Bei James Ensor herrscht Maskenpflicht. Mit Corona hatte der belgische "Maler der Masken" aber nichts zu tun. Zu seinen Lebzeiten (1860–1949) suchten die Spanische Grippe und zwei Weltkriege die Menschen heim. Der Künstler wuchs im Küstenstädtchen Ostende auf, in einem wahren Kuriositätenkabinett. Seine Großeltern besaßen einen legendären Laden, vollgestopft mit alten Klamotten, Kolonial- Krimskrams, bunten Kostümen – und Masken. Sogar der Adel war im Sommerurlaub Kunde bei den Ensors, vom späteren Kaiser Wilhelm I. bis Leopold, dem ersten König der Belgier.
Die Großmutter liebte es, den kleinen James zu verkleiden und ihn mit grässlichen Kostümen zu erschrecken. Was bei ihm hängenblieb, war ein Faible für Masken, das er zeitlebens pflegte – wie auch seine Verbundenheit mit dem beschaulichen Ostende, das er trotz mehrerer Aufenthalte in Brüssel, Paris und London nie verließ. James Ensor bewies, dass man es selbst in der künstlerischen Provinz zu einem Avantgardisten bringen kann. Der Eigenbrötler war expressionistisch, surrealistisch und Dadaist, als die Fachwelt solche Schubladen noch gar nicht zurechtgezimmert hatte. In gewisser Weise malte Ensor der Moderne voraus. Und er war sich dieser Leistung bewusst.
Für seine Bilder inszenierte er sich androgyn und extrovertiert mit Federhut und Schminke. Damit war ihm die Ablehnung im vom Bürgermuff durchzogenen Ostende gewiss. Vielleicht kokettiert er auch deswegen in seinem oft Schlüsselwerk genannten Bild "Der Einzug Christi in Brüssel" aus dem Jahr 1889 mit der Erlöserfigur, die sich klarsichtig von der schrillen, dumpfen Masse abhebt. James Ensor ist der Christus, das darf man mit Blick auf dieses Werk ruhig so sagen. Unter dem Banner der Sozialisten reitet er einher und lässt sich als König von Brüssel feiern, wie weiland Jesus am Palmsonntag in Jerusalem.
Die Weltanschauungen - ein Kessel Buntes
Der Ensor-Jesus geht mit seinen Zeitgenossen streng ins Gericht. Von den Sozialisten über die erzkonservativen Katholiken mit ihrem staatstreuen Banner "Fanfare Doctrinaire" bis zum Antichrist – etwas weiter links, gelblich schimmernd – sind alle Ideologien und Gruppierungen vertreten. Alle Weltanschauungen gehen in einem bunten Allerlei unter. Kein menschliches Antlitz ist zu erkennen, jedermann und jede Frau versteckt sich hinter Masken: ein selbstbezogener, karnevalesker Haufen.
James Ensor hat die Welt als Kuriositätenkabinett kennengelernt – nicht nur im Laden der Großeltern, auch auf der Straße. Der Karneval in seiner Heimatstadt, die Streiks und Protestbewegungen Ende des 19. Jahrhunderts, die zerbrechlichen, sich ablösenden Staatssysteme, all das muss ihm wie ein gesellschaftlicher Scherbenhaufen vorgekommen sein, den nur die Kunst wieder zusammensetzen konnte. Der Symbolkraft des biblischen Heilands wollte er sich nicht entziehen und strapazierte sie fleißig in seinem Werk.
Kurioses Spiel
Sein "Einzug in Brüssel" ist kein Aufruf zu Rechtschaffenheit und Erlöserglauben. Kunstliebhaber sehen in ihm vielmehr und gern den Einzug des Malers James Ensor in die moderne Kunstwelt. Sie entdecken ihn gerade aufs Neue in einer Zeit, in der sie selbst leidvolle Pandemie-Erfahrungen durchleben.
Dem Künstler hätte es vielleicht gefallen, dass die medizinische Gesichtsmaske eine derartige Aufwertung erfährt. Aus der Pflicht zur Mund-Nase-Bedeckung hätte er sicher ein kurioses Spiel gemacht. Jedenfalls entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass man sich ausgerechnet die Bilder des "Malers der Masken" ab Mitte Juni in der Kunsthalle Mannheim anschauen kann. Wie regelkonform zur noch immer grassierenden Pandemie!
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