Eine Frau steht im Kleid vor einem schlossähnlichen bunten Gebäude
Moskau Summer School Sarah Zapf
Sarah Zapf
Sind die DDR-Erfahrungen etwa vergessen?
Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist auch in meiner Heimat Sachsen plötzlich eine Sympathie gewachsen, die vorher so nie da war - und mit ihr kommen hitzig geführte Debatten.
Julian Leitenstorfer
10.08.2023

24. Februar 2022, ein Donnerstag. Ich sitze mit meiner Kommilitonin Viktoria im Zug, vor ein paar Minuten sind wir in der Nähe von Templin mitten in Brandenburg nach einer anstrengenden Drehreise für einen Kurs an der Journalistenschule eingestiegen. Ungläubig schaue ich auf meine Meldungen, die über den Newsticker auf meinem Handy einlaufen: „Russische Truppen sind in die Ukraine einmarschiert“. Viktorias Familie kommt ursprünglich aus Polen, sie trifft es wie ein Schlag. Krass, meine ich. Ich konnte das wie so viele andere in dem Moment nicht wirklich begreifen, ein gewisser Unglauben war wohl auch dabei. 

Seitdem dauert der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine fast eineinhalb Jahre an. Der Moment hat sich jedenfalls bei mir tief eingeprägt, ähnlich wie bei meiner Familie wohl der Mauerfall, nur dass die Ereignisse eine andere Dramatik und Intention besaßen - und die zum Westen orientierten Reformen von Gorbatschow, die anhaltende DDR-Wirtschaftskrise und die Massenflucht der eigenen Bürgerinnen und Bürger rückblickend wohl das Zünglein auf der Waage eines sowieso miserablen Staatszustands waren.

Im Russland-Ukraine-Krieg sind seit jenem Tag mindestens 62.000 Menschen ums Leben gekommen, vermisst werden weitere 15.000. Geflüchtet sind mehr als 17 Millionen Menschen. Für mich sind das unvorstellbare Zahlen.

Sympathie im Osten

Mit dem Krieg hat sich auch eine Debatte um die Rolle von Ostdeutschland entfacht, besonders um die Menschen dort und ihre mehr oder weniger besondere Beziehung zum Machtinhaber Putin und Russland im Ganzen. Da wird der Osten dann gerne mal als großer Sympathisant der ehemaligen UdSSR, dem „Großen Bruder“, gesehen und verschiedene Medien versuchen seither diesen einen Typus Mensch dort zu analysieren, der sich am liebsten in einer ablehnenden Haltung aus dem Krieg heraushalten würde, auf der Straße mit Russland-Flaggen und Bannern gegen die Kriegspolitik der Bundesrepublik, für „Friedensverhandlungen“ demonstriert und sich durch eine Anti-Haltung gegenüber Waffenlieferungen profiliert. 

Als Nachwendekind ohne DDR-Erfahrungen würde ich gerne behaupten, dass diese Sympathien mit Russland im Osten nur ein weiteres Klischee unter vielen sind. Dafür müsste ich aber stattgefundene Gespräche schlichtweg ausblenden.

In Sachsen wurde in meiner Familie und im Bekanntenkreis jedenfalls mehr oder minder hitzig diskutiert, nicht nur bei Familientreffen. Auch in vermeintlich neutralen Freizeitaktivitäten meiner Mutter, wie der wöchentlichen Keramikwerkstatt im Kulturzentrum meiner Heimatstadt, entfachten Streitgespräche zwischen Menschen, die sonst eigentlich gut miteinander auskommen. Skepsis und Misstrauen gegenüber „dem Westen“ hatten einige schon davor, nun mischen sich andere Töne unter -  Russland sei doch ein Teil der eigenen ostdeutschen, von der DDR geprägten Identität, Selenskyj solle sich endlich an einen Tisch mit Putin setzen und auf Augenhöhe diplomatisch verhandeln. Putin sei für viele gar der „Retter“. Doch Retter vor was? Immerhin vier von zehn Ostdeutschen sehen laut Umfragen vergangener Jahre in dem Kreml-Chef keinen Diktator. Und ein Viertel sieht sich zudem kulturell eher zu Russland hingezogen als zu den USA - für mich in Teilen sicher nachvollziehbar, schließlich haben einige Menschen längere Zeit in der DDR gelebt als in der wiedervereinigten Bundesrepublik und sind deshalb geprägt.

Einst Feind, nun Freund

Insbesondere meine Mutter ist von solchen „Putin-Freunden“ und vermeintlichen „Russland-Verstehern“ seit Ausbruch des Krieges stark irritiert - gerade auch, weil die einstige „Völkerfreundschaft“ zwischen der DDR und der Sowjetunion staatlich verordnet auf dem Papier existierte, aber von vielen DDR-Bürgerinnen und Bürgern eher belächelt oder kritisiert wurde. Die Liebe zum „Großen Bruder“ war bei den wenigsten wirklich innig. Und nur weil man einst jahrelang verpflichtenden Russisch-Unterricht hatte? Oder man Beitragsmarken ins Mitgliedsheft der Gesellschaft der deutsch-sowjetischen Freundschaft einklebte, um am Ende eine Prämie zu erhalten?

Diese plötzliche Verbundenheit zu Russland, die etliche in der DDR gar nicht hatten, bestürzt meine Mutter offensichtlich, wie ich immer wieder in Telefonaten feststellen musste. Ob die denn mehr als vierzig Jahre DDR-Erfahrung plötzlich vergessen hätten, mit den stationierten Sowjetsoldaten, die damals eher als Besatzer und nicht etwa als Freund gesehen wurden? Und sie nicht sehen würden, wie das eigene Volk unter Putin leidet, wie Demonstranten von jetzt auf dann verschwinden? Für sie ist Putin zweifellos ein Verbrecher, der sich als skrupelloser Diktator in die Reihe der Machthaber Xi Jinping und Kim Jong-un einfügt. Mit so einem Menschen könne man einfach nicht diplomatisch verhandeln. Verblendet seien alle, die so denken würden.

Freimachen von den DDR-Erfahrungen anderer

Ich war im August 2018, genau vor fünf Jahren, tatsächlich für drei Wochen in Russland. Lange vor dem Angriffskrieg. Aus reiner Neugier und dem kulturellen Interesse für ein Land, das ich oft nur mit der DDR und der Sozialisierung meiner Familie in Verbindung brachte, meldete ich mich für eine akademische Summer School an - mit einem immerhin einwöchigen Russischunterricht, aus dem mir nur noch einzelne Wortbrocken hängen geblieben sind. Vermutlich in etwa so viel, wie meine Mutter aus vielen Jahren Russischunterricht mitgenommen hat - sie würden keine zehn Pferde nach Moskau ziehen.

Für mich als Nachwendekind war diese Erfahrung, wenn auch nur kurz, insofern wertvoll, dass ich mich auch von dem starken Meinungsdiskurs von Bekannten und Familie mit DDR-Erfahrung ein Stück weit freimachen darf. Ich habe die Sowjetunion, den „Großen“ Bruder, von einigen gehasst, von anderen geliebt, selbst nicht kennengelernt. Ich bin im wiedervereinigten Deutschland in aller Freiheit aufgewachsen. Ich kann nur nachempfinden, wie es den Menschen gegangen sein mag und wieso sie heute in die eine oder andere Richtung denken. Beurteilen kann ich es nicht wirklich. Das ist ein Stück weit befreiend - unabhängig davon, dass der Krieg Russlands in der Ukraine ohne Frage verbrecherisch und grausam ist.

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Russland führt seit 2014 Krieg gegen die Ukraine, nicht erst seit dem 24.2.2022. Leider wollten das viele Deutsche nicht wahrhaben, sonst wäre die Situation jetzt sicher eine andere. Und die Sympathie bei vielen Ostdeutschen ist auch nicht plötzlich entstanden - auch 2014 gab es ähnliche Debatten. Ich erinnere mich noch gut an einen ganzseitigen Essay von Ingo Schulze in der SZ.

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