Jugendliche am Starttag des französischen Service National Universel im Gymnasium Le Corbusier in Tourcoing, Frankreich
Für französische Schülerinnen und Schüler zwischen 15 und 17 Jahren verpflichtend: der Service national universel (SNU)
Sylvain Lefevre/GettyImages
Dienstpflicht als Katastrophenschutz
Im Notfall müssen alle ran!
Der Theologe Hartwig von Schubert will die deutsche Gesellschaft in die Pflicht nehmen, um besser auf Notsituationen vorbereitet zu sein. Wie könnte ein Pflichtdienst in Deutschland aussehen? Ein Interview
Tim Wegner
08.12.2023
3Min

Wie stehen Sie zu einer allgemeinen Dienstpflicht?

Hartwig von Schubert: Ich bin dafür. Ich habe mich 1972 für den Wehrdienst entschieden, obwohl ich als Theologiestudent befreit gewesen wäre. Ich bin überzeugt, dass die Bundesrepublik von allen Bürgern und Bürgerinnen in konkreten Notsituationen einen aktiven Beitrag fordern kann! Sie braucht sie, und zwar nicht nur als Steuerzahler.

Wie könnte eine allgemeine Dienstpflicht aussehen?

Es gibt verschiedene Modelle: Frankreich hat den Service national universel, einen vierwöchigen Nationaldienst für junge Leute im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht. Anders Norwegen: Dort durchlaufen alle eine Art Musterung – bisher als Impuls und ­ohne zu etwas verpflichtet zu werden. In Deutschland steht die Diskussion am Anfang.

Dienstpflicht wäre eine Zwangsmaßnahme

Könnte man nicht einfach zum Wehr- und Zivildienst zurückkehren?

Das ist schon deshalb nicht umsetzbar, weil die Bundeswehr das mittelfristig nicht stemmen kann. Ich fände es auch nicht gut, die Uhr zurückzudrehen. Wir müssen neu denken, entlang konkreter Notlagen der Zivilgesellschaft, zum ­Beispiel Stromausfällen oder Wetter­katastrophen. Eine neue Dienstpflicht sollte kleinteilig organisiert und zeitlich begrenzter sein als die frühere Wehrpflicht, die am Ende noch neun Monate dauerte. Und Achtung: Der Staat muss gut begründen, warum es notwendig ist, die Bevölkerung zu einem Dienst zu verpflichten. Denn de facto wäre eine Dienstpflicht eine staatlich angeordnete Zwangsmaßnahme. Bis zum Ende des Kalten Krieges begründete man die Not­wendigkeit von Wehr- und Zivildienst mit dem Feind an den Grenzen.

Und nun könnte man es mit dem ­Katastrophenschutz begründen?

Das wäre zumindest ein Ansatz. In ­solchen Fällen muss die Gesellschaft besser reagieren, auch durch Präven­tion. In der Pandemie wurden Soldaten in Impfzentren und Gesundheitsämter abgestellt, obwohl ihre Aufgabe eine ganz andere ist. Wenn der Deich bricht, ist es zu spät, Leute zu organisieren, denn sie wissen nicht, wie man ihn ­sichert. Wenn der Klimawandel fortschreitet, werden wir vielleicht häufiger Gebiete für mehrere Wochen evakuieren müssen. Oder stellen wir uns einen Cyber­angriff vor, der die Öffentlichkeit oder die Banken wochenlang lahmlegt. Wir müssen uns fragen: Ist unsere Gesell­schaft darauf vorbereitet?

Die Debatte um die Dienstpflicht konzentriert sich vor allem auf Jugend­liche. Die wehren sich, weil sie während der Pandemie bereits Zeit und Ausbildungsqualität verloren haben.

Und das war ein Opfer, das man nicht kleinreden darf! Man muss intensiv ­darüber nachdenken, wie man einen solchen Dienst fair gestalten könnte und welche Anreize man setzt, beispiels­weise über Qualifikationen, die einem auch im beruflichen Leben nützen. Die Wehrzeit war früher gelegentlich an­gefüllt mit nutzlosen Tätigkeiten, nicht ­wenige mussten saubere Panzer putzen! So etwas ist entwürdigend, demotivierend und verfassungsrechtlich problematisch. Ich würde die Dienstpflicht nicht auf Jugendliche begrenzen. Ein Offizier im Ruhestand zum Beispiel weiß, wie man große Menschen­gruppen führt, seine Fähigkeiten brauchen wir im Ernstfall.

Die Pflegebranche leidet unter Fachkräftemangel und fürchtet gerade deswegen, dass ein Einsatz von Hilfskräften die soziale Arbeit entwerten könnte.

Da muss man aufpassen. Der Pflichtdienst darf und kann keine Fachkräfte ersetzen. So umfangreich, wie Zivildienstleistende früher eingesetzt wurden, darf das nicht wieder passieren. Der Markt muss den Mangel befriedigen, soweit das möglich ist.

Könnte eine Dienstpflicht auch der Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken?

Ich hoffe es. Und es ist denkbar! Viele Menschen tun ja schon Gutes, nicht weil sie müssen, sondern aus Anstand und beflügelt durch die Erfahrung, wenn sie sehen, was sie bewirken, und Dankbarkeit erhalten. Der ganze Bereich Ehrenamt lebt davon. Mit dieser Erfahrungswelt wollen wir diejenigen in Berührung bringen, die noch nicht ­erkannt haben, dass sie die Solidarität brauchen. Sonst packen immer nur die Gleichen an.

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