Suchtforscher im Interview
"Für Senioren ist Alkohol ein größeres Tabu"
Viele ältere alkoholkranke Menschen verbergen ihre Sucht aus Scham. Doch je länger Menschen alkoholsüchtig sind, desto schwerer wird der Entzug. Es ist aber nie zu spät dafür, sagt der Suchtforscher Anil Batra
Eine Hand am Glas: Alkoholismus ist auch unter alten Menschen ein Problem
Eine Hand am Glas: Alkoholismus ist auch unter alten Menschen ein Problem
Rainer Fuhrmann/Photocase
15.01.2024
3Min

chrismon: Gibt es typische Gründe, warum ältere Menschen in den Alkohol abrutschen?

Anil Batra: Oft sind die Lebensumstände schuld, etwa wenn jemand seinen Job verliert oder den Eintritt ins Rentenalter schlecht verkraftet. Dann fehlt eine sinnvolle Betätigung, ein klarer Tagesablauf. Auch der Verlust des Partners oder von gleichaltrigen Freundinnen und Freunden wird als einschneidend erlebt, nicht selten bricht dann das ganze soziale Umfeld zusammen, die Netzwerke fehlen. Manche Ältere leiden unter dem Gefühl, dem Ende entgegenzugehen, kaum noch Perspektiven zu haben, die Lebensbilanz fällt negativ aus. Trübe Gedanken, Einsamkeit und Depressivität können ebenfalls in den Alkoholismus führen.

Haben Menschen, die im Alter trinken, eine Vorgeschichte mit Alkohol?

Das ist unterschiedlich. Manche sind schon im jungen Erwachsenenalter abhängig geworden, um mit belastenden Situationen besser klarzukommen, andere fangen erst später an, wenn Sicherheiten wegbrechen.

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Prof. Dr. Anil Batra

ist stellv. Ärztlicher Direktor und Leiter der Sektion Suchtmedizin und Suchtforschung am Universitätsklinikum Tübingen.

Ist es für Ältere schwieriger, einen Entzug zu machen?

Im Alter ist es genauso gut möglich, abstinent zu werden wie in jüngeren Jahren. Allerdings wird es schwieriger, wenn die "Alkohol­karriere" schon länger andauert, jemand sein Leben lang getrunken hat. Zudem ist es für Ältere oft eine größere Herausforderung, sich überhaupt zu öffnen, eine Beratung aufzu­suchen, Hilfe anzunehmen. Viele wissen gar nicht, wohin sie sich wenden können. Das Konzept der Selbstverantwortung, sich also aktiv um die eigene Gesundheit zu kümmern, ist häufig gar nicht im Kopf verankert. Ich erlebe immer wieder, dass ältere Alkoholkranke von ihren Angehörigen zu uns in die Klinik gebracht werden, um einen Entzug zu machen. Oft haben die Kinder erst spät gemerkt, dass Mutter oder Vater ein Suchtproblem haben.

Mail aus Los Angeles: Laufen gegen die Alkoholsucht

Woran liegt das?

Der Grund ist Scham, die Betroffenen wollen den Kindern nicht eingestehen, dass sie abhängig sind. In unserer Gesellschaft gibt es immer noch das Vorurteil, Alkoholiker seien willens­schwach und charakterlos, wenn sie nur wollten, würden sie vom Alkohol loskommen. Alkoholkranke machen sich diese negativen Beurteilungen zu eigen und werten sich selbst ab. Diese Selbstanklagen – "Ich bin ja selbst schuld" – führen dazu, dass sie sich abkapseln und weniger Hilfe suchen – ein Teufelskreis. Nach außen versuchen sie, möglichst angepasst zu wirken.

Neigen ältere Alkoholiker mehr zur Selbstabwertung als jüngere?

Ich kenne keine Studie dazu. Ich denke aber, Ältere sind mit strengeren gesellschaftlichen Normen groß geworden, sind systemkonformer als die Generationen nach ihnen. Die Jüngeren haben mittlerweile besser gelernt, dass Menschen unterschiedlich sein dürfen, Probleme haben können. Für die Senioren ist der Alkohol ein größeres Tabu.

Unter welchen Bedingungen kann ein Entzug klappen?

Wichtig ist zum einen, dass jemand eine ­klare Motivation hat, warum er es schaffen will – zum Beispiel für den Partner, für die Kinder. Zum anderen braucht es eine Umgebung, die Rückhalt bietet, Familie oder Freunde. Außerdem sollten die Betroffenen eine feste Tagesstruktur haben, eine Beschäftigung, die ihnen Spaß macht und Sinn gibt, das kann ein Ehren­amt oder auch ein Hobby sein.

Lesen Sie hier: Wie eine Frau aus Hamburg ihre Alkoholsucht bezwang

Im Haus Öjendorf wird die Alkoholsucht ­toleriert, zumindest in Maßen. Finden Sie dieses Konzept hilfreich für die Betroffenen?

Das hängt davon ab, wie lange sie schon ­trinken. Haben sie erst im Alter damit begonnen, sollte man ihnen Alternativen anbieten, sie ­also darin unterstützen, Therapien zu machen, einen Entzug zu versuchen. Sind sie schon ­lange abhängig, haben erfolglos Entzug und Therapien hinter sich, kann es sinnvoll sein, den Schaden zu begrenzen. Man ermöglicht ihnen eine Umgebung, in der sie zumindest weniger konsumieren, als sie es auf der Straße oder allein in ihrer Wohnung tun würden. Was das Heim bietet, ist sozu­sagen das geringere Übel.

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Alkoholsucht ist nur eine von den vielen Süchten im Leben: Liebessucht, Religionssucht, Arbeitssucht, Sexsucht, Fresssucht usw. usw. Süchte lassen sich bekämpfen, aber nur, wenn man es selbst will und die Sucht anerkennt. Aber wann kann man einem die Zigarette verwehren oder einem das Glas Wein wegnehmen?

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