Martha, Leolo, Lara und Josi (v.l.n.r.) haben ein gemeinsames Ziel: eine Bildungsrevolution
Martha, Leolo, Lara und Josi (v.l.n.r.) haben ein gemeinsames Ziel: eine Bildungsrevolution
Iona Dutz
Schulstress
"Dann schaff ich mein Leben nicht"
Mit ein paar Briefen fing es an: In Leipzig tun sich junge Menschen zusammen, weil die Schule sie krank macht. Sie wollen eine "Friedliche Bildungsrevolution". Eine pensionierte Direktorin hilft ihnen dabei
Tim Wegner
Anne Schulze
28.04.2023
20Min

In einem Altbau im Leipziger Waldstraßenviertel nimmt die Bildungsrevolution ihren Lauf. Immer wieder klingelt es ­unten an der Tür, und dann ­dauert es noch ein paar Minuten, bis wieder eine ­Rebellin oben ankommt. Der Weg ist weit, es gibt viele ­Stufen. Als alle da sind, müssen sie den Tisch von der Wand abrücken und Stühle dazu­holen, weil wieder neue Gesichter dabei sind.

An einer Tischecke sitzt Leolo, dunkle Locken, feine Gesichtszüge, leise Stimme. Er ist Schüler an einem Leipziger ­Gymnasium. Welches genau? Das ist für ihn nicht so ­wichtig an diesem Nachmittag im Februar. Er will nicht, dass sein Problem als das einer bestimmten Schule gilt. Oder als ein sächsisches Problem. Leolo geht es ums System. Er war nur der Erste, der den Stein ins Wasser ­geworfen hat, wo er nun Kreise zieht. Obwohl – der Erste? So einfach ist das nicht.

Es hatte sich was angestaut in Leolo kurz vor Weihnachten 2021. Draußen war es längst dunkel, er musste spätabends noch was fertig machen für die Schule. Was genau, weiß er nicht mehr. Aber an das Gefühl damals erinnert er sich noch: "Alles ist übergekocht. Scheiße, das kann doch nicht sein, dass ich immer noch hier sitze." Leolo war "ausge­laugt, extrem fertig und verzweifelt", nahm sein Handy und tippte einen Text in seine Notizapp: "Ich hätte gern mein Leben zurück. Meine Zeit und die glücklichen Momente, die ich mit tollen Menschen haben könnte." Als er fertig war, kopierte er den Text in eine Mail und schickte alles an einen Freund. Betreff: "Das denke ich gerade", letzter Satz: "Ich kann nicht mehr."

Anne Schulze

Iona Dutz

Iona Dutz, ­Foto­grafin, fragte nach, was "Bulimielernen" ist: Der Stoff wird auswendig ­gelernt, um ihn ­später "auszukotzen" und wieder zu ­vergessen – ein ­krankendes System.
Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann dachte bei seinem Besuch oft an eine Projektwoche zur ­Solarenergie in der 9. Klasse. Diese eine Woche war für ihn prägender als acht Jahre Physik­unterricht.

Heute erzählt Leolo, 17 Jahre, 11. Klasse:

Als Kind habe ich mich auf die Schule gefreut. Ich bin ein neugieriger Mensch, ich möchte etwas lernen. In der Grundschule hatte ich nie Probleme und viel Spaß. Ab der 8. ­Klasse wurde es stressiger. In fast allen Fächern geht um pures, stupides Auswendig­lernen. Sehr schwierig war die 10. Klasse, in der wir in Sachsen die BLF schreiben, die ­Besondere Leistungsfeststellung. Danach hat man ­einen Realschulabschluss. Die BLF besteht aus ­gro­ßen Tests in Mathe, Deutsch und ­Englisch. ­Dazu kommt eine Facharbeit. Das fiel in die Corona-­Zeit, in der es mir ­besonders ­schwerfiel, überhaupt etwas für die Schule zu ­machen.

Dass Schule kein unbedingt lustiger Ort ist, hatte ich vorher schon verstanden. Auch meine Freund*innen haben verinnerlicht, dass es uns wegen der Schule schlechtgeht. Wenn wir uns abends oder am Wochenende treffen und die Rede kommt auf die Schule, sagen alle: "Nee, fang nicht damit an, ich will einmal nicht an Schule denken müssen!"

Leolo denkt darüber nach, die Schule abzubrechen

Mir geht es psychisch schlecht. Ich ­schlafe nicht gut. Alles fühlt sich an wie taub, und ich habe keinen Antrieb. Wir bekommen beigebracht, gehorchen zu müssen. Es wird ­extrem normalisiert, dass man sich in der Schule schlecht fühlt. Die Menschen merken nicht mehr, dass das falsch ist. Ich überlege, ob ich das Abitur nicht mache, sondern eine Aus­bildung anfange.

"Jetzt reiß dich mal zusammen!" – Ja, den Satz höre ich häufiger. Und ich sage ihn mir selbst immer wieder vor. Das ist gefährlich. Das Wichtigste im Leben ist, zu lernen, was einem guttut. Aber die Schule bringt mir bei: Du bist krank? Macht nichts! Komm trotzdem.

Der Freund, dem er damals die Mail geschickt hatte, hatte sofort verstanden, was Leolo ­meinte. Das war tröstlich. Aber was würde sich ändern, wenn die Schülerinnen und Schüler voneinander wüssten, dass es ihnen schlechtging? Nichts. Also schickte er seine Zeilen auch an eine Lehrerin, der er vertraute. Sie ­holte ihn am nächsten Tag aus dem ­Unterricht. "Wir müssen mal reden, ­Leolo." Die Lehrerin fragte, ob sie die ­Notizen auf ­ihrem Rechner speichern und weitergeben dürfe, ­anonym, ohne Namen. Leolo stimmte zu. Sein Frust war über Nacht zu einem Brief ­geworden, der an der Schule die ­Runde machte, kurz vor Weihnachten 2021. Es ­sickerte durch, wer der Autor war – Leolo.

Lernen, lernen, lernen! Druck, Druck, Druck!

Briefe waren in den Monaten zuvor auch schon geschrieben worden an der Schule. Das hatte mit Corona zu tun. In Deutschland ­waren Grundschulen zwischen Januar 2020 und Mai 2021 im Schnitt an 64 Tagen ­geschlossen, weiterführende Schulen noch 20 Tage länger – das sind 17 Schulwochen. Länger als in ­vielen anderen Ländern gab es Wechselunterricht. Die Klassen wurden geteilt und beide ­Gruppen waren abwechselnd in der Schule oder zu Hause. Zählt man alles zusammen, war der Unterricht an 186 Tagen gestört. Ein halbes Jahr. Die Schülerinnen und Schüler müssen Stoff nachholen.

Lernen, lernen, lernen! Druck, Druck, Druck! – Das war die Stimmung unter den Schülerinnen und Schülern in Leipzig. Auch in Josis Klasse. Sie sitzt mit am Tisch im Waldstraßen­viertel und berichtet, dass sie gemeinsam mit anderen auch schon einen Brief geschrieben hatte. Weil sie unter dem Stress litten. Weil sie zu viele Klausuren und Tests in einer Woche hätten schreiben müssen.

"Lernstands­erhebungen", murmelt jemand in der Runde. Den Fachjargon haben alle hier verinnerlicht, oft reden sie von "Lehrpersonal", selten von Lehrerinnen oder Lehrern. Und wenn, dann sind es "Lehrer*innen". Mit Sprache gehen ­alle am Tisch bewusst um, Gendern ist selbstverständlich, niemand macht mehr Worte darum.

Mit Leolos Brief kamen die Emotionen in die Schuldebatte

Der Brief von Josi und ihrer Gruppe versandete. Alles ging weiter wie vor Corona, nur noch schneller. Die Pandemie, das sagen alle am Tisch, sei ohnehin nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht ­habe. Probleme mit Schulstress habe es vorher schon viele gegeben. Mit Leolos Brief kamen die Emotionen in die Schuldebatte. Endlich hatte jemand Worte für ein Gefühl gefunden, das viele umtrieb.

Schnell landete der Brief im Schüler*innenrat. Sprecherin damals: ­Josi. Sie trommelte alle Klassensprecherinnen und -sprecher zusammen und bat Leolo, seinen Brief vorzulesen. Hinterher waren alle still, minutenlang. Der Schüler*innenrat rief die Schulgemeinde auf, über die Weihnachts­ferien Briefe zu schreiben. Josi selbst schrieb mit der Zeit drei Briefe. Sie ist eine resolute junge Frau, die sich in der Runde schnell Gehör verschaffen, aber auch gut zuhören kann. Sie wirkt reflektiert und selbstbewusst. Als sie ihre eigenen Briefe über die Schule schrieb, habe sie weinen müssen.

Josi, 18 Jahre, 12. Klasse, erzählt:

Von Sonntag auf Montag schlafe ich immer schlecht, sogar in den Ferien. In mir sitzt der Gedanke: Montags geht wieder eine Kack­woche los. Habe ich genug gelernt? O Gott, die Woche darauf ist wieder eine Klausur! Es ist das Grauen davor, in die Schule zu gehen.

Ich konnte mich immer gut anpassen ans Schulsystem. Ich bin sehr ehrgeizig. Aber wenn ich Stress habe, wird mir übelst schlecht. Ich denke, ich muss mich komplett übergeben. Das war früher nicht so. Alle wissen, mentale und körperliche Gesundheit hängen zusammen. Ich war seit ­Oktober fünfmal krank Erkältungen, Grippe, Angina. Dadurch hatte ich noch mehr Stress, denn ich musste Stoff nachholen und Klausuren nachschreiben. Ich hatte immer einen Einserschnitt. In der Oberstufe bin ich runter in den Zweier- und Dreierbereich.
Ich mag Schule, ich lerne gern, aber nicht so. Schule besteht aus Frontalunterricht. Jemand steht vorn und es wird erwartet, dass du das, was die Person erzählt, in der Woche darauf komplett kannst. Wenn ­eine Klausur ansteht, gibt es in der Woche davor keine Wiederholung des Stoffes, sondern wir machen immer schon mit dem nächsten Inhalt weiter.

Was mich aufregt, ist dieser eine Satz: "Ach, Josi, dann bist du eben ein Einzelfall!" Die ganzen Briefe beweisen das Gegenteil! Manchmal höre ich noch einen anderen Satz: "Da musst du durch, hat mir auch nicht ­geschadet!" Ich kann darauf nur mit Mitleid antworten. Tut mir leid, dass ihr auch so eine Kacke erlebt habt! Horcht mal in euch hinein, was die Schulzeit mit euch gemacht hat!

Josi möchte sie fürs Reallabor arbeiten

Nach Neujahr hingen bald 70 Briefe in der Schule aus. Und ­waren dort auch noch zu lesen, als ­Margret Rasfeld einen Vortrag in der ­Schule hielt und durch die Flure streifte. Auch sie sitzt, mehr als ein Jahr später, mit am Tisch bei Ute Puder. Dass die beiden Frauen zueinandergefunden haben, ist ein großer Zufall.

Margret Rasfeld war ­Schulleiterin, in Berlin baute sie die ESBZ mit auf, die Evangelische Schule Berlin Zentrum. 2016 wurde sie pensioniert, kämpft aber weiter für ein besseres Schul­system. Sie bezeichnet sich als Bildungsaktivistin, schreibt darüber Bücher, ist Mitbegründerin der Initiative "Schule im Aufbruch". Sie zog nach Leipzig. Auf ­einer Veranstaltung lernte sie Ute Puder kennen, eine Künstlerin mit Pagenschnitt, die an ­Leipziger Schulen Workshops anbot. Am Ende eines Kurses hatten ihr Jugendliche ­offenbart: "Sie können uns nicht alleinlassen, 70 Prozent von uns sind ­depressiv." Die beiden Frauen hatten ihr Thema gefunden: eine "Friedliche ­Bildungsrevolution" anstoßen.

Noten nehmen ihr die Freunde am Lernen

Ute Puder gehört die Wohnung, in der die Jugendlichen sich heute treffen. In der Runde ergibt nun ein Wort das andere. Wer etwas sagen möchte, meldet sich. Nicht alle möchten mit ihrem Namen zitiert werden. Je länger das Gespräch dauert, desto mehr geht es um das Lebensgefühl der Jugendlichen, auch abseits der Schule. Und um Systemkritik. Eine Neunt­klässlerin, die ein Gymnasium besucht, sagt: "Es gibt so viele Missstände, die Klimakrise, die wachsende Armut. Ich warte auf den ­Untergang. Wofür lebe ich hier noch?"

Das ruft Josi auf den Plan: "Das Klima kippt. Aber Hauptsache, wir können auswendig, was die Redoxreaktion ist. Es geht immer nur um ­Noten, ums Vergleichen. Damit ­werden wir zum Hass angestiftet." Wie meint sie das? Josi sagt, Noten nehmen ihr die Freude am Lernen. Das seien nur Zahlen, die nichts ­aussagten über Menschen. Es gehe um Konkurrenz, auch unter den Schulformen. "Viele denken: Die Oberschüler sind richtig dumm und rauchen die ganze Zeit. Und die denken, auf dem ­Gymnasium sind wir alle Spießer, aber verticken übelst die Drogen", sagt Josi.

Martha sitzt neben ihr, sie besucht ­eine Oberschule. Sie ist die Stillste an diesem Nachmittag, kein Wunder, denn sie ist noch neu bei den Bildungsrebell*innen. Alle freuen sich darüber. Die Gruppe will offen sein, keine Gymnasialveranstaltung werden.

Martha, 16 Jahre, erzählt:

Ich habe noch nicht den Eindruck gehabt, dass Gymnasiasten auf mich herabblicken. Aber von anderen weiß ich, dass sie das ­denken. Mich stört das Bewertungssystem. Noten üben Druck aus. Von den Lehrer*innen kommt kein Verständnis, wenn man mal eine schlechtere Note schreibt. Sie gucken fragend, nach dem Motto: Was ist da passiert? Noten ­verstärken das Konkurrenzdenken unter den ­Schüler*innen. Das nimmt mich mit.

Martha möchte Abitur machen

Ute Puder, die Gastgeberin, und Margret Rasfeld hören den Erzählungen der Jugendlichen zu, ­kommentieren sie aber anfangs nicht. Doch mit der Zeit rutscht Margret ­Rasfeld ­unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. "Sehr viele ­Schülerinnen und Schüler sind krank", sagt sie. Vielleicht gehen ihr schon die kommenden Vorträge durch den Kopf. Rasfeld ist ­bundesweit ­unterwegs, bald wird sie im Rheinland erwartet. Wenn sie ­erzähle, komme es vor, dass bei Eltern oder Lehrerinnen die Tränen kullern, so berührt seien sie, "weil alle mitlaufen im Hamsterrad".

Ortswechsel; der Evangelische Kirchenverband Köln und Region hat zum "schul­politischen Aschermittwoch" geladen, ­Rednerin: Margret Rasfeld. Sie spannt den großen ­Bogen, setzt an bei der Umweltkrise, dem "Earth Overshoot Day", an dem wir die Ressourcen verbraucht haben, die uns die ­Natur in einem Jahr zur Verfügung stellen kann. Im vorigen Jahr war das für Deutschland der 4. Mai.

"Wir hätten an diesem Tag an jeder Schule eine Schulversammlung ­einberufen müssen", ruft Rasfeld in den Saal, "aber der Unterricht ging einfach weiter." Ein Mikrofon braucht sie nicht, ihr Publikum – Mitarbeitende aus der Schulverwaltung, Schulleiterinnen und -leiter – wird immer stiller. "Warum sind wir so zerstörerisch ­unterwegs?", fragt Rasfeld.

"Schule ignoriert Gefühle und Körper"

Ihre These: "Wir alle haben ein Bildungs­system durchlaufen, in dem wir nicht gelernt haben, den Krisen ­unserer Zeit zu begegnen." Besserung? Ist für sie erst mal nicht in Sicht: Rasfeld zitiert Studien: Sieben Prozent der Jugendlichen in Deutschland seien suizid­gefährdet, knapp 30 Prozent berichten von einer Depression. Und fast 90 Prozent machten sich große Sorgen um die Zukunft, fühlten sich aber ohnmächtig, selbst etwas bewirken zu können.

"Die Schule findet heute nur im Kopf statt, ignoriert Gefühle und Körper und tut alles dafür, den Kindern die Begeisterung fürs ­Lernen zu nehmen." Rasfeld schimpft über die "Arbeitsblätterschule" und fragt ihr erwachsenes Publikum: "Stellen Sie sich vor, Sie würden ­ständig überprüft und erhielten für alles, was Sie tun, eine Ziffernnote – wir ­würden das nicht aushalten!" Sie blickt in ernste Gesichter. "Die Schule hat zwei große Eltern, das Militär und die Kirche. Das Militär bringt den Drill, die Kirche die Belehrung."

Rasfeld wundert sich, warum viele von einem sozialen Pflichtjahr für alle träumten. ­"Warum denn nach der Schule? Es wäre ja ganz gut, wenn Kinder in ihrer Schulzeit lernen, was Empathie ist!"

Lösungen für Probleme im direkten Umfeld suchen

Am Ende zeigt sie einen kurzen Film, in dem Kinder vom "Frei Day" erzählen, so heißt eine ihrer Ideen: An einem Tag in der Woche lernen Kinder fächer- und jahrgangsübergreifend, indem sie in Teams Lösungen für Probleme suchen, die es in ihrem direkten Umfeld gibt – zum Beispiel, was man gegen das Insektensterben tun kann. Das Thema wählen die Kinder selbst. Auch dabei lernen sie Rechnen und Schreiben, Geschichte und Sachkunde – tun aber etwas Konkretes.

Untermalt von Geige und Klavier sagt ein Mädchen: "Wir brauchen Menschen, die wirklich daran glauben, die Welt wieder so richtig aufleben zu lassen, die sich wirklich dafür einsetzen und sich stark machen zusammen." Das Publikum ist gerührt. 111 Schulen in Deutschland haben den "Frei Day" eingeführt, bis 2025 sollen es 13 500 sein, haben sich Rasfeld und ihre Mitstreiterinnen vorgenommen.

Zurück in Leipzig erzählt Lara, 12. Klasse, 18 Jahre:

In der 10. Klasse sind wir aus dem zweiten Lockdown gekommen und wurden bombardiert mit Klassenarbeiten und Tests, weil die Lehrer uns nicht benoten konnten, während wir zu ­Hause waren. Im Januar 2022 haben wir in einem Monat sieben Klausuren geschrieben. In ­dieser Zeit war Leolos Brief ein großes Thema. Er hat einfach zu mir gesprochen – zu uns allen. ­Unsere Deutschlehrerin opferte sogar zwei Stunden und redete mit uns über die Situation.

Ich mag Schule, ich liebe die Idee ­dahinter, aber es muss mehr Bezüge zu aktuellen ­Themen geben. Wir Rebell*innen haben die Laborschule Bielefeld besucht. Es gibt Alternativen, auch zu Noten. Denn die bekommen die Schüler*innen dort an der Laborschule erst in der 9. ­Klasse. Es funktioniert. Die sind nicht alle dumm, nur weil sie nicht Bulimie­lernen müssen!

Ich schlafe meistens schlecht ein, weil mir das Horrorszenario durch den Kopf geht: ­Schaffe ich mein Abi nicht, schaffe ich mein ­Leben nicht. Ich weiß auch von anderen, dass sie bis tief in die Nacht hinein ­arbeiten und lernen. Ich habe oft ganz schlimme Bauch­schmerzen. Mein Herz rast ganz doll, ich ­zittere. Viele Mitschüler*innen haben ­Kopfschmerzen. Manche melden sich krank, ­nehmen sich ­einen Tag Auszeit, weil sie nicht mehr können, und schlafen erst mal. Die ­kommen aber in ­einen Teufelskreis, weil sie dann wieder mehr nachholen müssen. Ich kenne einige, die an ­Depressionen leiden.

"Notenstress? Kommt endlich im richtigen Leben an"

Wie Josi wirkt auch Lara selbstbewusst, gebildet, neugierig. Wer sie oberflächlich ­kennenlernt, würde nicht denken, dass Schule ihr Probleme bereitet. Tut sie aber. Lara spricht von "Leistung ohne Sinn". Für sie ist nun das Wichtigste: "Wir müssen gut ­kommunizieren, damit wir die Skeptiker überzeugen." Ein dickes Brett, damit hat sie schon Erfahrungen gesammelt.

Auf ihrem Handy ruft sie die ­Facebook-Seite der "Leipziger Volkszeitung" auf, die über die Bildungsrebell*innen und das Reallabor, das sie gerade gründen, ­berichtet hatte. Sie scrollt durch die Kommentare. "Völlig übertrieben, wenn lieber chillen und entspannen im Vordergrund ­stehen soll . . . was soll das denn später werden im Berufs­leben . . . kann das nicht nachvollziehen. Ohne Fleiß kein Preis", schreibt ein Mann. Ein anderer fragt: "Notenstress? Kommt endlich im richtigen Leben an."

Viele Kommentare sind abwertend, aber es gibt auch Zustimmung. Eine Frau schreibt: "Es stimmt, wenn ­Kinder, Jugendliche, Erwachsene schildern, dass ­unsere Gesellschaft, Wirtschaft nur auf Leistung getrimmt sind."

Lara möchte ein Jahr Auszeit

Übertreiben die Jugendlichen aus Leipzig mit ihrer Kritik? Zahlen aus der Wissenschaft belegen, dass es vielen jungen Menschen schlechtgeht. Tobias Renner, Direktor der ­Abteilung Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter am Universitätsklinikum Tübingen, sagt: "Die Warteliste für Jugendliche, die in ­unserer Tages­klinik behandelt werden sollen, ist regel­recht explodiert. Wir haben auch so viele ­stationäre Aufnahmen wie noch nie." Renner verweist auf den Kinder- und Jugendreport 2022. Demnach haben neu diagnostizierte Depressionen bei Mädchen von zehn bis 14 Jahren um mehr als 20 Prozent zugenommen.

Lara, Martha, Josi und Leolo kritisieren nicht nur. Sie haben sich eingearbeitet ins Thema und eigene Vorschläge im Kopf, wie Schulen ein besserer Ort werden können.

Leolo sagt:

Natürlich ist Schule nicht komplett sinnlos. Sie gibt uns Methoden und Werkzeuge mit auf den Weg. Aber Schule sollte weniger Wissen ein­trichtern, sondern uns für Themen ­begeistern. Kinder und Jugendliche sind interessiert an so vielen Dingen. Sie lernen sie ganz freiwillig, weil es ihnen Spaß macht. Die Schule, die ich mir wünsche, sollte mich motivieren, mich mit Sachen zu beschäftigen. Damit wir aus ­eigener Überzeugung lernen, intrinsisch, denn nur ­dieses Lernen ist nachhaltig.

Der Zwang im Schulsystem ist schädlich. Die Schule sollte uns beweisen, dass etwas sinnvoll ist, damit wir es lernen. Und sagen: "Du interessierst dich für etwas? Das ist ­super! Dabei helfe ich dir!" Wenn Schule so an die Sache herangehen würden, wüssten alle: Es macht Sinn, zu lernen.

Josi sagt:

Ich wünsche mir, dass wir vom Konkurrenzdenken wegkommen und Schule als Gemeinschaftsort denken. Und nicht als einen Ort, an dem wir alle so handeln wie Roboter, die Leistung ausspucken. Mit Noten schürt man Hass, weil man sich immerzu vergleicht. Es ist belastend, wenn man von solch negativen ­Gedanken umgeben ist.

Und Lara sagt:

Statt Noten wünsche ich mir Beurteilungen der Lehrer*innen. Sie könnten aufschreiben: "Bei diesem Thema hast du dich voll eingebracht, warst motiviert, aber es gibt noch Punkte, an denen du arbeiten kannst." Das ist so viel besser als eine "3"! Die Stärken sollten hervorgehoben werden. Die Schwächen auch, aber immer mit einem Hinweis: "Wie kann ich dir als Lehrerin helfen? Und was kannst du tun, um dir selber zu helfen?" Besonders für Jüngere ist das besser als eine Note!

Der Nachmittag ist rum, das ­Treffen vorbei. Nach und nach stapfen die Bildungsrebell*innen wieder das Treppenhaus hinunter, steigen auf ihre Fahrräder und verschwinden in ihrem Alltag. Bald treffen sie sich wieder, sie haben einen Raum in der Leipziger Innenstadt gemietet, für ihr Reallabor, in dem sie zeigen ­wollen, welche Ideen sie für gute ­Bildung ­haben. Alle sind willkommen – Kinder, ­Jugendliche, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Interessierte. Niemand sollte darauf setzen, dass die Bildungsrebell*innen ihr Ziel aus den Augen verlieren. Es ist schließlich schon mal vorgekommen, dass eine Friedliche ­Revolution in Leipzig ihren Lauf nahm.

Infobox

Liebe Leserinnn, liebe Leser,

zum Thema dieses Textes veranstalten wir am 5. Mai 2023 von 12 bis 12.45 Uhr ein Webinar im Internet. Sie können sich hier kostenlos anmelden. Darum geht es:

Macht die Schule krank? – Ein Webinar über psychische Probleme von Jugendlichen

Die Wartelisten in der Kinderpsychiatrie explodieren, Schüler und Schülerinnen leiden unter Angst und Stress. Wie kann man ihnen helfen? Die ehemalige Schulleiterin Margret Rasfeld kämpft für eine bessere Schule. Der Kinderpsychiater Jakob Hein berichtet aus seinem Alltag.

Antwort auf von Bertram von Ne… (nicht registriert)

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Sie haben ja so Recht. Diese  Weinerlichkeit und der Mangel an Selbstwertgefühl ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Infantilisierug. Die hat als Voraussetzung, dass ALLES leichter, spaßiger, bequemer, "fauler" und schneller gehen muss. Wer nur das von dem lernt, was er später zu brauchen glaubt, hat bei Bedarf von Allem zu wenug. Wenn was hakt, wird umgehend als Allzweckgrund eine  posttraumatische Belastungsstörung gefunden. Ein kleiner Schnitt, 5 Tropfen Blut, kein eigenes Pflaster,  die Notaufnahme hat stramm zu stehen. Der Jugend wird nur wenig zugetraut. Die hat das Angebot dankend angenommen. Zum Glück betrifft das wohl nur eine Minderheit, aber die gibt "einen" Ton an. Die süßliche Begleitung des Glaubens hat daran ihren Anteil. Eine leichte Tour führt vielfach zum billigsten Ergebnis. Alle waren schon da, als ich kam. Zensur: Hat teilgenommen

Antwort auf von Bertram von Ne… (nicht registriert)

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Ich denke, dass viel Druck und "krank sein" davon kommt, dass heute stellenweise bis zu 70% der Grundschüler*innen unbedingt ans Gymnasium müssen, obwohl bei Weitem nicht alle dafür geeignet sind. Das allein erzeugt natürlich Druck und Stress (ich erlebe es täglich). Stures Auswendiglernen ist schon lange nicht mehr alleiniger Bestandteil der Bildung, schon gar nicht in der Oberstufe; in den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich die Lehrpläne vielerorts in Richtung Kompetenzerwerb geändert. Natürlich braucht es einen Grundstock an Wissen (Formeln, Vokabeln, historische Fakten etc.), um später Zusammenhänge herstellen zu können, Texte zu analysieren und schreiben zu können, Hörtexte in einer Fremdsprache zu verstehen und zu verfassen und zu kommunizieren sowie mathematische Aufgaben zu lösen. Es ist außerdem ein Problem der gesamten Gesellschaft, nicht unbedingt nur des Schulsystems, dass man es "nur schafft, wenn man Abitur hat" und andere Abschlüsse nicht mehr angesehen sind, obwohl mittlerweile bekannt ist, dass man in manchen Ausbildungsberufen ein höheres Lebenszeiteinkommen hat als in manchen akademischen Berufen, weil man auch viel eher anfängt Geld zu verdienen. Schule spiegelt immer auch die Gesellschaft wieder; man macht es sich leicht, einfach alles auf das "kaputte System" zu schieben. Dann ist es die Gesellschaft, in der wir leben, auch und vielleicht sollte man da mal ansetzen. Echten Stress habe ich persönlich nach Abitur und Studium auch erst im Job erfahren.

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"Nach dem Abi nehme ich eine Auszeit um mich selbst zu finden". Wer es bis dahin nicht ansatzweise weis, muss wohl geträumt haben. Zugegeben, das fällt einigen ein Leben lang schwer. "Untermalt von Geige und Klavier...". Alles zu seiner Zeit. Wer ein Instrument beherrscht, verfügt über eine hohe IQ--Leistung. Die Untermalung aber zur Leistungssteigerung nötig zu haben? Ein grosser Teil der Beiträge ist mit Tränen und "Sanftmut" (wörtlich zu verstehen) statt "Saft" geschrieben. Bitte endlich vom imaginären Kindergarten abmelden. Wir sind alle Opfer des leichten Weges, des Wohlstandes und sind überrascht, dass die Welt "da draussen" brutalere Überlebenskämpfe hat. Unser ganzes Dasein baut darauf, dass es uns gelungen ist, andere Völker und Kulturen für uns arbeiten zu lassen. Die Hiwis auf den Feldern, die "Werkbänke" in Asien, das Obst aus Spanien u. Marokko, die Rosen aus Kenia und alle Bodenschätze importiert. Als Antwort darauf unsere Empfindlichkeiten. Aufwachen! Unser Zuckerguss beginnt zu schmelzen. Ein leichter Weg führt oft zu einem billigen Ergebnis.

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Was für ein Gegensatz! Die Einen tummeln sich tagelang in Wacken in Schlamm und Kälte und geniessen die Pop-Lautstärke. Andere wälzen sich vor Kummer über den Mangel an Resilenz im wohligen Bett hin und her mit Geige- und Klavier-Begleitung.

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An der Bildung wurde immer was zu Recht kritisiert. Sie wurde missbraucht und nach Belieben verbogen. Generationen wurden mit ihr verunstaltet. Monarchie, DDR und NS-Zeit, Mengenlehre, Schreiben nach Gehöhr, extremes Gendern. Die Fäkalinjurien wurden als Bildung salonfähig. Die Bildung konnte durch den leichtesten Weg mit den Softfächern (wie es mir beliebt) bewiesen werden. Wir wollen abgeholt und mitgenommen und die Kindergartenzeit sollte psychisch ausgedehnt werden. Alle Psychiater jubeln über die neue lebenslange Klientel. Alles überzogen formuliert! Was dran ist, kann sich jeder aussuchen. Aber die letzten tränenreichen Kommentare der Betroffenen sind eindeutig. Sie sollten lieber für alle Länder einen gleichen ideologiefreien Bildungskanon fordern, der auch alle Naturwissenschaften enthält. Der Verlust an Allgemeinwissen rächt sich bitterlich, wenn man sich blamiert, weil man zwischen Schaf und Ziege (Beispiel) nicht mehr unterscheiden kann. Zu wissen, wer Madonna ist, ist für das Leben uninteressant. Den Zuammenhang weit hergeholt, aber auch die Frauen sind bei der WM bereits in der Vorrunde ausgeschieden. Wie die, die ihr Leben nicht schaffen.

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