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Aktivismus versus Christentum
Keine andere Musik rührt mich so zu Tränen wie die von Anohni. Aber einige aktuelle Äußerungen der Sängerin bringen mich zum Nachdenken über das, was nicht wenige Aktivist*innen über das Christentum sagen.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
21.07.2023

Es war schon bei den ersten Alben so, noch veröffentlicht unter dem Namen „Anthony and the Johnsons“: Erste Klavierakkorde, die leidensschwere Stimme setzt ein, und ich war wie weggerissen. Jetzt hat die Sängerin Anohni ihre neue Platte „My Back Was A Bridge For You To Cross“ herausgebracht, und wieder bin ich emotional überwältigt. So schön wird selten der Schmerz besungen. Es trifft mich ins Herz. Dabei spricht sich hier ein spezifischer Schmerz aus, der sich von meinen Weltschmerzen und -ängsten unterscheidet. Er hat zu tun mit den Lebenserfahrungen einer Transfrau und einem ökofeministischen Aktivismus.

In zwei höchst anregenden Zeitungsartikeln bin ich nun auf Äußerungen von Anohni gestoßen, die mich ins Grübeln gebracht haben. Darin weist sie als Quelle der gegenwärtigen Globalkrise vor allem das Christentum aus. Leider weiß ich nichts darüber, mit welcher Art von Christentum sie existentielle Erfahrungen verbindet. So kann ich hier nur ihre Meinungen diskutieren.

In einem Interview mit Harald Staun in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ führt Anohni die zerstörerisch-verrückte Verfasstheit der westlich-modernen Menschheit darauf zurück, dass „wir in den vergangenen mehr als 2000 Jahren darauf konditioniert wurden, patriarchalische Theologien zu schlucken, die uns auf einen apokalyptischen, selbstmörderischen Höhepunkt der Spezies vorbereiten.“ Denn die westliche Moderne sei nur vermeintlich säkular, nämlich im Kern immer noch in einer Weise religiös geprägt, die den Menschen von der Natur entfremde, Gefühle unterdrücke und in eine „spirituelle Armut“ führe. Den Anfang dieser Unheilsgeschichte bilde Abraham: „Die ganze Aufgabe der abrahamitischen Theologie bestand darin, den Blick zum Himmel zu wenden, Sklaven für uns arbeiten zu lassen und die Menschen dazu zu bringen, Ausbeutung als Lebensweise zu akzeptieren. Wenn Sie mich also nach meiner Beziehung zur Natur fragen, würde ich sagen, dass ich ein Kind von 2000 Jahren Christentum bin. Was hat das Christentum wirklich mit uns gemacht? Wie hat das Gefühl unserer Herrschaft über die Natur unser Verhältnis zu ihr verändert?“

Und in einem Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ notiert Joachim Hentschel diese Äußerung von Anohni: Das Christentum hat uns „eine gewisse Todessehnsucht in die DNA gepflanzt.“

Es sind aphoristische Äußerungen, aber typisch für manches, was in aktivistischen Szenen über das Christentum gedacht wird. Was mich daran irritiert, ist nicht die grundsätzliche Ablehnung. Alle haben das Recht, die christliche Religion von sich zu weisen, wenn sie es möchten. Aber mich befremdet der autoritäre Deutungsgestus. Die Krisen der Gegenwart werden auf eine Ursache zurückgeführt, und diese wird mit größtmöglicher Eindeutigkeit bestimmt. Das ist nicht nur hermeneutisch gewaltsam, sondern bei genauerer Betrachtung auch widersprüchlich. Einerseits soll „das“ Christentum seit zwei Jahrtausenden (nicht-europäische Christentümer werden nicht berücksichtigt) eine grundsätzliche Fehlorientierung verursacht haben. Andererseits ist die „abrahamitische Theologie“ das Problem. Dann wären wir bei drei oder vier Jahrtausenden, nämlich bei den Anfängen der Religionsgeschichte Israels. Zum Glück scheut Anohni vor eindeutigen Schuldzuweisungen an „das“ Judentum zurück, obwohl sie in der Logik ihrer Äußerungen lägen.

Was Anohni hier stellvertretend für viele bietet, kann man „reduktionistischen Essentialismus“ nennen. Die höchst widersprüchliche Überfülle all dessen, was sich christlich nennen ließe, wird ohne jede Differenzierung auf eine einzige, in sich über die Epochen hinweg geschlossene Identität reduziert. Das machen eigentlich nur Fundamentalisten so. Aber es ist religionsgeschichtlich unterkomplex und auch unfair. Wie würden Aktivist*innen reagieren, wenn man sie in einer ähnlichen, nämlich fundamentalistischen Weise deutete?

Leider haben viele sich angewöhnt, leichtfertig davon zu sprechen, dass dies oder jenes „die DNA“ von diesem oder jenem (bzw. dort angelegt) sei. Damit will man wohl behaupten, dass es innere Programme gäbe, die mit Notwendigkeit zu einem festgelegten Ziel liefen. Solch ein Determinismus stimmt aber schon biologisch nicht. Auf Kultur und Religionskultur angewandt, ergibt er noch weniger Sinn. Denn wenn Kultur etwas ist, dann unvorhersehbare Veränderung.

Wozu dient aber diese aktivistische Christentumsdeutung? Vielleicht der eigenen Entlastung. Die problematische Gegenwart wird auf eine uralte Ursache zurückgeführt, mit der man selbst nichts zu tun hat, von der man sich also leichter distanzieren kann als von der Tatsache, dass man eben auch als „woke“ Popmusikerin integraler Bestandteil des späten Kulturkapitalismus ist.

Andererseits: Die Musik von Anohni ist von einer solchen Innigkeit und Innerlichkeit, einer existentiell so durchglühten Subjektivität, so ethisch engagiert, sie hat so viel „Soul“, dass die Sängerin sich fragen könnte, ob darin nicht auch ein christlicher Einfluss wirksam sein könnte – allerdings ein produktiver.

PS: Der nächste Kulturbeutel erscheint nach einer Woche Pause am 4. August 2023

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Ich bin ein Befürworter der Religion, aber bitteschön ohne einen von Männern !! produzierten männlichen"Gott"und dem erfundenen männlichen Teufel!
Wenn ich einen Kontakt zu wilden Tieren schaffe, Musik höre, die zu Tränen führt, ein Buch, ein Film einen buchstäblich an den Stuhl fesselt,
ja das ist Religion. Ein Sonnenaufgang gefällt jedem. Jeder Mensch wird als Mensch geboren aber durch die Taufe zu einem Christen degradiert
und weiter belogen und belogen. Ein fröhlicher Mensch braucht kein Leben nach dem Tode.Manchesmal denke ich, der wahre Gott ist der Tod.
Denn da sind wir alle gleich. Amen.

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"Darin weist sie als Quelle der gegenwärtigen Globalkrise vor allem das Christentum aus. [...] ... die uns auf einen apokalyptischen, selbstmörderischen Höhepunkt der Spezies vorbereiten."

So sehe ich das auch, besonders auf Kyrill als vermeintlichen Erfüller der Vorsehung im Ukrainekrieg, resultierend aus der falschen / stets imperialistisch-faschistischen Interpretation der Bibeltexte, wo die Wege "Gottes" im Sinne der Vernunft des Geistes doch sehr wohl ergründlich sind, hin zum ganzheitlich-ebenbildlichen Wesen Mensch und der Verantwortung zur Schöpfung als Gemeinschaftseigentum OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik.

Es wurde den Menschen immer weis gemacht, daß das "Gericht am Jüngsten Tag" unausweichlich ist, doch Mensch bedeutet IMMER ALLE - Matthäus 21,18-22 was Wirkung von Glaube und Gebet zur vollen Kraft des Geistes betrifft.

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Und ja, diese Kritik sollte weiterführend/fusionierend/befriedend sein, entgegen der Konfusion seit Mensch erstem und bisher einzigen geistigen Evolutionssprung ("Vertreibung aus dem Paradies").

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J.H.C.: "Die problematische Gegenwart wird auf eine uralte Ursache zurückgeführt, mit der man selbst nichts zu tun hat, ..."

Ja, aber als Mensch im Kreislauf von Wiedergeburt/Reinkarnation erben WIR alle vor allem die gemeinsam zu verarbeitende Verantwortung (Bibel/Jesus)!

"... von der man sich also leichter distanzieren kann als von der Tatsache, dass man eben auch als „woke“ Popmusikerin integraler Bestandteil des späten Kulturkapitalismus ist."

Dieser Abschnitt ist böse im Sinne des OBERFLÄCHLICHEN (im wahrsten Sinne des Wortes) Zeitgeistes, was ich ihnen lieber als unbewussten/unüberlegten Fehler ankreiden möchte, denn die Schuld- und Sündenbocksuche wirkt immernoch verständlich und garnicht weise seit der o.g. Urzeit nach!

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Die Musik von Anohni kenne ich nicht. Ist aber auch Egal, denn ich bin kein Freund von musikalisch aufgearbeiteten Depressionen. Mein Geschmack ist fröhlicher Natur, voll Freude über die Schöpfung des Allmächtigen. Über die Kritik an Jahrtausenden christlicher Kulturgeschichte kann ich nur müde lächeln. Wie einfach ist es doch über die Kinder Gottes zu lästern. Sind wir doch geachtet wie die Schlachtschafe, sind wir doch friedlich und nehmen die Kritik mit Blick auf den Herrn Jesus gerichtet gelassen an. Und da ist noch ein Geheimnis das Wir Nachfolger des Erlösers den Lästerern nie erzählen. Gott rechnet es uns positiv an wenn wir Beleidigungen unseres Glaubens kritiklos und vergebend über uns ergehen lassen. So vergebe ich im Namen Gottes diesem Menschen ohne Erkenntnis und Kenntnis des Christentums und übergebe die Verletzung meiner Gefühle an Gott. Er wird sich darum kümmern. Gott möge diesen Menschen segnen, möge Er seiner Seele gnädig sein.

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