schüler schmolz seit 1994 um fast die Hälfte, Dutzende Lehrer fehlen. Mehr als 130 meist sorbische Dörfer verschwanden im Tagebau. Dem Rest Deutschlands fallen vielleicht noch hübsch verzierte Ostereier ein oder die gestärkten Trachtenhauben der Frauen. Bald läuft unsere Kultur unter Folklore, sagt mancher, als Touristenspaß.

Ramponiert wie ihr Stolz zeigt sich ihre Scholle, die Lausitz. Nicht nur die Krater und Staubgebirge der Tagebaue. Auch durchwucherte Fabrikgerippe, Gleisbetten ins Nichts, Relikte des Absturzes seit der Wende, 180 000 Lausitzer verloren ihre Arbeit. Die ­Abwandererprognose bis 2035: jüngst nach oben korrigiert.
Auf diesem Boden etwas zu neuer Blüte ­führen? Das kostet Vorstellungskraft.

Und Geld. Tankfüllungen nicht mitgezählt, verschlingt die Wahl rund 20 000 Euro, vor allem für Druck und Frankieren der Wahlunterlagen, der Sejm wird per Brief gewählt. Den Förderantrag lehnte die Stiftung für das sorbische Volk ab, politische Arbeit unterstütze sie nicht. So sammeln sie Spenden und zahlen das meiste selbst.

"Kein Fleck Erde soll weggebaggert werden ohne die Zu­stimmung des Sejms"

Leer gefegte Dörfer, Frust, Politikverdruss, nach einer Allensbach-Umfrage halten nur 42 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie im Land für die beste Staatsform. In diese Stimmung platzen die Sejm-Leute. Sie finden: Die Zeit ist günstig. "Fremdbestimmung ist der Punkt, an dem Leute sich nicht mehr mitgenommen fühlen", sagt Hanzo Wylem-Keł. "Ein Parlament gibt uns die Möglichkeit, ­unser Schicksal als Region selbst in die Hand zu nehmen."

Das Folkloreensemble Schleife kurz vor einem Auftritt. Dass die Jugend wegzieht oder sich für anderes interessiert, ist für das Sorbische die größte Gefahr
Sie wollen mit der Politik am Tisch sitzen, wenn es um regionale Wirtschaft, Agrar­fragen, Umwelt und Bergbau geht. Wie es ein Kandidat ausdrückt: "Es soll kein Fleck Erde mehr weggebaggert werden ohne die Zu­stimmung des Sejms."

Nicht nur Sprache und Kultur, gleich die ganze Lausitz retten? Klingt vermessen. Und zeitgemäß. Vielerorts wächst der Wunsch nach einer Politik, die Wirtschaft neu orga­nisiert, Ökologie in den Fokus rückt, in der sich Bürger eingebunden fühlen statt abgehängt.

Wie sie im Sejm arbeiten wollen? Keine Fraktionen, kein Abstimmen unter Zwang, bloß nicht den Bundestag kopieren. Stattdessen "systemisches Konsensieren": Bedenkenträger nicht einfach überzeugen oder überstimmen, sondern sich ihren Ängsten annehmen.

"Abbaggern, Umsiedeln, Sprachverlust – bei allem haben wir zugesehen"

Reibereien erwarten sie dennoch. Gerade mit deutschen Institutionen. Die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags konstatieren, "dass nach gegenwärtiger Rechts­lage kein Recht der Sorben und Wenden auf die Schaffung einer eigenen demokratisch legitimierten Volksvertretung in Form einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft bestehen dürfte".

"Natürlich hat das bestehende System keinen Bock drauf, dass die Sorben mehr Kompetenzen haben, wo die so schön ausgestorben sind", sagte ein Kandidat bei einem Workshop. Und móc, Macht: Wie gelangt man an sie, wie setzt man sie ein und ­richtet dabei möglichst wenig Schaden an? "Für mich hieß Macht in Verbindung mit dem Sorbischen immer nur Ohnmacht", sagte ein anderer. "Abbaggern, Umsiedeln, Sprachverlust – bei allem haben wir zugesehen. Darum geht es mir beim Parlament: ein Abschütteln der Ohnmacht."

Im Wahlkampf pendelt Hanzo zwischen zwei Lausitzen. In der brandenburgischen Niederlausitz, wo die Familie lebt, nennt sich das Volk auch "Wenden". Als Teil Preußens etablierte sich die deutsche Sprache, der Zustrom deutscher Bergleute und Fabrikarbeiter drängte das Sorbische weiter zurück. Südlich, in Sachsens Oberlausitz zwischen Kamenz und Bautzen, blieben Dörfer katholisch, die Messen sorbisch, lebt die Sprache an Gartenzaun und Abendbrottisch, kennt manches Kleinkind Deutsch nur von den Menschen im Fernseher.

Schlüsselwort: Selbstermächtigung

Dort, in Crostwitz, trifft Hanzo in einem Vierseithof auf seine Mitstreiter – und viele andere. Bestimmt 60 Leute drängen in den Saal. Sie erwarten einen Schlagabtausch. ­Dawid Statnik kommt, Chef des Dachverbands Domowina.
Auf dem abgetanzten Fischgrätparkett rückten sie die Stühle zum Kreis, doch die Fronten sind klar. Eine Seite bilden Vertreter der etablierten Strukturen: Statnik, einer ­seiner Vorgänger und die sächsische Sorbenratsvorsitzende. Die andere die Sejm-Kandidaten. Auf ins Wortgefecht.

"Wenn sich fünfhundert Menschen in eure Wählerliste eintragen, seid ihr dann wirklich der Meinung, das sorbische Volk hat gewählt?" – "Wir können mit unseren ­begrenzten Mitteln nicht jeden erreichen."

"Wir wählen ein Parlament ohne Kom­petenzen!" – "In fast jedem Volk hat sich erst ein Gremium gebildet, das die Gesetze dann einforderte", Schlüsselwort: Selbstermächtigung.

Der Crostwitzer Bürgermeister fragt, welche Befugnisse die Kommunen an den Sejm ab­treten müssten. "Keine", beruhigt ein Kandidat. Der ist selbst Bürgermeister, im Nachbardorf.

Bürger klinken sich ein. Ein älterer Herr: "Meine Enkel sprechen alle Sorbisch. Viele ­Sejm-Kandidaten nur Deutsch."

Ein Jüngerer stellt klar: "Ich bin neutral. Bei der Domowina kann ich nicht mit­wählen, wenn ich nicht Mitglied bin. Beim Sejm ginge das."

Ein weiterer Zuhörer: "Ich habe Angst, dass ich mit der Wahl die jetzigen Strukturen ­schädige."

Blau-rot-weiß: Die Farben der sorbischen Flagge
Bund, Sachsen und Brandenburg zahlen der anerkannten Minderheit 18,6 Millionen Euro im Jahr zur Kulturpflege. Die Stiftung für das sorbische Volk verteilt das Geld an Vereine, Projekte, Theater. Den Stiftungsrat bilden mehrheitlich deutsche Delegierte. Die Sejm-Leute sagen: Unser Volk soll entscheiden, wofür es das Geld ausgibt, zur Höhe mitreden. Das rechtlich durchzufechten, schaffe kein Verein, nur ein starkes Parlament.

"Ich war schon immer Patriot"

Noch eine Frage: "Was, wenn alles schiefgeht?" Ein Kandidat, ein Bauer, springt auf: "Dann haben wir es wenigstens versucht!"

Der Bauer heißt Ignac Wjesela, 25, hat ­rötliches Haar und die Hemdsärmel ge­krempelt, lebt auf dem Nachbarhof. Den kaufte der Urgroßvater. An einem verregneten Morgen, Tage bis zur Wahl, stapft Ignac in schmatzendem Matsch zum Traktor. Zwei Hänger Mais, gestern gedroschen, müssen zum Milchwirt nach Schwarzkollm. Bei ­Tempo 50 erzählt Ignac, wie er den Betrieb von null aufbaute, vom "Flächenkampf gegen die Konzerne". Doch Familie und Freunde liehen Geld, Gemeinden verpachten ihm Äcker, unterstützen ihn, den Jungbauern von hier.

Er gibt zurück. Päppelt als Biolandwirt die von Monokultur ausgelaugten Böden auf, was ihren Wert steigert. Auch weiß jeder: Der Ignac mit seinem Traktor, der transportiert dir mal eben ein paar Baumstämme. Als Braška nach sorbischer Sitte lotst er in Frack und ­Zylinder Traugesellschaften den Hügel ­hinauf zur Kirche, führt Regie auch für den Rest des schönsten Tages. Zuvor lädt er alle Gäste mit einem Verslein ein. Die Besuche nutzte er gleich zur Wahlwerbung.
Im Sejm wolle er die Lebensmittelver­sorgung der Dörfer stärken, "da sehe ich uns junge Landwirte in der Pflicht". Und verhindern, dass sich wiederholt, was 2003 bei ihm in Crostwitz geschah. Wegen Schülermangels schloss die Mittelschule, trotz langer Proteste und Briefe an den Papst. "Es kann nicht sein, dass ein Volk über die Schulen des anderen ­bestimmt." Er fuhr Bus zur Ralbitzer Schule. Wo er sich mit Jungs prügelte, die aus Coolnessgründen lieber Deutsch sprachen, erzählt er. "Ich war schon immer Patriot."

"Man kam in ihre ­Partys nicht rein"

Vor hundert Jahren wurden Kinder geschlagen, weil sie Sorbisch sprachen. Von Lehrern. Die Nazis germanisierten Orts- und Flurnamen, verboten Vereine, deportierten Pfarrer. Die DDR förderte das Volk als Vorzeigeminderheit, strafte aber unbequeme Sorben, die etwa das Abbaggern der Dörfer kritisierten, mit Haft oder Berufsverbot.

Zu vererbten Narben kommt manch neue: Gegnerische Fußballfans, die "SOR-BEN-PACK" brüllen, übersprühte sorbische Ortsnamen, 14 sorbenfeindliche Angriffe zählte Sachsens Polizei seit 2015. Im Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" schildert der Lausitzer Autor Lukas Rietzschel die Gewalt aus deutscher Sicht. "Da war auch viel ­sozialer Neid dabei, weil sie [die Sorben] in ihrer ­Gemeinschaft einen Halt haben und ihr Selbstbewusstsein verteidigen", sagte er der Sächsischen Zeitung. "Man kam in ihre ­Partys nicht rein."

Sorben sind eine anerkannte Minderheit. Ihre Straßenschilder sind zweisprachig
Dann, 3. November 2018, Stimmauszählung. 908 Wähler. Weit weniger als erhofft, zu viele, um jetzt aufzugeben. Mit Kugelschreiber und Buttermesser öffnen Wahlhelfer die Briefe, großes Rascheln, Wahlbeobachter aus Polen und Südtirol schleichen um den Tisch. Alle Augen auf den Wahlleiter. Er verliest das Ergebnis. Edith ist drin, kneift vor Freude die Augen zusammen, Forstbesitzer Christoph, dem als Kind die Mutter sagte: "Sei auch ein bisschen stolz auf das Wendische in dir", ­rinnen Tränen. Und Hanzo, der die meisten Stimmen aller Niederlausitzer Kandidaten er-hält: blickt aus seiner Ecke nur kurz vorm Laptop auf. Er tippt schon die Pressemitteilung.

Weltfremd wirken sie nicht

Fortan tagen sie jeden Monat, immer an einem anderen Ort. Feilen an ihrer Geschäftsordnung, bilden Ausschüsse, stimmen über Visitenkarten ab, klassisch oder klappbar. In den Zeitungen wird es stiller um sie. Schlagzeilen macht die Lausitz: Im Januar empfiehlt die Kohlekommission den Braunkohleausstieg bis 2038. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle schlägt Umzugsprämien vor, die Beschäftigten würden anderswo gebraucht. Im März rät dasselbe Institut in der Studie "Vereintes Land", besser in Städte zu investieren.

Sie mögen Romantiker sein, die Sejm-Abgeordneten. Weltfremd wirken sie nicht. Hinter all ihren Forderungen und Vorhaben steckt, scheint es, die Sehnsucht nach Gemeinschaft, nicht nach irgendeinem Gestern.
Ihr Versuch, ihre Heimat lebenswert – sie sagen "enkeltauglich" – zu gestalten, als Alternative zum Großstadtdasein: nah an der Natur und am Leben der anderen, jeder bringt seine Talente ein, alle sprechen eine Sprache, entscheiden das, was sie alle betrifft, zusammen und vor Ort.

Dorf heißt aber auch: Junge drängt es raus. In der Domowina-Hauptversammlung im März klagten Jugendvereine über Nachwuchsmangel. Nicht Diskriminierung oder Kohlebagger, eine Generation, die wegzieht oder sich für anderes interessiert, ist heute für das Sorbische die größte Gefahr. Vielleicht lässt sie sich eindämmen, mit neuen Jobs in der Region und Möglichkeiten zum Mitgestalten.

David KrenzDavid Weyand

David Krenz

David Krenz ­begleitete die Wahlkämpfer auch zu einem Termin in Cottbus, hinterher tranken alle im Bahnhof ein Bier. Ihr launiger Trinkspruch: ­"Auf die sorbische Weltherrschaft!"
Jannis Keil

Hannes Jung

Hannes Jung war insgesamt sechs Mal bei den ­Sorben, um sie zu fotografieren. Was er dort erlebt hat und welche ­Motive ihn besonders ­fasziniert haben, erzählt er in einer Audioslideshow: www.chrismon.de/sorben

Das Dorf Pretschen/Mrocna besann sich jüngst seiner slawischen Geschichte. In der Hoffnung auf Hilfe beim Auflebenlassen schrieb Herr Thiele, früherer Ortsvorsteher, an Hanzo. Der verlegte die April-Sejm-Sitzung her. Ihr folgt Herr Thiele mit Simultanübersetzer im Ohr, er lächelt, flüstert zum Reporter: "Notieren Sie: In Pretschen spricht man wieder Sorbisch. Zumindest für einen Tag." Ohne Gegenstimme beschließt die Gruppe ihren Antrag zum "sofortigen Ende des Braunkohle­bergbaus" und gerät bei der Frage ins Stocken, was damit nun geschehen solle. Edith berichtet aus Mühlrose, wo sie Verzweifelte besucht, die trotz Umsiedlungsvertrags der Kohle nicht weichen wollen. Ein Pfarrer bietet an, nach Muster seiner christlichen Schulen eine sorbische Privatschule aufzu­ziehen. Für den Start genügten ein bis zwei Lehrer, ein freies Gebäude und 20 Schüler, damit es sich rechne.

Eine erste Schulklasse. Trost für die Mühlroser. Ein beglückter Ex-Ortsvorsteher. Die großen Ziele, der Platz neben Ministern am Verhandlungstisch – sie sind vielleicht etwas für eine künftige Legislatur. Mag es mit der neuen Blüte dauern, etwas wächst in ihrem Austausch: Zuversicht. Wieder werden sie ­diskutieren bis tief in den Abend. Das Einzige, woran hier keiner mehr glaubt, ist ein pünktliches Sitzungsende.

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