Eigentlich hängt sie außen. Leicht geneigt, am rechten Türrahmen. Eigentlich. Das ist aber heute zu gefährlich, höre ich. "Wir haben unsere Mesusa lieber innen aufgehängt, hinter der Tür, damit man sie von außen nicht sieht." Die Mesusa ist eine Kapsel mit einer kleinen Schriftrolle drin: "Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Das schreibe auf die Türpfosten deines Hauses." Worte, die darauf hinweisen: Hier wird jüdisch gelebt, geglaubt, gebetet. Hier sind Jüdinnen und Juden zu Hause.
Aber beinahe die Hälfte aller jungen jüdischen Europäerinnen und Europäer trägt bewusst keine jüdischen Symbole nach außen. Keine Kippa, keinen Davidstern und eben keine Mesusa. Zu gefährlich. Was ist das für ein Zuhause?
Annette Kurschus
Ein Viertel der Deutschen – das ergab 2019 eine repräsentative Umfrage des World Jewish Congress – hegt antisemitische Gedanken. Antisemitische Straftaten nehmen zu. Die Zahl der Gewaltdelikte hat sich in Deutschland binnen eines Jahres beinahe verdoppelt. Am jüdischen Versöhnungstag gab es einen Anschlag auf die Synagoge in Halle, während Jüdinnen und Juden drinnen beteten. Warum gab es keinen Polizeischutz? Wie kann es sein, dass die Gefahrenlage offenbar so verheerend falsch eingeschätzt wurde?
Was hindert uns, sofort einzuhaken?
"Du Jude!", schallt es aggressiv über unsere Schulhöfe. Das darf nicht unwidersprochen durchgehen, als sei es ein harmloses Schimpfwort. Was läuft da schief, wenn doch die Schoah zum Kernbestand jedes schulischen Geschichtsunterrichts gehört? Was hindert uns daran, sofort einzuhaken: "Was meinst du damit?", "Weißt du eigentlich, was du da sagst?"
Bis in die Kirchen hinein reicht der gesellschaftliche Rückhalt antidemokratischer und offen antisemitischer Kräfte. Vielleicht hatten wir insgeheim gehofft, unsere schuldhafte Geschichte mache uns dagegen immun. Wir werden gerade eines Besseren – oder sagen wir richtiger: eines Schlechteren – belehrt.
Was wird, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt?
Immerhin: Die Reaktion auf den Terroranschlag in Halle folgte prompt. In vielen Städten unseres Landes gingen Menschen auf die Straßen, Hunderte bildeten Menschenketten um Synagogen in ihrer Mitte. Gott sei Dank gibt es solche klaren und starken Zeichen der Solidarität.
Darüber hinaus ist es dringend an der Zeit, dass wir uns selbstkritisch fragen: Wie steht es eigentlich um unsere viel gerühmte Erinnerungskultur? Und was soll werden, wenn es bald keine Zeitzeugen mehr gibt, die aus eigener Erfahrung erzählen können, was sie erlebt haben in Auschwitz oder Bergen-Belsen? Was sie erlitten haben im Krieg? Unsere Kinder müssen wieder neu lernen, dass Demokratie und Frieden kostbare Errungenschaften sind, um die man kämpfen und die man sorgsam pflegen und gestalten muss. Es steht viel auf dem Spiel.
Juden und Christen sind Geschwister
Bald begehen Jüdinnen und Juden ihr Lichterfest Chanukka, während Christinnen und Christen die Geburt Jesu feiern. Der Herr der Kirche kam als jüdisches Kind zur Welt, im Stall zwischen Ochs und Esel, in Bethlehem, wo jüdisch gelebt, geglaubt und gebetet wurde. "Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein."
Über die Geburtsgeschichte Jesu sind Christinnen und Christen unlöslich mit dem Judentum verbunden, so dass es für uns keinen anderen Ort geben kann als den an der Seite von Jüdinnen und Juden: als Geschwister. Und so ist es auch und gerade an uns, entschieden dafür Sorge zu tragen, dass die Mesusa wieder hängen kann, wo sie hingehört: außen. Nicht nur eigentlich.
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Lesermeinungen
E. Hickl | vor 2 Tagen 13 Stunden Permanenter Link
Auf ein Wort
Sehr geehrte Damen und Herren,
muss man jedem Zeitgeist hinterherlaufen? Gibt es kein Vertrauen in das Selbstbewusstsein Ihrer Leser(!), dass diese sich auch ohne die Krampfformulierung "Christ und Christinnen", "Juden und Jüdinnen" (ach es muss ja heißen "Christinnen und Christen", "Jüdinnen und Juden"!) beachtet und angesprochen fühlen? Merken Sie nicht, wie durch diese Worthülsen die Aussagen der Sätze leidet?
Mit freundlichen Grüßen
E. Hickl
Rasmus Ph. Helt | vor 3 Tagen 15 Stunden Permanenter Link
"Jesus war ein jüdisches Kind", Chrismon, Ausgabe 12/2019, S. 1
Sehr geehrte Redaktion!
Die Analyse von Annette Kurschus führt noch nicht weit genug. Denn schon jetzt, wo noch die letzten Zeitzeugen leben, lässt sich leider in Deutschland eine abnehmende Empathie gegenüber den Opfern der NS-Herrschaft beobachten, wenn man nur einmal an den Ghettorenten-Skandal in Nordrhein-Westfalen denkt, wo ein Sozialrichter, der die ihm zugewiesenen Fälle nicht nur anhand der lückenhaften Akten bearbeiten wollte, sondern die betroffenen Personen besuchte, um weitere Informationen einzuholen, sich plötzlich selbst vor Gericht zu verantworten hatte. Deshalb muss eine breite gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der Erinnerungskultur sofort gestartet werden, zumal es ebenfalls Städte wie Hamburg gibt, wo beispielsweise im ehemaligen Gestapo-Hauptquartier namens "Stadthöfe", wo immerhin die Deportation von Menschen jüdischen Glaubens aus ganz Norddeutschland organisiert wurde, gerade anstatt einer würdigen Gedenkstätte und trotz vieler Bürgerproteste lieber ein schnöder Shoppingtempel entstehen soll!
Rasmus Ph. Helt
Ulrich Tietze | vor 1 Woche 12 Stunden Permanenter Link
Beitrag von Frau Kurschus über Judentum und Christentum
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit großer Freude habe ich in der aktuellen Ausgabe die Gedanken von Annette Kurschus über Judentum und Christentum gelesen. Richten Sie ihr bitte meinen Dank aus!
Nicht nur, weil ich Theologe bin (Altenheim-Seelsorger nach Tätigkeiten in Gemeinden, im Gefängnis und im Krankenhaus), sondern auch als Enkel einer jüdischen Großmutter, die nur mit Glück und Mut den Nazis entkam, berührt mich dieses Thema sehr unmittelbar.
Ich habe im Rahmen meiner theologischen Überlegungen einige Thesen aufgeschrieben, die ich Ihnen und selbstverständlich auch Frau Kurschus gern zur Verfügung stelle - siehe Anlage. Nach meiner letzten Endes eher sich festigenden Überzeugung müssen wir in der christlichen Theologie immer mehr den Schritt hin zu einem Dialog mit dem Judentum auf Augenhöhe wagen (er ist nach wie vor ganz und gar nicht selbstverständlich) - unter Einbeziehung der Tatsache, dass Jesus Jude war und blieb.
Eine gesegnete verbleibende Adventszeit und ein gesegnetes Weihnachtsfest Ihnen allen!
Mit freundlichen Grüßen
Ulrich Tietze
Friedhelm Buche... | vor 1 Woche 1 Tag Permanenter Link
Leserbrief zum Artikel „Jesus war ein jüdisches Kind“ im chrismo
Nicht nur Juden und Christen sind durch ihre traditionellen Wurzeln verbunden, auch die Muslime gehören dazu! Und alle ruhen auf den gewaltigen Schultern der griechischen Philosophie, insbesondere auf denen Platons. Aber alle drei hängen fest an ihren jeweiligen vordergründigen Symbolen, statt zu ihren Wurzeln vorzudringen. Hier liegt das Problem! Es geht darum, die Idee der Philosophie zu begreifen. Allein hierin kommen die Menschen überein. Aus allem kann man aussteigen, kann hin und her pendeln zwischen den Religionen, nur aus der Philosophie kann man nicht aussteigen.
Ockenga | vor 2 Wochen 6 Stunden Permanenter Link
Der Ursprung des Antisemitismus?
Zitat: "Über die Geburtsgeschichte Jesu sind Christinnen und Christen unlösbar mit dem Judentum verbunden".
Antisemitismus als göttliche Fügung? Die Geschichte der Symbiose zwischen Juden und Christen beginnt wesentlich früher als zur Stunde Null am 24.12.. Noch genauer, nur AT u. NT sind zusammen Quellen und Säulen des Christentums. Diese Einsicht wurde von ca. 400 bis ca. 1945 um der puren Macht Willen verraten. In und mit AT + NT ist die prophetische Abfolge gesagt und getan worden. Und es ist noch bizarrer! Der angeblich von den Juden zu verantwortende Tod von Jesus ist der ursprüngliche Akt der Religionsstiftung. In der Wahrheit des Christentum ist die Selbstopferung Gottes in seiner 2. Person und seinem 3. Wesen aber auch von Beginn der Schöpfung an als eine unausweichlich göttliche Fügung vorgesehen gewesen. Die Juden bzw. ihre Handlanger sind demnach göttliche Werkzeuge. Wiederum diese Eigenschaft als göttliche Jesusmörder hat zum religiös begründeten Antisemitismus geführt. Wenn sie, wie beansprucht, Geschwister sind, dann mit unterschiedlichen Eltern? Mit dem christlichen Antisemitismus wurde demnach die eigene Religionsstiftung bis aufs Messer (Pogrome, etc.) bekämpft. Verstärkt wurde diese christliche Grundeinstellung noch durch den Anspruch der Juden, die älteste und nachweislich begründetste Monotheistische Religion und das wahrhaft auserwählte Volk Gottes zu sein. Diese Konkurrenzsituation konnte noch nie verstanden und beherrscht werden. Auch nicht durch die schönsten und erhabensten Kanzelsprüche und mittelalterlichen semantischen Begründungskapriolen. Das ganze neue Testament ist eine Fundamentalkritik am Judentum, gipfelnd im Mordvorwurf an jedem 24.12. Und in welchem Umfang bis zum 8.5.45 bedenkenlos verfolgt wurde, können Sie dem Buch „Protestanten ohne Protest“, herausgegeben von der Evangelische Akademie der Pfalz, v. Chr. Picker u. A., entnehmen. Hier zeigt sich die totale Unvereinbarkeit zwischen der Historie, den moralischen und ethischen Ansprüchen, den Taten der unchristlichen Verfolgung von Juden und der verwirrenden Exegese von überlieferten Inhalten. Jetzt „mea culpa“ zu machen und zu hoffen, zu fordern und zu behaupten, dass das Christentum von Anfang an mit dem Judentum in einer viel gerühmten Geschwisterschaft bestand, ist schon ein eigenartiger Anspruch. Hier hat schon immer die angemahnte Erinnerungskultur erbärmlich versagt. Genau wie die an die schon vor 1933 begonnenen und dann im Juli / September 1933 vereinbarten Konkordaten und deren Folgen bis heute. Das Christentum war immer, und ist es mit dem Vorwurf des Jesusmordes bis heute, eine religiös begründet Mord-Quelle des Antisemitismus.