Großes Kirchgebäude mit Turm von außen
Außenansicht der St. Annenkirche in Annaberg-Buchholz
Sarah Zapf
In luftiger Höhe
Fast 79 Meter hoch, ganze 211 Stufen. Der Kirchturm der St. Annenkirche überragt meine Heimatstadt. Dieser sakrale Ort ist für mich ein Ankerpunkt - und hat einiges zu bieten
Julian Leitenstorfer
24.08.2023

Die braunen Holztreppen knarzen, als ich flink am Geländer entlang nach oben renne. „Wer zuerst oben ist, hat gewonnen“, höre ich meinen Bruder, der sich an mir vorbeischlängelt. Dabei hat er Höhenangst. Ich versuche nun immer zwei Stufen auf einmal zu nehmen. 178 sind es bis zum Aussichtspunkt. Nach einigen Zwischenetagen, in denen alte Gegenstände neben kleinen Fensterluken lagern, erreiche ich schnaufend den Glockenstuhl. Ein leichter Wind weht mir entgegen - die Tür steht offen, draußen befindet sich der Rundgang rund um den Glockenturm. Mein Bruder traut sich nur kurz nach draußen. Wäsche flattert auf einer aufgespannten Leine rechts neben der Tür. 

Als Kind war ich in meiner Heimatstadt Annaberg-Buchholz öfters auf dem Kirchturm der St. Annenkirche, die mit ihren mächtigen Mauern und dem großen Eingangsportal viel Schönes und Einzigartiges beinhaltet. Damals kam mir die Wäsche gar nicht komisch vor. 

Eine der bedeutendsten spätgotischen Hallenkirchen Deutschlands - mit den Längsbänken auch eher ungewöhnlich

In den Gottesdiensten oder Konzertbesuchen nahm ich staunend den merkwürdigen Nachhall der Predigt wahr, der sich von den an den Säulen angebrachten Lautsprechern den Weg quer durch das Kirchenschiff bahnte. Und erzitterte bei der Toccata und Fuge d-Moll BWV 565, die der langjährige Kirchenmusikdirektor Matthias Süß allzu oft als letztes Stück eines Gottesdienstes auf der großen Walcker-Orgel spielte. Mich erinnerte dieses imposante Werk an eine schaurige Nacht auf einem verwunschenen Schloss irgendwo in Transsilvanien.

Hinter massiven Mauern verbergen sich Schätze

Die Bedeutung der spätgotischen St. Annenkirche, mit ihrer steinernen Bibel und dem Annaberger Bergaltar einer der schönsten und größten Hallenkirchen Sachsens, und der Grund der flatternden Wäsche wurden mir erst wirklich bewusst, als mich mein amerikanischer Gastvater anlässlich meines Abiturs besuchte und ich ihm die Stadt zeigte. Einen Tag lang begleitete uns eine Journalistin der Deutschen Welle, mit der wir für ein Reisemagazin eine Sendung drehten.

Für mich eine aufregende Angelegenheit - und auch ein ungewohnter Blickwinkel auf meine Heimatkirche. Mein Gastvater ist Deutschlehrer und wohnt mit seiner Familie im Mittleren Westen der USA, wo es kaum alte Baudenkmäler zu sehen gibt, geschweige denn imposante jahrhundertealte Kirchen. Auch heute noch zeigt er unseren gemeinsamen Beitrag jedes Jahr wieder in seinen Klassen, sehr zur Belustigung seiner pubertierenden Schülerinnen und Schüler. 

An jenem Tag besuchten wir nicht nur einen Gottesdienst, sondern auch ganze 211 Stufen später die einzige Türmerfamilie Europas in ihrer eckigen 85 Quadratmeter Wohnung, die sie ständig bewohnen. Matthias und Marit Melzer sind absolute Unikate - nicht nur menschlich sehr sympathisch, sondern auch in ihrer freiwilligen Berufung herausstechend. Seit fast dreißig Jahren läuten sie die Glocken, seit 1999 ist der Turm auch ihr Zuhause.

Die Türmertradition ist dabei fast so alt wie die Kirche selbst, für die der Grundstein im Jahr 1496 nach der Stadtgründung im Silberrausch gelegt wurde. Bereits für das Jahr 1519 ist die Besoldung eines Nachtwächters und Türmers belegt. Damals existierte die Kirche noch nicht.

Seit fast 500 Jahren bewohnt

Das Ehepaar Melzer wohnt direkt über der Glockenstube in 42 Metern Höhe, Lebensmittel und andere Dinge werden mit einer Seilwinde nach oben gezogen. Zu allen Veranstaltungen läuten die beiden - ob Konzerte, Hochzeiten, Beerdigungen oder eben zu Gottesdiensten. Dieses Ehrenamt war die Voraussetzung für den Mietvertrag. Seit 1578 ist die Wohnung ununterbrochen durch Türmergenerationen bewohnt - Blitzeinschläge sind neben verlorenen Socken, die es von der Leine weht, keine Seltenheit.

Auch das Innere der St. Annenkirche hat viele wechselvolle Phasen erlebt. In den vergangenen Jahrhunderten wurde übermalt, umgebaut und verändert. Umfassend restauriert wurde in den Jahren 1973 bis 1998 immer wieder. Das Kircheninnere sollte damals wieder den ursprünglichen spätgotischen Raumeindruck erhalten. Außenmauern, Dach und Dachstuhl wurden durch das Kirchenbauprogramm in der DDR saniert, mit 652 000 D-Mark der EKD. Dieses Sonderbauprogramm brachte der sozialistischen Regierung dank der vertraglichen Vereinbarungen mit den Kircheninstitutionen der BRD beachtliche Summen in die Staatskasse.

Enorme Summen für den Kirchenbau in der DDR durch die BRD

Viele Kirchen, Gemeinde- und Pfarrhäuser waren durch den Krieg stark beschädigt, die evangelischen Kirchen in der DDR konnten die Gelder nicht aufbringen. Das Streben nach Devisengeschäften dank der kirchlichen Westunterstützung zeigte sich auch in dem eigens gegründeten DDR-Unternehmen, der Genex Geschenkdienst GmbH. Die DDR Führung bestellte so Waren und Güter, neben Kaffee auch Rohdiamanten oder Erdöl, alles koordiniert von eigens für Kirchengeschäfte eingesetzte Personen aus dem Ministerium für Staatssicherheit. Das transferierte D-Mark-Guthaben wurde anschließend in Form der Valutamark für Bauvorhaben freigegeben.

Die BRD hat in ihrem Willen zur Erhaltung damals so auch dazu beigetragen, dass die Kirche in Ostdeutschland eine Zukunft haben kann. Auch die St. Annenkirche, in der jedes Jahr Tausende von Besucherinnen und Besuchern staunen dürfen. Und die Wäsche immer noch auf dem Turm flattert.

 

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.