Windsbacher Knabenchor
Martin Lehmann und der Windsbacher Knabenchor
Milan Pavan
"Es wird dauern, bis wir die Qualität wieder erreichen"
Chorproben per Zoom? Online-Stimmtraining? Da geht viel verloren, sagt Martin Lehmann, Chorleiter des Windsbacher Knabenchors .
Tim Wegner
21.04.2021

chrismon: In welchem Alter kommen die Jungen in den Windsbacher Knabenchor?

Martin Lehmann: Die meisten sind zehn Jahre alt und gehen in die fünfte Klasse.

Wie viele Jahre bleiben, um ihre Stimme auszubilden?

Etwa drei Jahre, dann kommt der Stimmbruch. In diesen drei Jahren haben sie einmal die Woche einzeln Stimmtraining und jeden Tag von 17 bis 18.30 Uhr Chorprobe. Sie wohnen bei uns im Internat und besuchen Schulen hier im Ort oder im Nachbarort.

Wie wirken sich die Lockdowns aus?

Die Jungs sind zu Hause bei den Eltern und haben digitalen Schulunterricht. Mehrfach in der Woche treffen sich unsere Erzieher und Erzieherinnen mit ihnen online zum Lernen, Spielen oder Reden. Auch die Chorproben und das Einzelstimmtraining finden online statt, wesentlich kürzer als sonst und mit großen Einschränkungen. Wenn alle gleichzeitig singen, kommt es zu Rückkopplungen, und die Zeitversetzung bei den Übertragungen führt zu Chaos. Deshalb bitten wir die Jungs, das Mikro auszumachen, wenn sie singen. Wir sehen dann nur, wie sie ihre Münder bewegen. Auch daran können wir viel ablesen, aber wir hören sie eben nicht.

Martin Lehmann

Martin Lehmann, Jahrgang 1973, leitet seit 2012 den Windsbacher Knabenchor. Er studierte Chorleitung an der Musikhochschule "Carl Maria von Weber" in Dresden und arbeitete mit zahlreichen Chören und Orchestern wie dem Freiburger Barockorchester, der WDR Big Band und der Akademie für Alte Musik in Berlin zusammen. Sein Repertoire umfasst die großen oratorischen Werke von Bach, Händel, Mozart, Mendelssohn sowie die geistliche und weltliche A-cappella- Chormusik aller Epochen. Mit dem Windsbacher Knabenchor nimmt Lehmann an bedeutenden Festivals teil, in Deutschland ist der Chor unter anderem in der Alten Oper Frankfurt, im Konzerthaus Berlin oder in der Thomaskirche in Leipzig zu hören, im Ausland im Concertgebouw Amsterdam oder im Palau de la Música Catalana in Barcelona. Auch in der Sixtinischen Kapelle und im Petersdom in Rom konnte der Chor bereits auftreten.

Wie stellen Sie fest, ob alle mitkommen?

Wir lassen Einzelne vorsingen und ziehen daraus unsere Rückschlüsse. Wenn ein eher langsamer Lerner die Stelle sehr schön singt, dann vermuten wir, dass alle sie können. Wenn ein begabter Lerner die Stelle nicht kann, dann können die anderen sie vermutlich auch nicht. Aber es bleibt ein großes Raten. Auch das intensive Gemeinschaftserlebnis, den Klang körperlich zu spüren, mitunter Gänsehaut zu bekommen, fällt weg.

Jeder sitzt also vor dem Computer und singt allein vor sich hin?

Genau. Die eigene Stimme hört sich aber anders an, wenn zugleich ein Bass oder Alt singt, dann ist es viel schwieriger, die Einsatztöne zu finden und die Stimme zu halten. Verloren geht auch das Verständnis für das, was die Chorleiter anzeigen: laut, leise, kräftig. Die Jungen können also insgesamt viel weniger als andere Jahrgänge, ihr Repertoire ist kleiner, und sie kommen durch diese Situation auch früher in den Stimmbruch.

Warum?

Weil die Stimme viel weniger trainiert wird, sackt sie früher in den Stimmbruch. Ich habe sonst sieben bis zehn Jungs im Jungmännerchor, jetzt sind es 22.

"Ein Ziel vor Augen zu haben, ist für Kinder ganz zentral"

Sind die Jungs trotzdem motiviert?

Das ist schon eine große Herausforderung für Zehnjährige: sich eine Stunde online konzentrieren, die richtigen Töne treffen, auf den Chorleiter hören, sich nicht ablenken lassen von Geschwistern, Eltern, die in den Raum kommen. Dazu kommt, dass einige Fünft- und Sechstklässler noch nie einen Auftritt hatten, weil wir fast alles absagen mussten. Sie wissen gar nicht, worauf wir hinarbeiten. Ein Ziel vor Augen zu haben, ist für Kinder ganz zentral. Das ist jetzt so, wie wenn man sagt: Du bist zwar FC Bayern, aber du weißt gar nicht, was grüner Rasen ist, auf dem du mal spielen wirst.

Gab es in den vergangenen Corona-Monaten Phasen, in denen die 130 Kinder und Jugendlichen im Internat leben und mit Abstand proben konnten?

Ab einer Inzidenz von 100 müssen wir Schule und Internat schließen. Vor den Osterferien hatten wir aber mal 14 Tage, wo die Jungs im Internat wohnen durften, weil unser Landkreis unter 100 lag. Auch von September bis Dezember war der Chor beisammen.  

Wie liefen da die Proben ab?

Maximal 60 Minuten mit Belüftungspausen und mit zwei Metern Abstand. Je nach Raumgröße konnten wir kleine Ensembles mit 15 bis 30 Sängern bilden. Zum Glück hat unser größter Chorsaal eine Belüftungsanlage, die die verbrauchte Luft nach oben absaugt. Da konnten wir mit maximal 40 Jungen proben, wir sind aber ein Chor von 130 Sängern. Die gemeinsamen Proben unter Corona-Bedingungen haben dennoch einen positiven Effekt: Die Jungen lernen aufgrund des größeren Abstands zueinander, mehr aus sich herauszugehen. Das stärkt nachhaltig das Selbstvertrauen, vor allem das der jüngeren Sänger.

"Wir merken, dass in der Gesellschaft religiöse Bindungen abbrechen"

Hatten Sie einen Corona-Fall im Internat?

In den Osterferien hatten vier Sänger Corona, da waren sie aber zu Hause. Und vermutlich hatten wir im Februar 2020 einen Fall, der aber damals noch nicht richtig diagnostiziert wurde.

Sie sorgen sich, dass dem Windsbacher Knabenchor der Nachwuchs ausgehen könnte. Warum?

Wir merken, dass in der Gesellschaft religiöse Bindungen abbrechen. Wir singen zum großen Teil geistliche Musik, für einen Jungen, der damit gar nichts anfangen kann, wird es schwierig. Früher war es natürlich auch leichter, eins von drei Kindern ins Internat zu geben. Wenn sie nur ein Kind haben, vielleicht alleinerziehend sind, trennen sie sich vermutlich schwerer. Zudem hat Corona verhindert, dass wir in den Grundschulen für uns werben können. Wir sind jetzt verstärkt in den sozialen Medien aktiv und veranstalten unsere Nachwuchstermine wie Elternabende oder Vorsingen online. Auf diesem Weg finden vor allem Eltern zu uns, die schon überlegen, ob das etwas für ihr Kind sein könnte. In den Schulen finden wir hingegen oft Jungen, die musikalisch sind oder eine wunderschöne Stimme haben und deren Eltern nicht an einen Knabenchor gedacht haben.

Wie viele Kinder nehmen Sie normalerweise pro Jahr auf?

20 bis 25 Kinder. Vergangenes Jahr waren es nur 18, wir fürchten, dass es dieses Jahr weniger werden könnten. Klar gab es auch ohne Corona immer mal wieder einen Jahrgang, der kleiner war. Solange es sich um einen Jahrgang handelt, können wir das kompensieren. Aber wenn es mehrere Jahrgänge werden, reißt das eine Lücke, die wir schwer schließen können.

"Knabenchöre sind so eine Art Dinosaurier der Chormusik, sie sind ein schützenswertes Kulturgut"

Wie gravierend sind die finanziellen Ausfälle wegen der abgesagten Konzerte?

Die können wir ganz gut ausgleichen durch die Zuschüsse der bayerischen Landeskirche, durch die staatlichen Corona-Hilfen und Kurzarbeitergeld. Wenn das Internat geschlossen ist, müssen wir unsere 70 Mitarbeitenden in Kurzarbeit schicken. Wann es wieder einen Konzertmarkt geben wird, ist ungewiss. Diesen März wollten wir das 75-jährige Bestehen unseres Chores feiern. Das haben wir auf Herbst und nächstes Jahr verschoben.

Ist der Chor in seiner Existenz bedroht?

Das kommt darauf an, wie lang die Einschränkungen andauern. Unser letztes großes Konzert hatten wir am 2. Februar 2020 in der Elbphilharmonie in Hamburg. Der Chor hat fantastisch gesungen, das Publikum war begeistert. Es wird dauern, bis wir diese Qualität wieder erreichen.

Was würde fehlen ohne Knabenchöre?

Knabenchöre sind so eine Art Dinosaurier der Chormusik, sie sind ein schützenswertes Kulturgut: Sie waren die ersten Chöre überhaupt und klingen anders als alle anderen Chöre. Diese Klangqualität würde fehlen. Aber auch gesellschaftlich würde etwas verloren gehen. Es tut gut, auch die sensible, weiche Seite der Jungen herauszulocken und zu fördern. Nicht alle wollen immerzu nur Fußball spielen und sich sportlich auspowern. Dadurch, dass sich alle gemeinsam einer Sache verschreiben, stärken wir das Gemeinschaftsgefühl, den Teamgeist und das Durchhaltevermögen. Das ist mitunter harte Arbeit und läuft nicht ohne Auseinandersetzungen ab, wovon unsere Kinder und Jugendlichen aber langfristig profitieren. Außerdem lernen sie Weltoffenheit und Toleranz, weil sie sich schon im frühen Alter woanders präsentieren müssen. Diese Eigenschaften nehmen sie mit, auch wenn sie später keine Musiker werden.

Musikalische Jungen im Alter von acht bis zehn und ältere Quereinsteiger können sich mit einem Kinder- oder Volkslied bei Chorleiter Martin Lehmann auch per Videokonferenz vorstellen und um die Aufnahme in den Knabenchor bewerben. Anmeldung bei Gaby Haupt: haupt@windsbacher-knabenchor.de, Telefon: 09871 708 200; mehr Infos unter: windsbacher-knabenchor.de/vorsingen

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