Kleine Wichteltür an Eingangspforte
Was der Wichtel wohl heute anstellt?
PhenomArtlover / i-Stockphoto
Neuer Weihnachtstrend
Wenn Erwachsene mit Wichteln spielen
Die meisten Erwachsenen mögen elf Monate im Jahr noch so rational handeln: Dann kommt die Weihnachtszeit mit ihren Engeln und Wichteln und alle machen mit und lassen sich irgendwie bezaubern von Kinderfantasien. Warum ist das so?
Tim Wegner
07.12.2023
5Min

Bei mir ist sie gut losgegangen, die Weihnachtszeit. Der Adventskranz duftet und leuchtet. Die Plätzchen sind knusprig, die Stiefel geputzt. – Was aber niemand hinterfragt, ist die weihnachtliche Massenmigration, die in den letzten Jahren immer größere Auswüchse annimmt: Immer mehr weihnachtliche Wichtel machen sich vermutlich von Norden aus auf den Weg, um in deutschen Haushalten illegal ihr Domizil zu beziehen.

Meine Nachbarin hat einen, diverse Kolleginnen und Freunde und ich bin noch immer auf der Pirsch durch meine Wohnung: Vielleicht tut sich doch noch eine Tür auf, nicht im Adventskalender, sondern eine kleine Wichteltür. Vielleicht über der Fußleiste im Eingangsbereich, vielleicht im schummrigen Eck neben dem Schreibtisch oder am Kaminschacht? Beginnt doch noch ein Wichtel bei mir, seine Weihnachtswerkstatt oder sein Unwesen zu betreiben?

Tim Wegner

Sabine Oberpriller

Sabine Oberpriller ist freie Autorin bei chrismon. Sie studierte Deutsch-Italienische Studien in Regensburg und Triest und absolvierte die Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Sie interessiert sich besonders für den Austausch zwischen Kulturen, Fragen der Gleichberechtigung in der Gesellschaft – und für Menschen in besonderen Situationen.

Übrigens, ich habe keine Kinder. Erstaunlicherweise auch viele nicht, die sich bei einem der großen Discounter mit der Grundausstattung "Wichteltür, ca. 9 x 13 cm + Sack + Besen" eingedeckt haben. Menschen, die 341 Tage im Jahr rational und nüchtern handeln, betrachten in der Weihnachtszeit verträumt die kleine Wichteltür oder spielen sogar mit ihr, auch wenn es "nur" für schöne Instagram-Fotos sein mag.

Schon erstaunlich, dass wir uns ausgerechnet an Weihnachten derart der Fantasie hingeben, auch als Erwachsene Wunschzettel ans Christkind schreiben, Kindern überzeugend den Weihnachtshimmel vorgaukeln und neuerdings knorrigen nordischen Wichteln gestatten, unsere Wände auszuhöhlen, ja, in unseren Nischen ihre Stiefelchen zu putzen und sich an unseren Vorräten zu bedienen. Die Kulturwissenschaftlerin Anna Häckel-König forscht seit Jahren über die Weihnachtszeit. "Sie ist kollektiver Eskapismus", sagt sie, "eine gesellschaftlich akzeptierte Alltagsflucht."

Ein kleines Tor zu einer heilen Welt

Dass die kleinen Wichtel ausgerechnet jetzt durch die Zimmernischen klabautern, überrascht sie nicht. In Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen, Unsicherheit und zunehmenden Kirchenaustritten sieht sie in ihm vor allem die Figur, die den Weihnachtsmann in den Schatten drängt. "Der Wichtel schafft Weihnachtsmagie – ohne christlich aufgeladene Symbolik", sagt sie. Alle wollen Weihnachten, ob sie nun an die Jesus-Geschichte glauben oder nicht, die Leute suchen die kitschige Alltagsflucht, ob sie es zugeben oder nicht.

Wie ginge sie leichter als durch die Wichteltür. "Sie ist ein niedliches kleines Tor zu anderen Welten, das man öffnen kann, aber nicht muss", nennt der Ethnologe und Wichteltürbesitzer Thomas Hauschild ihre Vorteile. Auch für ihn spielen Klimawandel, Kriege und Krisen bei dem neuen Trend eine Rolle: "Die Vorstellung ist zu schön, dass es einen Zugang gibt zu einer anderen Welt, in der alles glanzvoll und gemütlich ist und wo man sich gerne etwas schenkt."

Ob das nun die Wichtelwelt, der Weihnachtshimmel oder Weihnachtsmannland ist. Traumhafte Geschichten haben wir in der dunklen, kalten – früher oft bitteren – Winterzeit nötiger als im Frühling, wenn die Natur wieder erwacht. Und im Halbduster des Kerzenscheins lässt sich besser eine geheimnisvolle Nebenwelt in Ecken und Nischen erahnen.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich so einen Weihnachtswichtel beherbergen will. Wichtel können Rüpel sein, weiß ich von der Nachbarsfamilie. Ihrer backt mal einen Berg winziger Wichtelkekse für die ganze Familie, mal frisst er Höhlen ins Brot und hinterlässt Krümel vor seiner kleinen Tür oder matschige Fußtapser, die die Kinder dann wegmachen müssen. Wie gruselig die Vorstellung, dass dunkle Ecken und Wände ein Eigenleben entwickeln.

Klassische Weihnachtsbräuche versus Wichtelwelt

"Gegenwelten haben immer etwas Bedrohliches. Auch die Weihnachtszeit ist nicht nur gemütlich, sondern auch spannungsgeladen: Es gibt keinen Santa-Film ohne Absturz oder Probleme", sagt Hauschild. Die traditionellen Weihnachtsbräuche stehen der unheimlichen Wichtelwelt in nichts nach. Da ist die Kärntner Greisin, die im Radiosender Bayern 2 kernig von ihren früheren, ziemlich derben Krampus-Aktivitäten berichtet, und bei BR-Alpha erzählt eine Anruferin, wie der Anblick des Nikolauses mit seinem Notizbuch ihre Freundin selbst im hohen Alter noch in Schrecken versetzte. "Das ist klassisch für Rituale", sagt Hauschild, "Sie kicken uns aus dem Alltag, die Gegenwelt verunsichert uns. Wir ziehen uns anders an und reden anders als sonst. Das stärkt, tröstet und erneuert uns. Diese Gegenwelt zu kontaktieren, scheint mir sehr heilsam zu sein."

Der Unterschied zum echten Leben ist: Es geht gut aus! Immer! Kulturübergreifend.

Am Ende kommt ein entrücktes, geheimnisvolles Winterwesen und bringt Geschenke, Leben. Bei seinen Forschungen hat Ethnologe Thomas Hauschild Ähnlichkeiten zwischen den Winterfiguren verschiedenster Kulturen entdeckt, ob Nikolaus, Weihnachtsmann oder der chinesische Gott des langen Lebens. Besonders der Weihnachtsmann hat ein kindliches Gesicht, dann ist da das engelsgleiche Christkind oder eben die Wichtel, alterslos, sogar irgendwie geschlechtlos. Bis in antike Traditionen Asiens hinein kennt man die Erzählung des reisenden kindsköpfigen Alten oder Zwerges, der im Winter kommt und schenkt.

Wie entlastend! Das Gute kommt – zumindest zu den Kindern – aus einer anderen Welt, ungefragt und einfach so. "Sie müssen denen, die in Wahrheit die Geschenke geben, nicht allzu dankbar sein", sagt Hauschild. "So funktioniert der Generationenvertrag! Gabe und Gegengabe werden nicht im Preis aufgerechnet." Das ist psychologisch wichtig, denn: "Es schafft stabile Momente, Urvertrauen, selbst wenn die Gabe klein ist."

Pures, schuldloses Wohlfühlen: Ein paradiesischer Zustand! Er prägt uns fürs Leben, schafft innere Inseln der Sicherheit. Und dann? Irgendjemand klärt uns auf und wir landen in der moralisch und preislich regulierten Lebenswirklichkeit. Ohne Rückversicherung und Reserven lässt sie sich nicht leicht ertragen. Die Sehnsucht nach der Unbeschwertheit bleibt. Ein Leben lang. "So entsteht zum Beispiel in Familien mit Kindern ein Klima, in dem sich alle gegenseitig helfen und auf ihre Weise zu einem großen Ganzen beitragen wollen – auch wenn es nicht immer ganz klappt", sagt Hauschild. "Das ist das Wunderbare, das hinter der Tür wartet. Das Geheimnis des guten Lebens."

So führen die Wichtel- und Himmelstüren der Weihnachtszeit nicht nur in hyggelige Gemütlichkeit, sondern direkt in unsere Kindheitserinnerungen, sind Tore zu Momenten reinen Glücks. Derzeit können wir das wirklich brauchen. Vielleicht lade ich mir doch noch so einen Wichtel ein. Versteht sich von selbst, dass niemand anderes als ich die Tür anbringen und sie mit Leben füllen wird. Oder?

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