Zwei von jedem
Rebecka Lagercrantz
"Ich denke, dass die Liebe retten kann"
Warum Kinder vom Holocaust erfahren wollen und auch sollen. Fragen an die schwedische Autorin Rose Lagercrantz.
27.01.2022

chrismon: Ihr neues Kinderbuch "Zwei von jedem" handelt vom Schicksal zweier jüdischer Kinder aus Siebenbürgen in den 1940er Jahren. Was war der Anlass dafür?

Rose Lagercrantz: Der schwedische Rundfunk hat mich zum Jahrestag "75 Jahre Befreiung von Auschwitz" Anfang 2020 darum ge­beten. Ich wollte Kindern nie vom Holocaust er­zählen – ich will Kinder nicht traurig machen. Ich hatte ja auch schon für Jugendliche und junge Erwachsene über das Thema ­geschrieben – ein eher dokumentarisches Buch.

Erik Sjöström

Rose Elsa Lagercrantz

Rose Lagercrantz, geboren 1947 in Stockholm (Schweden) arbeitete für Rundfunk und Fernsehen, bevor sie begann Kinderbücher zu schreiben. Für ihr Gesamtwerk wurde sie mit der Nils-Holgersson-Plakette und dem Astrid-Lindgren-Preis ausgezeichnet. 2020 erschien bei Moritz der siebte und letzte Band ihrer Reihe über Dunne und ihre Freundin Ella Frida. Bücher: "Zwei von jedem" (Moritz Verlag 2021, 120 S., 14 Euro). Und: "Wenn es einen noch gibt. Ein Familienporträt" (Persona Verlag 2015. 172 S., 17,50 Euro).
Rui Camilo

Stephanie von Selchow

Stephanie von Selchow ist freie Journalistin in Frankfurt am Main. Sie schreibt am liebsten über Menschen und Bücher und Menschen, die Bücher schreiben. Sie arbeitet viel für die evangelische Presse und leitet die Primarschulbibliothek der Europäischen Schule Frankfurt.

Worum geht es darin?

Ich habe mehr oder weniger nur aufgeschrieben, was Familienmitglieder mir über meine Familie berichtet haben. Das Buch heißt "Wenn es einen noch gibt" – ein Zitat von ­meiner Mutter, die die Vernichtungslager überlebt hat. Sie hat immer gesagt: "Hör auf zu fragen, ich verstehe nicht, dass es mich noch gibt." Aber Kindern von dem Entsetzlichen zu erzählen, schien mir ganz unmöglich. Ich habe mich viele Jahre dagegen gesträubt.

"Kinder wollen wissen, und Kinder verstehen"

Was hat Sie umgestimmt?

Nach dem Anruf vom Radio bin ich erst einmal mit dem Hund rausge­gangen. Im Fahrstuhl habe ich eine Nachbarin getroffen, die mich immer fragt, woran ich gerade arbeite. Sie hat selbst einen neunjährigen Jungen. Ich sagte, Kinder wollen doch nichts vom Holocaust wissen, sie verstehen das doch nicht. Da hat sie mich angeschaut und gesagt: Doch, Kinder wollen wissen, und ­Kinder verstehen. Diesen Satz lasse ich in meinem Buch sogar eine Protagonistin sagen.

Was hat er bei Ihnen ausgelöst?

Ich dachte daran, welchen großen Eindruck die Geschichten, die wir als Kinder lesen, auf uns machen. Dass sie oft zu einer inneren Heimat werden. Da wollte ich doch etwas für Acht- bis Neunjährige schreiben. Nur wie?

Haben Sie etwas weggelassen?

Die Gaskammern. Etwa in der Mitte des Buches wird der Erzähler Elias nach Auschwitz de­portiert. Im Buch schreibt er: Jetzt muss ich eine Pause machen. Und das musste ich als Autorin auch.

Und dann?

. . . habe ich eine von Mamas alten Freundinnen angerufen – aus der Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Sie ist über 90, geht viel in Schulen und spricht über das, was geschah, und ist sehr klug. Ich habe gesagt, ich kann Neunjährigen doch nicht von den Gas­kammern erzählen. Da hat sie beinahe ins Telefon geschrien: "Nein! Erzähl’ alles, aber nicht vom Gas!" Das habe ich mir dann erlaubt und den Teil über die Lager kurz gehalten. Ich schreibe aber schon, dass manche Juden in Auschwitz sofort in den Tod geschickt wurden und andere schwer arbeiten mussten. Aber wie es genau war, können Kinder er­fahren, wenn sie alt genug dafür sind.

"Eine Erzählung über das, was sich nicht erzählen lässt"

Im ersten Teil des Buches geht es um die Freundschaft von Elias und seiner Freundin Lulinke.

Sie wachsen zusammen in einem kleinen Ort in Siebenbürgen auf. Ich habe mir gedacht, mach’ es doch nicht gleich so schwer. Ich schreibe Kinderbücher, weil ich so gerne in ganz einfachen Sätzen erzähle, auch wenn es vom Gefühl her nicht unbedingt einfach ist. Astrid Lindgren, die ich gut kannte, hat einmal gesagt: Man muss ungewöhnliche Geschichten mit gewöhnlichen Worten erzählen. Zuerst war also die Freude da, die man vielleicht nur hat, wenn man klein ist. Die Freude am Spielen, am Lachen und am Rennen. Eli und Luli rennen um die Wette und sind Freunde. Ich weiß auch, dass meine Mutter Ella als Kind glücklich war.

Was wissen Sie darüber?

Nicht viel, sie hat erst in ihrem letzten Lebensjahr über ihre Vergangenheit gesprochen. Aber ich habe von anderen gehört, dass sie in einer glücklichen Familie aufgewachsen ist. "Zwei von jedem" ist aber nicht die Geschichte meiner Mutter, sondern ein Märchen. Allerdings ein Märchen, in das sehr viele wahre Begebenheiten und Details verwoben sind, manchmal auch nur ein Name oder ein Satz, den ich vor dem Vergessen retten wollte. Es ist eine Erzählung über das, was sich nicht erzählen lässt.

Im Nachwort schreiben Sie, dass in Märchen das Entsetzliche oft durch die Liebe ausgeglichen wird.

Ja, so ist es. Da gibt es vielleicht die böse ­Hexe, aber dann kommt der Prinz. Oft endet es mit einer Heirat. Das kann auch Konvention sein, aber fast immer gibt es zumindest das Versprechen der Freude und der Liebe. Deshalb dachte ich, ich schreibe erst einmal von einem Jungen und einem Mädchen, die sich sehr gut verstehen. Das gibt es ja bei Kindern. Auch wenn sie damals arm waren. In dem ­Städtchen, aus dem meine Mutter kommt, gab es nicht viele reiche Leute.

Menschen denken, sie haben kein Leben mehr, und plötzlich sind sie erweckt

Was an der Geschichte ist Dichtung, was ­ ist Wahrheit?

Meine Mutter ist wie Eli und Lulinke in Sighet im nordöstlichen Transsilvanien aufgewachsen. Und sie hat das durchgemacht, was Eli durchgemacht hat. Sie war in Ausch­witz, wurde dann ins Arbeitslager in Weißwasser in der Lausitz gebracht und im April 1945 nach Bergen-Belsen. Da bekam sie Typhus wie Eli im Buch. Erfunden ist, dass Eli sich verboten hatte, an seine Freundin Luli zu denken. Diese war als Kind mit ihrem Vater nach New York gezogen und hatte ihm nicht geschrieben, wie sie fest versprochen hatte. Doch als Eli meinte, sterben zu müssen, erlaubt er sich, an seine Liebe in New York zu denken. Und dann wird er gerettet, wie auch meine Mutter gerettet wurde. Sie hat in der Krankenbaracke ihre dritte Schwester Rosalia wiedergefunden.

Was hat Ihr Vater erlebt?

Mein deutsch-jüdischer Vater Georg hatte auch eine Liebe, die ihm das Leben gerettet hat. Sie hieß Annie Karpe und hat meinem Vater eine gefälschte Ein­ladung nach Schweden und gefälschte Papiere zukommen lassen. So hat er überlebt, sie aber leider nicht. Ich denke immer, dass die Liebe retten kann. Deshalb sind Märchen auch irgendwie wahr.

Wie meinen Sie das?

Schneewittchen beispielsweise ist halb tot von dem vergifteten Apfel ihrer Stiefmutter, aber dann kommt der Prinz, findet sie bildschön, küsst sie und der Apfel fällt heraus und sie erwacht wieder zum Leben. Das ist doch oft so: Menschen, die denken, sie haben kein Leben mehr, treffen jemanden und plötzlich sind sie erweckt. In diesem Sinne haben ­Märchen und andere Geschichten oft eine innere Wahrheit. Auch in meiner Geschichte hilft ja die Liebe.

"Meine Mutter konnte nicht mehr an Gott glauben"

Wer in Ihrer Familie ist nach Amerika ausgewandert?

Mein Onkel Viktor, der Bruder meiner ­Mutter, ist mit seiner Frau nach Kanada gezogen. ­Irgendwie war es ihm gelungen, aus einem ­Arbeitslager zu entkommen und sich zu verstecken, und wie durch ein Wunder hat er ­seine Schwestern nach dem Krieg in ­Schweden gefunden. Er fand Arbeit in der Lampenfabrik Luma, wie Eli im Buch. Aber er hatte viele Ängste und wollte weg aus ­Europa. Auch er hat nie von früher geredet. Aber ­meine Tante, seine Frau, konnte wunderbar erzählen. Und sie war nicht sentimental.

Was hat sie erzählt?

Zum Beispiel von einer Freundin, einem ­Waisenkind, das nähend an ihrem Bett saß, als sie als Kind krank war. So wie im Buch Luli an Elis Bett sitzt, als er als Kind schwer krank wird. Aber ich habe nicht nur mit ­meiner ­Tante, sondern auch mit anderen Überlebenden gesprochen, die die alte Welt vor Auschwitz noch kannten.

Haben Sie so von den jüdischen Bräuchen in Transsilvanien erfahren?

Ja. In der Geschichte erzähle ich vom ­Challa – dem zum Zopf geflochtenen Freitagsbrot, das Elis Mutter vor jedem Sabbat backt –, den ganzen Samstag über darf man ja nach alter Sitte nicht kochen. Im Buch heißt es, das Challabrot durfte man am Freitagabend erst kosten, nachdem die Freitagskerzen angezündet und Brot und Wein gesegnet waren.

Wie fromm war Ihre Tante?

Sie hat immer sehr schöne Freitagsessen gemacht und alle Sitten eingehalten, ist in die Synagoge gegangen und so weiter. Auch mein Onkel war sehr fromm. Er hat sich den Schal umgelegt und ist am Samstag in die ­Synagoge gegangen. Er sagte immer, man muss vergessen und vergeben. Aber meine Mutter konnte nicht mehr an Gott glauben. Zwei ihrer Schwestern sind in Auschwitz direkt ins Gas gegangen, weil sie nicht sofort die Hände von Kindern losgelassen haben. Dabei waren sie auch noch sehr jung.

"Meine Mutter hat nie gezeigt, dass sie unglücklich ist. Sie wollte leben"

Was glauben Sie?

Ich habe meinen Gott im ­Herzen. Aber nicht den offiziellen. Ich glau­be, es gibt viel Gutes in ­allen Religionen. Eine Religion ist für mich, auf etwas zu schauen, was ­besser ist als der Mensch. Vielleicht gibt es das gar nicht, aber man muss es schon denken und sich dorthin strecken und darf sich nicht schwarzen Gedanken überlassen. So bin ich gläubig. Und manchmal fühle ich etwas Göttliches in mir. 

Wie halten Sie es mit jüdischen Bräuchen?

Ich zünde Freitagabend die Kerzen an. Das hat meine Mutter übrigens auch noch getan. Manchmal gehe ich in die Synagoge. Und ich interessiere mich für die Bibel. Eine Zeit lang habe ich mich außerdem sehr mit dem Chassidismus beschäftigt, das ist die jüdische Mystik. Der Glaube, dass man sich freuen muss, was auch immer im Leben geschieht. Die Chassiden tanzen und singen bis in den Tod. Der Chassidismus ist im 17. Jahrhundert im Osten entstanden, als die Juden schwer von den Russen verfolgt wurden.

Wie hat das große Leid Ihrer Familie Ihre Kindheit beeinflusst?

Ich war trotzdem ein glückliches Kind. Obwohl meine Eltern Flüchtlinge waren, nicht viel Geld hatten, mein Vater als Geschäftsreisender immer weg war und meine Eltern sich sogar oft stritten, wenn er da war. Ich hatte auch keine Geschwister. Aber meine Mutter hat nie gezeigt, dass sie unglücklich ist. Sie hat mich angeguckt und gestrahlt. Sie wollte leben und sich freuen können. Deshalb hat sie nie von dem Schweren erzählt. Aber ich wusste es irgendwie. Kinder ­haben feine Antennen. Als Kind habe ich einmal ein großes Hakenkreuz auf einer Ziegelwand gesehen, da hatte ich wochenlang Depression.

Und als Erwachsene?

Wenn jetzt jemand etwas gegen Juden sagt, macht es mich wütend, und ich werde sehr deutlich. Im Kinderbuch kann der ­erwachsene Eli seinen Kindern später nicht von ­seiner ­Vergangenheit erzählen. Meine Mutter ­konnte es auch nicht. Ich kann es ja auch kaum. Aber Luli ­bittet Eli, darüber zu ­schreiben. Und das habe ich jetzt auch getan.

"Wird schon gutgehen." Diese Haltung ist gefährlich

Warum ist es so wichtig, schon Kindern von Antisemitismus und Holocaust zu erzählen?

Kinder sollten das Wort Antisemitismus kennen und einordnen ­können, was es bedeutet. Auch in Schweden gibt es Antisemitismus, vor allem in Südschweden, aber hauptsächlich wegen des israelisch-­palästinensischen Konflikts. Das ist die Botschaft dieses Buches: Antisemitismus führt wie auch Rassismus zu Vertreibung und Tod. Man muss ihn ernst nehmen. Eli sagt an einer Stelle, die Antisemiten seien ihm egal. Er will Fußball spielen, er ist noch ein Kind. Aber so eine Haltung hatten damals auch viele Erwachsene: "Wird schon gutgehen." Das ist gefährlich.

Wie reagieren Kinder auf Ihre Geschichte?

Bei Schullesungen fragen Kinder, was mit Elis Mutter und dem alten Isaak im Lager ­geschehen ist. Und dann sage ich, dass sie ge­tötet wurden. Aber diese Kinder sind meist von ihren Lehrern vorbereitet und wissen schon mehr. Eine Buchhändlerin hat mir erzählt, sie habe die Geschichte ihrem achtjährigen Sohn vorgelesen, und er habe bis zum Schluss interessiert zugehört. Aber als sie dann aus Versehen angefangen hat, ihm noch mein Nachwort mit der wahren Geschichte meiner Mutter vorzulesen, wollte er das nicht mehr hören. Das fand ich sehr interessant. Als Geschichte, als Märchen funktioniert es für Kinder.

Ihre Tochter Rebecka hat das Buch illustriert. Warum?

Sie hat schon als Kind Bücher von mir illustriert. Und sie kannte noch meine Mutter, meinen Onkel, meine Tante. Rebecka ist ­Kinderärztin und Künstlerin. Sie malt, bildhauert und illustriert. Für das Buch hat sie gar keine Skizzen gemacht, sondern sofort aquarelliert. Es passt einfach.

Produktinfo

Rose Lager­crantz, Zwei von jedem. Moritz Verlag. 116 Seiten, 14 Euro

Die schwedische Autorin erzählt Kindern von der Schoah, mit einer Geschichte von Eli und Luli, in der sie wahre Begebenheiten verarbeitet: 

Eli kann schnell rennen. Luli auch. Sie freunden sich an und verbringen ihre Kindheit gemeinsam in Siebenbürgen. Eli feiert die Bar Mitzwa, er liebt das Brot, das die Mutter zum Sabbat backt. Bis irgendwann die Nazis kommen. Luli wandert mit ihren Eltern aus, Eli bleibt. Juden müssen gelbe Sterne tragen. In ­Auschwitz sieht Eli ­seine Mutter zum ­letzten Mal. Er kommt nach Bergen-Belsen und überlebt knapp. In New York findet Eli Luli wieder. Sie heiraten, und Luli bittet ihn, seine Geschichte aufzuschreiben. 

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