23.05.2022

Liebe Leserin, lieber Leser,

gehören Sie zu denen, die denken, Corona sei so gut wie vorbei? Dann waren Sie länger nicht in einem Krankenhaus. Dort, wo die Verletzlichsten liegen - mit einer Krebsdiagnose, mit einem kranken Kind oder hochbetagt - herrscht immer noch Corona-Krisenstimmung.

Als ich letzte Woche meine 92-jährige Mutter in einer geriatrischen Rehaklinik im Schwarzwald besuchte, brauchte es trotz dreier Impfungen einen tagesaktuellen Test. Und als unsere Fotografin Sandra Stein im Kölner Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße den onkologischen Chefarzt porträtierte, durfte sie nur draußen im Freien arbeiten. Der Arzt erzählte mir, wie brutal Corona das Leben in der Kinderklinik verändert hat. Als ob eine Krebsdiagnose für junge Eltern nicht schon schlimm genug wäre! Durch Corona waren Mütter und Kinder total isoliert, selbst die engagiertesten Väter und die gesunden Geschwister plötzlich außen vor. Zwei Mütter haben wir, als sie endlich rausdurften, zum Interview im Café getroffen. Es flossen Tränen. Regelrechte Löwinnen sind das, Mütter mit einer unglaublichen Energie. Diese traurige Geschichte hat ein Happy End: Beide Kinder wurden nach fast einem Jahr Chemotherapie als geheilt entlassen - feierlich verabschiedet mit Glockenschlag und La-Ola-Welle.

Das Leben "drinnen" macht dünnhäutig. "Offensichtlich bin ich durch die Krankheit überempfindlich geworden, wenn ­irgendwer aus welchen Gründen auch immer glaubt, mich schonen, beschützen oder bemuttern zu müssen", schreibt die Klinikseelsorgerin Karin Lackus, die nun selber erkrankt ist. Gerade noch war sie auf großen Konferenzen, jetzt wird sie schon aus dem Mailverteiler gestrichen. Und die Rehaklinik schreibt im Einladungsbrief allen Ernstes, sie möge die Beipackzettel von den Pillenschachteln mitbringen - als sei sie nicht mehr richtig zurechnungsfähig. Frau Lackus schreibt für uns den Blog "Krankenstand" - und genau das finden wir gut: dass sie empfindlich geworden ist. Das "über" kann getrost gestrichen werden. Karin Lackus ist zu Recht gekränkt, wenn die Pflegerin vom "Schätzelchen" spricht. Und wütend auf Impfgegner*innen, die ihr als Krebspatientin das Leben schwermachen.

Übrigens kann sie auch nicht nachvollziehen, wenn über die "Schulmedizin" geschimpft wird. Dass dieses Wort - ohnehin schon seltsam, wo sonst soll Medizin gelehrt werden als an Hochschulen - von den Nazis missbraucht wurde, besprechen wir in meinem Podcast "Sprachstunde".

Ich wünsche Ihnen - nein, nicht das depperte "Bleiben Sie gesund", denn das liegt nicht immer in unserer Hand. Ich wünsche Ihnen: Bleiben Sie empfindlich!

Ihre

Ursula Ott

Chefredakteurin

PS: Am 8. Juni, 12 bis 12.45 Uhr, findet das nächste chrismon-Webinar statt. Thema: "Du bist schön". Mit der Influencerin Melodie Michelberger und Pädagogin Sigrid Borse vom Frankfurter Zentrum für Essstörungen. Einfach hier anmelden.