Jugendbuch - Anna Woltz
Jugendbuch - Anna Woltz
Merlijn Doomernik/Carlsen Verlag
"Jetzt bin ich drin in meinem Leben"
Anfang des Jahres erschien ihr Erfolgsbuch "Für immer Alaska". Kurz davor wurde Anna Woltz Mutter. Hat sie noch Zeit zu schreiben? Fragen an die Jugendbuchautorin.
06.12.2018

chrismon: Ihr Sohn ist ein gutes Jahr alt. Was hat sich für Sie seither verändert?

Anna Woltz: Alles. Und das hatte ich auch gehofft. Ich habe mir schon lange ein Kind gewünscht. Bis ich meinen Sohn hatte, hatte ich das Gefühl, ich sitze im Wartezimmer. Aber jetzt bin ich drin in meinem Leben. Und ich erlebe es sehr intensiv, weil ich Single bin und meinen Sohn alleine aufziehe. Ich bin jetzt 36 Jahre, habe keinen Mann. Aber am Ende meines Lebens würde es mich wirklich traurig machen, kein Kind zu haben. Mir sollte auch niemand sagen, dass das alleine nicht geht. Heute ist das ja auch nicht mehr so ein Problem, es gibt viele Formen von Familie.

Bislang stand für Sie die Schriftstellerei im Mittelpunkt.

Ich habe mit zwölf angefangen zu schreiben und schon 22 Bücher geschrieben. Ich war absolut bereit dafür, dass etwas Neues das Wichtigste in meinem Leben wird. Ich liebe Bücher und Schreiben. Aber ich glaube nicht, dass das für ein erfülltes Leben reicht. Es ging so weit, dass ich, immer wenn ich in den letzten Jahren einen Preis für ein Buch bekommen habe, dachte: Wie schön, aber ich hätte lieber ein Kind. Jetzt habe ich das Gefühl von Erfüllung.

Kommen Sie noch dazu zu schreiben?

Es ist ein bisschen erschreckend, dass ich irgendwann wieder damit anfangen muss. Ich habe jetzt auch schon eine Geschichte im Kopf, aber noch nicht angefangen, sie aufzuschreiben. Früher habe ich wirklich 24 Stunden am Tag an einem neuen Buch geschrieben oder darüber nachgedacht und das auch geliebt. Manchmal bin ich mitten in der Nacht aufgewacht, weil ich plötzlich wusste, wie es weitergehen sollte.

"Für immer Alaska", 2018, 176 Seiten, 12 Euro

Und jetzt wachen Sie nachts auf, weil Ihr Sohn schreit?

Ja – gestern zum Beispiel um drei Uhr. Er hat gar nicht mehr aufgehört. Er zahnt gerade. Das hilft natürlich nicht gerade dabei, sich ein Buch auszudenken. Aber sogar wenn das noch ein paar Jahre so weitergeht, stört es mich nicht. Ich bin so glücklich, dieses Kind zu haben. Und gleich­zeitig bin ich sehr neugierig, ob sich meine Bücher ver­ändern werden.

Anna WoltzMerlijn Doomernik/PR

Anna Woltz

Anna Woltz wurde 1981 in London geboren und wuchs in Den Haag auf. Sie studierte Geschichte in Leiden und arbeitet seither als Autorin und Journalistin. In den Niederlanden und Deutschland sind ihre Bücher bereits vielfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis, dem Luchs des Monats, dem silbernen und goldenen Griffel. Nach ›Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess‹, ›Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte‹ und zuletzt ›Hundert Stunden Nacht‹ ist ›Für immer Alaska‹ bereits ihr viertes Buch bei Carlsen.

Inwiefern?

Bisher sind alle meine Bücher aus der Kinderperspektive geschrieben und ausdrücklich nicht aus der Sicht eines Erwachsenen, der auf seine Jugend zurückblickt. Ich ­habe angefangen zu schreiben, als ich zwölf war, und seitdem immer über Zwölf-, Dreizehn- oder Vierzehnjährige ­geschrieben. Über all ihre Gefühle und Abenteuer, die Schule, Freunde, die Beziehung zu den Eltern – immer aus ihrer Perspektive. In meinem wirklichen Leben hat sich die Perspektive geändert, seit ich Mutter geworden bin. Aber ich möchte mir die Kinder- und Jugendperspektive unbedingt erhalten. Ich mag diese Bücher nicht, in denen Erwachsene Kindern die Welt erklären.

Sie schreiben nun mal als Erwachsene für Kinder.

Die Perspektive, die ich einnehme, besteht zum Teil ­darin, mich zu fragen: Was macht Zwölfjährigen Spaß? Was würden sie gerne lesen? Welche Art von Abenteuer? ­Welche Protagonisten könnten sie interessieren? Ich sage mir also nicht: Oh, das und das läuft schief in der Welt, das muss ich den Kindern erzählen. Ich denke über die Welt nach, und das fließt dann in meine Bücher mit ein, aber erst mal geht es um den Thrill.

Anfang des Jahres erschien Ihr Buch "Für immer Alaska" über ein Mädchen, das seinen Hund "Alaska" weggeben muss, und einen an Epilepsie leidenden Jungen, dem ­dieser Hund dann hilft. Was war der Anlass dafür?

In einer Bibliothek hat mir jemand von einem kranken Kind erzählt, das einen Assistenzhund hat. Das ist doch etwas ganz Besonderes für ein Kind, einen eigenen Hund zu haben, sehr erwachsen. Normalerweise hat ja die ganze 
Familie ein Haustier, aber ein Assistenzhund ist für ein Kind ganz alleine da. Das hätte mir als Zwölfjähriger wahnsinnig gut gefallen.

Und dieses Kind litt auch an Epilepsie?

Nein, da war es ein Assistenzhund für ein autistisches Kind. Aber es gibt schon sehr gute Bücher über autistische Kinder, also musste ich eine andere Krankheit finden. Und dann stieß ich auf Assistenzhunde für Epilepsie.

"Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte", 2016, 176 Seiten, 10,99 Euro

Die einen epileptischen Anfall vorausahnen können. Das gibt es wirklich?

Ja. Man kann nicht erklären, wie sie das machen. Es ist wie Magie. Ich habe mit sehr vielen Epileptikern gesprochen. Sie haben mir erzählt, wie oft sie in der Notaufnahme ­waren, weil sie sich bei einem Anfall verletzt hatten. So wie Sven, eine der beiden Hauptfiguren in meinem Buch. Aber wenn ein Epileptiker einen Hund findet, der einen Anfall jedes Mal vorausahnt, hat sich das Thema Notaufnahme erledigt. Ich liebe Wunder in der Wirklichkeit.

Ihre Hauptfigur Sven ist wütend darüber, dass er plötzlich Epileptiker ist.

Das Interessante an Kindern ist doch auch ihre Hilf­losigkeit. Die wichtigen Dinge werden für sie entschieden. Schon die Geburt haben sie sich ja nicht ausgesucht. Sie haben sich ihre Eltern nicht ausgesucht und auch nicht die Umstände, in denen sie aufwachsen. Aber sie ­müssen ­damit fertigwerden. Und die meisten schaffen das auch sehr gut. Sie lieben ihre Eltern sogar, egal in welche ­Situation sie geraten.

Was ist so interessant an Wut?

Ich liebe Hauptfiguren, die nicht alles hinnehmen, die ihr Leben – wie sie können – selbst in die Hand nehmen und auch mal wütend auf ihre Eltern sind. Am Ende akzeptieren sie dann oft die Tatsachen, mit denen sie konfrontiert werden – aber nicht als Opfer, sondern als richtige Person.

Parker, das Mädchen, das seinen Hund weggeben muss, hat gesehen, wie der Vater bei einem Überfall auf sein Fotogeschäft angeschossen wird. Wie kommt man auf so was?

Ich bin in den 1980er, -90er Jahren aufgewachsen, als wir dachten, wir sind wirklich auf dem Weg zum Weltfrieden. Ich hatte kaum je von Terrorismus gehört, außer vielleicht von ein paar Attacken auf Einzelne. Kinder sind ja schon die Spielbälle ihrer Eltern, aber erst recht Spielbälle in ­diesem viel größeren Machtspiel. Ich habe mich gefragt, wie es sein muss, in einer Zeit aufzuwachsen, in der es so viele terroristische Anschläge gibt. Ich habe mit vielen Kindern in Schulen darüber gesprochen. Sie sind ge­wissermaßen an Terrorattacken gewöhnt. Sie sagen: Ja, wir haben Angst, aber sie verdrängen das Thema. Ich dachte, es kann helfen, wenn das mal auf den Tisch kommt.

"Alaska" ist auch eine Geschichte über Inklusion.

In der Schule dreht sich doch alles darum, ob man zur Gruppe gehört oder nicht. Das ist ein Monster mit Regeln, die nirgendwo festgeschrieben sind, aber dennoch ­gelten. So habe ich es jedenfalls erlebt. Die sozialen Medien ­verstärken das. Es geht um Likes, die man zählen kann. Beliebt sein oder nicht, schräg sein oder normal – darum ging es schon immer, aber jetzt liegt das noch klarer auf der Hand. Die meisten meiner Bücher feiern es aber, nicht so ganz normal zu sein.

"Für immer Alaska" auch?

Ja. Jemand filmt Sven in der Schule bei einem epileptischen Anfall mit dem Handy und schickt diesen Film in der ganzen Schule herum. Für ihn der Tiefpunkt. Aber am Schluss bringt Parker alle Schülerinnen und Schüler in ­ihrer Klasse dazu, sich selbst bei etwas Schrägem zu filmen und das an die anderen zu schicken. Sie macht selbst den Anfang. Ich dachte früher immer, ich bin sehr besonders – wenn ich es positiv sehen konnte. Kritisch betrachtet hielt ich mich für total schräg, dachte, ich gehöre nicht dazu, habe viel zu andere Interessen als die meisten. Erst als ich erwachsen war, habe ich herausgefunden, dass sich alle in ihrer Teenagerzeit daneben gefühlt haben. Das gehört einfach zum Teenagersein dazu. Es ist so schade, dass einem das in dieser Zeit nicht klar ist, denn dann wäre es viel leichter, mit der Pubertät umzugehen.

"Hundert Stunden Nacht", 2017, 256 Seiten, 15,99 Euro

Sven ist aber wirklich krank.

Das stimmt. Er sagt auch zu Parker: Ihr könnt euch aussuchen, ob ihr schräg sein wollt, aber ich kann meine Epilepsie nicht aufhalten. Seine Krankheit ist sozusagen die härtere Spielart von Anderssein. Aber grundsätzlich müssen alle in seiner Klasse mit dem Gefühl fertigwerden.

Was hilft Jugendlichen, andere zu akzeptieren?

Bücher, Lesen, Literatur. Das ist eine sehr gute Art, in ­eine andere Person zu schlüpfen. Natürlich hilft es auch, sich mit verschiedenen Menschen zu unterhalten. Aber ­erstens sind Andersdenkende nicht immer verfügbar. Und ­zweitens hat eine Neunjährige meistens keine sehr tiefgehende Unterhaltung mit einer anderen Neunjährigen. Aber sie kann ein Buch mit weisen, tiefen Gedanken lesen. Die meis­ten Kinder merken wahrscheinlich nicht einmal, dass sie mehr über andere Menschen lernen, während sie ein spannendes Buch lesen. Aber genau so ist es.

Fast alle Ihre Bücher handeln von Kindern auf der Schwelle zur Pubertät. Was interessiert Sie so an diesem Alter?

Es sind nicht mehr nur Kinder, aber auch noch keine richtigen Teenager. Sie haben noch die Weisheit von Kindern. In gewisser Hinsicht sind Kinder ja weiser und erwachsener als Teenager. Wenn die Hormone einschießen, ändert sich alles. Für Teenager ist die Peergroup das Wichtigste. Und sie gehen Risiken ein, an die Kinder nicht einmal im Traum denken würden. Als Kind habe ich ein kleines Buch an mich selbst angefangen. Ich wollte es meiner Mutter geben, die es mir wiedergeben sollte, wenn ich älter sein und eventuell trinken und rauchen würde und anderes mehr. Ich wollte meinem älteren Selbst Ratschläge geben, weil ich schon wusste, dass ich zu diesem Zeitpunkt viel vernünftiger war als mit sechzehn. Mich interessiert die Übergangsphase, wenn Kinder in gewisser Weise immer noch vernünftig sind, die Hormone aber auch schon mitspielen. Wenn sie sich zum Beispiel zum ersten Mal richtig verlieben.

Sie schreiben für Zehnjährige über die Liebe?

Bei Erwachsenen geht es dabei natürlich immer auch um Sex und Lust. Für Kinder ist Liebe, es einfach sehr zu mögen, wenn jemand anders da ist, immer mit ihm zusammen sein wollen. Oder jemanden einfach anschauen. Als ich vier war, war ich in einen Jungen namens Michiel verliebt. Meine Mutter fragte mich, ob ich denn mit ihm spielen würde, und ich antwortete: Nein, ich gucke ihn nur an. Und als ich elf war, war ich total verliebt in einen zwölfjährigen Jungen. Er sollte dann die Schule für immer verlassen. Ich ging die Treppe hinunter, und er kam noch einmal zurück, hatte vielleicht etwas vergessen. Jedenfalls berührten sich auf der Treppe unsere linken Arme kurz. Ich bin Linkshändlerin und er auch. Jahrelang war das das Romantischste, was es für mich gab. Ich dachte jeden Abend daran. Und wenn ich für Zwölfjährige über Liebe schreibe, ist mir das immer präsent.

Sven denkt darüber nach, wie einfach es ist, einen Hund zu streicheln im Gegensatz zu einer Mädchenschulter.

Ja, das ist so ein Moment. Das ist doch wunderschön. Es ist natürlich ein Klischee, Kinderliebe reiner zu nennen, und ich glaube auch nicht, dass Sex schmutzig ist, aber die ­Liebe von Kindern hat etwas ganz Einfaches. Kinder finden Zungenküsse eklig – die Spucke von jemand anderem im Mund zu haben, ieeeh! Jemanden einfach nur anzuschauen, mit ihm zu reden, vielleicht sogar Freunde zu werden, ist alles, was man sich für lange Zeit wünscht. Wenn ich für Erwachsene schreiben würde, wäre es ­eine Herausforderung für mich, über Sex zu schreiben. Es gibt so wenige Bücher mit wirklich guten Sexszenen. Als Kinderbuchschriftstellerin habe ich dieses Problem aber nicht. Wenn ich für Zehnjährige über Liebe schreibe, bin ich zehn. Die Begrenzungen sind dann normal. Sex ist kein Thema. Es geht nur um linke Arme, die sich kurz streifen.

"Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess", 2018, 176 Seiten, 5,99 Euro

Sie haben als Kind bestimmt viel gelesen.

Ja. Die Hauptfiguren meiner Lieblingsbücher waren in gewisser Weise lebendiger für mich als meine Freunde. Freundschaft ist sehr wichtig für Kinder, aber sie geht meistens nicht so tief. Es geht hauptsächlich darum, zusammen zu spielen, Zeit miteinander zu verbringen. Aber mit meinen Lieblingsfiguren hatte ich eine viel tiefere ­Beziehung. Ich kannte sie besser als die meisten Mädchen in meiner Klasse.

Welche Bücher waren früher wichtig für Sie?

Zum Beispiel "Ronja Räubertochter". Ein großartiges ­Beispiel für ein Mädchen, das sein Leben wirklich in die ­eigenen Hände nimmt. Und dann auch noch mitten im ­wilden Wald. Alle Kinder lieben das Abenteuer. Astrid Lindgrens Bücher sind erstaunlicherweise immer noch modern. Ein anderes Buch, das ich sehr mochte, ist für heutige Kinder altmodisch. "Anne of Green Gables" von L. M. Montgomery. Aber ich liebe es immer noch. Anne hat eine lebhafte Fantasie, denkt sich immer Geschichten aus. Ich fing an, eigene Geschichten zu erfinden. Ich wollte so sein wie sie. Das war der Beginn meines Schriftstellerlebens. Das Buch wurde 1908, also vor 110 Jahren geschrieben. Das ­ fasziniert mich.

Wie wichtig sind Witz und Humor in Kinderbüchern?

Sehr wichtig. Kinder sagen doch immer, sie wünschen sich spannende und lustige Bücher. Ich glaube, sie mögen auch die tieferen Schichten, aber sie wissen nicht, wie sie das sagen sollen. Das gilt besonders für Bücher, in denen es um ganz schwere Themen geht, um Scheidung, Krankheit, Mobbing oder die Suche nach einem unbekannten Vater. Es müssen aber trotzdem keine traurigen Bücher sein.

Wie soll man leben?

Einfach. Einerseits bin ich sehr gut darin, andererseits auch wieder nicht. Ich hätte gerne eine Beziehung, die für immer hält. Ich bin eine Romantikerin. Ich weiß, dass es schiefgehen kann, aber ich würde es wenigstens gerne einmal so angehen. Trotzdem genieße ich das Leben.

Produktinfo

Von Anna Woltz im Carl­sen-Verlag bislang erschienen:

"Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess", 2018, 176 Seiten, 5,99 Euro

"Hundert Stunden Nacht", 2017, 256 Seiten, 15,99 Euro

"Gips oder Wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte", 2016, 176 Seiten, 10,99 Euro

"Für immer Alaska", 2018, 176 Seiten, 12 Euro

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