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Warum nennen wir sie bloß 24-Stunden-Pflegerinnen?
Nach acht Stunden ist Feierabend. Auch für die Polinnen, die unsere Eltern betreuen! Das Mindestlohn-Urteil schaut da endlich mal hin.
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
05.07.2021

Wie wäre es: Sie bekommen einen Anruf, dass man Sie am Freitag in, sagen wir mal, der Schweiz erwartet. Für ein paar Wochen, vielleicht auch mehr. Über die Leute, bei denen sie wohnen werden, wissen Sie wenig. Kann sein, dass Sie sich permanent um eine schwer demente Person kümmern müssen. Vielleicht liegt Ihr Zimmer aber auch so, dass sie in der Nacht Ruhe haben.   

Die Polin Ewa, 40, pendelt seit zwei Jahren zwischen Polen und Deutschland. Als ich sie neulich für eine Reportage traf, war sie gerade bei ihrer achten Familie. Wir unterhielten uns im Hof, während die 88-jährige bettlägerige demente Frau, die sie betreut, schlief. Ob sie eine Pflegausbildung habe, fragte ich sie. „Nein. Ich bin Lehrerin“, antworte Ewa mit starkem Akzent und tippte ein polnisches Wort in ihre Smartphone, es erschien auf deutsch: „Fahrlehrerin“. Mithilfe des Übersetzungsprogramms erzählte sie: Zehn Jahre lang habe sie in einer Fahrschule gearbeitet, saß auch samstags und sonntags mit den Schülern im Auto, verdiente wenig. Eine Freundin reiste immer wieder als Altenbetreuerin nach Deutschland und war zufrieden, also probierte Ewa das auch - und blieb dabei. „Ich bin gerne auf Reisen. Und ich habe jetzt mehr Geld, das ist schön.“

Ewa hat keine Kinder und keinen Mann an ihrer Seite, sie wohnt mit ihren Eltern zusammen. Manchmal muss sie ganz spontan ihre Koffer packen. So wie das letzte Mal. Die Agentur rief an: „Eine alte blinde Frau, die nicht aufstehen kann, die Tochter wohnt auch da. Kannst du das übernehmen?“ Drei Tage später stieg sie in den Kleinbus der Agentur, der sie und andere polnische Betreuungskräfte nach Deutschland fuhr. Mit der deutschen Familie hatte sie vorher keinen Kontakt. Als sie in der fremden Kleinstadt vor dem Hoftor stand, war sie schon "sehr gespannt".

Elf Stunden Pause

In geschätzt 300.000 bis 600.000 Haushalten in Deutschland leben und arbeiten Frauen aus Polen, Rumänien oder anderen osteuropäischen Länder. Ohne diese sogenannten 24-Stunden-Betreuerinnen müssen viele alte Menschen wohl ins Heim. Der Begriff "24 Stunden" aber ist missverständlich - vielleicht sogar die Wurzel allen Übels. Für diese Frauen gilt wie für alle Arbeitnehmenden in Deutschland das Arbeitszeitgesetz. Sie dürfen acht Stunden am Tag arbeiten und brauchen zwischen den Einsätzen eine zusammenhängende Pause von mindestens elf Stunden. Frauen, die wie Ewa legal und über eine seriöse Agentur hierher kommen, haben in ihren Arbeitsverträgen in der Regel eine 30 oder 40-Stunden-Woche stehen.

Aber wie lässt sich das einhalten, wenn Sie mit einem hilfbsbedürftigen Menschen zusammenleben, oft als Hauptbezugsperson? Es ist das bekannte Dilemma jeder Care-Arbeit, der „Sorge-Arbeit“ wie Kinderbetreuung oder Altenpflege: Sie lässt sich nicht in einem bestimmten Zeitrahmen abarbeiten. Man hat vielleicht nicht dauerhaft etwas Handfestes zu tun, weil die bedürftige Person auch mal schläft oder sich alleine beschäftigt. Man ist aber ist immer auf dem Sprung.

Mittags auf den Wochenmarkt

Ewa hat da eigentlich noch Glück. Die Tochter wohnt mit im Haus, in einem anderen Trakt. Die beiden verstehen sich gut und haben eine klare Arbeitsteilung: Morgens macht die Tochter den Brei für die Mutter. Ewa füttert die alte Frau, wäscht sie, kleidet sie an und setzt sie in einem Rollstuhl. Im Laufe des Tages macht sie Bewegungsübungen mit ihr, legt sie zum Mittagsschlaf ins Bett, wechselt die Windeln, gibt ihr zu trinken und zu essen, spricht mit ihr. Die alte Frau schläft zwischendurch viel. Dann sitzt Ewa in ihrem Zimmer, chattet mit den Eltern oder Freunden. Wenn sie die Rufe von nebenan hört, geht sie hin, natürlich. Auch nachts immer mal wieder. Meist gegen Mittag übernimt die Tochter für zwei Stunden, dann geht Ewa spazieren oder auf den Wochenmarkt.

Frauen wie Ewa sind nicht nur acht Stunden im Dienst. Das ist schon lange bekannt, wurde aber stillschweigend geduldet. Nun kam das Mindestlohn-Urteil: Eine Bulgarin hatte geklagt. Sie sei quasi rund um die Uhr für eine pflegedürftige Person zuständig gewesen, hätte aber nur 30 Wochenstunden bezahlt bekommen. Das Bundesarbeitsgericht gab ihr grundsätzlich Recht. Sie sei sehr viele Stunden zusätzlich im Bereitschaftsdienst gewesen. Und auch für diese müsse sie den Mindestlohn erhalten.

„Schockurteil für Pflegebedürftige! Pflege zuhause kostet jetzt 10.000 Euro!“ titelt jetzt die BILD und überschlug: Bei 24 Stunden Arbeit am Tag, 30 Tagen im Monat und einem Mindestlohn von 9,50 Euro in der Stunde lägen allein die Lohnkosten bei 6840 Euro, dazu kämen die Vermittlungsgebühren der Agenturen, Material- und Nebenkosten. Aber das stimmt nur bedingt: Das Bundesgericht sagt nicht, dass die Klägerin alle 24 Stunden berechnen kann, die sie im Haushalt ist. Was bei ihr genau als Bereitschaft-, Arbeits- und Ruhezeit gilt, soll nun ein Landesgericht klären.

Pflegerinnen können es nicht allein wuppen

Jeder, der eine ausländische Pflegerin beschäftigt, sollte das ohnehin tun, sagt Oliver Weiß von Mecasa. Die Stuttgarter Pflegeagentur Mecasa, die osteuropäische Betreuerinnen nach Deutschland vermittelt, achtet darauf, dass niemand ausgebeutet wird. Das Urteil werde bei Mecasa nicht viel ändern, sagt er. „Es bestätigt eine Selbstverständlichkeit. Dienstbereitschaft wird in Deutschland immer bezahlt. Warum sollte das bei den Betreuerinnen anders sein?“

Weil sich das kaum jemand leisten kann, würden Betroffene antworten. Oliver Weiß sieht die Vermittlungsagenturen in der Pflicht, hier besser zu beraten. „Eine gute Agentur macht Ihnen klar, dass die Betreuerin nur Teil eines Netzwerkes sein kann, und hilft Ihnen, ein solches zu knüpfen. Es gibt viele Angebote, die nicht unbedingt zusätzlich etwas kosten.“ Besuchsdienste, ambulante Pflege oder Physiotherapie zum Beispiel, Tagesbetreuungsangebote oder auch Nachbarschaftsshilfe.

Mecasa hat mit anderen Experten den ersten DIN-Standard für 24-Stunden-Pflege entwickelt. Das soll helfen, faire und seriöse Vermittler zu erkennen, die beide Seiten im Blick haben: die Betreuerinnen und die Familien. Laut Weiß seien bislang sieben Unternehmen in Deutschland entsprechend zertifiziert, 15 weitere stehen kurz davor.

 

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Mein Bruder und seine Partnerin starben Anfang Mai an Krebs. Er wollte unbedingt in seiner Wohnung gepflegt werden und die Partnerin hätte das auch gern realisiert gesehen. Als sein Pflegebett schließlich im Wohnzimmer stand und die Partnerin auch meist dort schlief, sagte sie mir, jetzt sei das Schlafzimmer ja frei, da könnte ja jetzt eine 24-Stunden-Kraft einziehen. Ich sagte, da müssen wir das Zimmer aber etwas herrichten für sie. Die Antwort der Partnerin darauf: "Das ist nicht nötig, die soll doch arbeiten hier!" Wohnen also wäre für die Pflegekraft eigentlich nicht vorgesehen gewesen.
Die Palliativärzte waren dann wie meine Schwester, meine Mutter und ich auch dafür, meinen Bruder in ein Hospiz zu verlegen. Soziale Dramen am Krankenbett sind gerade in einer Sterbezeit nichts, was irgend jemand braucht und verträgt. Weder die Pflegekraft noch der Patient.
Wir sind in unserem Land offenbar nicht "kindersicher", was soziale Standards angeht.

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