Kinderbuch "Bestimmt wird alles gut"
"Die Schleuser bringen dann die Flüchtlinge an Bord und sagen ihnen, dass sie ihr Gepäck gleich holen werden – aber das bleibt dann zurück."
Illustration: Lina Satar
Rahafs Puppe und die Schleuser
„Bestimmt wird alles gut“ – das wünschen sich das syrische Mädchen und ihre Familie. Die Schriftstellerin Kirsten Boie hat ihre Geschichte eindrucksvoll erzählt
26.01.2016

chrismon: Frau Boie, in Ihrem Buch „Bestimmt wird alles gut“ erzählen Sie die Geschichte von Rahaf, 10, und ihrem ­Bruder Hassan, 9, die mit ihren Eltern und zwei kleinen Geschwistern von Syrien nach Deutschland fliehen müssen. Wie kam es dazu?

Kirsten Boie: Ich wohne in einem kleinen Ort am Rand von Hamburg, in dem man sich seit Anfang 2014 intensiv mit dem Thema Flüchtlinge beschäftigt. Mein Mann und ich haben täglich mit ihnen und ihrer Lage zu tun. Anfang 2015 kamen Mitarbeiter von „Onilo“ auf mich zu – das ist eine Internetplattform für Lehrer, die Geschichten digital aufbereitet, so dass sie im Unterricht auf elektronischen Tafeln wie Bilderbuchkino einsetzbar sind. Es hatten wohl sehr viele Lehrer zum Thema Flüchtlinge angefragt, eine tolle Gelegenheit, Schüler und ihre Eltern zu erreichen. Es sind ja nicht alle Eltern von den Flüchtlingen begeistert. Da hören die Kinder zu Hause vielleicht: Die nehmen uns den Job weg, die dürfen für weniger als den ­Mindestlohn arbeiten und so weiter. Lehrer suchen nach Möglichkeiten, um für Verständnis für die Flüchtlinge zu werben.

Wie haben Sie dann bei den Flüchtlingen recherchiert?

Ich habe mich mit einem Geschwisterpaar zusammengesetzt, und mit ihrer Mutter und der Frau, die sie vom ersten Tag an betreut hat. Die wiederum ist eine gute Freundin von mir. Ich hatte ein bisschen Angst: Bei einem solchen Gespräch denkt man ja gleich an Retraumatisierung. Aber ich wollte eine wahre Geschichte erzählen – und eine, mit der andere Kinder sich identifizieren können. Ich habe die Geschwister erst einmal gefragt, was in ­Syrien schön war. Da haben sie losgelegt und mir drei Stunden lang fast ohne Punkt und Komma ihre Geschichte erzählt und sind sich dabei gegenseitig ins Wort ge­fallen. Zuerst erzählten sie, wie sie gespielt haben, von der Schule und wie es mit Papa auf dem Jahrmarkt war. Aber dann kamen auch schon die Bomben. Und die Flucht.

Was war besonders eindrücklich?

Die Geschichte mit der Puppe, der Lieblingspuppe des Mädchens, die in der Geschichte Lulla heißt, und die sie vor der ­Abreise in einen Rucksack packen musste. Die Schleuser bringen dann die Flüchtlinge an Bord und sagen ihnen, dass sie ihr Gepäck gleich holen werden – aber das bleibt dann zurück. Mehr Menschen auf dem Schiff bedeuten mehr Geld, Gepäck ist schwer und unrentabel und kann außerdem von den Schleusern verkauft werden. So bleiben die Puppe, Papas Geld und seine Papiere im Rucksack zurück und Rahafs Familie sieht diese Dinge nie wieder. Ich hörte auch von anderen syrischen Flüchtlingen, dass dies offenbar ganz üblich ist. Man könnte denken, dass die Kinder besonders unter der Bombengefahr oder unter der gefährlichen Überfahrt leiden, doch es war der Diebstahl ihrer Sachen. Ich habe mich später noch oft gefragt, warum sie das so aufgeregt hat – übrigens auch die Kinder bei meinen Lesungen.

"Ich wollte das Normale im Furchtbaren erzählen"

Warum denn?

Dieser Betrug durch Erwachsene ist etwas ganz Schlimmes. Selbst vor den Bomben hatten sie sich durch ihre Eltern beschützt gefühlt, aber vor den Schleusern konnten ihre Eltern sie nicht beschützen. Ich vermute, hier haben sie sich wirklich ausgeliefert gefühlt.

Ihr Gespräch hat die Kinder aber offenbar nicht erneut traumatisiert.

Kostenlose Boardstory

Kirsten Boie: „Bestimmt wird alles gut“ ‒ Eine Boardstory mit animierten Illustrationen. Board­storys sind vor allem für den Einsatz im Unterricht auf elektronischen Tafeln, auf Whiteboards, gedacht. Sie lassen sich aber auch individuell auf jedem Rechner anschauen und anhören. Bis Ende April kostenlos verfügbar unter onilo.de

Nein, im Gegenteil. Es war total anrührend für mich: Als ich gegangen bin, hat mich das Mädchen umarmt und gesagt: Ich hab gedacht, das wird so langweilig und jetzt war es so toll. Und da habe ich begriffen, dass diese Kinder ein ganz starkes Bedürfnis haben, ihre Geschichte zu erzählen. Vielleicht nicht gleich, wenn sie ankommen, und da sprechen sie ja auch noch gar kein Deutsch. Und später ist man an sie gewöhnt, weil sie vielleicht schon ein Jahr in der Klasse sind. Aber die meisten haben wohl ein ganz starkes Bedürfnis, alles einmal ausführlich zu erzählen. Und wenn man ganz allgemein nach ihrer Geschichte fragt, braucht man auch keine Angst zu haben, etwas aufzurühren.

Warum ist es so wichtig, die eigene Geschichte zu formulieren und sie anderen zu erzählen?

Wir alle erzählen uns unser Leben so, wie wir es verkraften können, um es zu verstehen und zu verarbeiten. Manchmal ­tun wir dies nur im Kopf. In der Psychotherapie ist dieses Erzählen ein Weg zur Heilung. Das gilt aber auch im Alltag.

Warum haben Sie „Bestimmt wird alles gut“ aus Kindersicht erzählt?

Weil ich die Geschichte auch für Kinder erzähle. Damit Kinder möglichst viele ­Identifikationsangebote bekommen, aber nicht überfordert werden. Ich kenne eine syrische Familie, in der zwei Kinder im Mittelmeer ertrunken sind. Die Eltern sind extrem traumatisiert und ihr Sohn, der überlebte, hat es sehr schwer. Das in meinem Buch zu erzählen wäre zu schrecklich für Kinder gewesen. Ich wollte das Normale im Furchtbaren erzählen. 

Was haben Sie von dem, was Ihnen die Kinder berichtet haben, nicht aufgeschrieben?

Ich erzähle nicht vom sechsjährigen Cousin der Kinder, der erschossen wurde. Ich erzähle auch nicht von ihrem Onkel, der im Gefängnis war, wie auch ihr Vater. Ich wollte relativ geradlinig erzählen. Ich ­glaube, was ich den Kindern mit der Geschichte zumute, genügt auch so schon.

"Jedes Kind kann herauslesen, was es ­verkraften kann"

Als Rahaf nach der Flucht eingeschult wird, trifft sie auf Emma, die ihr Deutsch beibringt und ihre beste Freundin wird. Ist das Fiktion oder Realität?

Das ist Fiktion. Die Geschwister, mit denen ich gesprochen habe, haben jetzt schon Freundinnen und Freunde, aber so ist es nicht gelaufen.

Soll Emma also als pädagogisches Vorbild dienen?

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Nein, den Grund hat es nicht – zumal es jetzt in Hamburg und Schleswig-Holstein Vorbereitungsklassen gibt. Dort lernen die Kinder einen Grundwortschatz, bevor sie in die Regelschule kommen. Aber Emma war mir wichtig, weil meine Geschichte ein hoffnungsvolles Ende haben sollte. Es musste kein richtiges Happy End sein. Die Familie wohnt ja noch immer im Con­tainer, und Emma kann immer noch nicht bei Rahaf übernachten, weil dort nicht genug Platz für sie ist. Der Vater kann immer noch nicht in Deutschland arbeiten, obwohl er Arzt ist. Die Mutter weint manchmal. Aber Rahaf hat sich eingelebt und hat eine beste Freundin. Für Kinder im Grundschulalter ist es ganz wichtig, dass es am Schluss Hoffnung gibt. Das heißt: Ich schwindle nicht über das Flüchtlingsthema, aber ich habe es so geschrieben, dass es hoffentlich für Kinder verkraftbar ist.

An welche Altersgruppe richtet sich ­„Bestimmt wird alles gut“?

An Kinder in der dritten, vierten Klasse, eventuell noch in der fünften und sechsten, und mit guter Begleitung auch schon in der zweiten. 

Worauf haben Sie sprachlich geachtet?

Ich habe versucht, sprachlich möglichst einfach zu bleiben. Kinder sollen den Text leicht verstehen können. Zum Teil bin ich auch indirekt geblieben: Etwa, wenn ich schreibe, dass nach den Bombenangriffen manche Menschen nicht mehr aufstehen. Dann werden Kinder, die das verkraften können, es sicherlich entschlüsseln können: Diese Menschen sind tot. Jüngere Kinder werden es vielleicht gar nicht hinterfragen. So kann jedes Kind herauslesen, was es ­verkraften kann.

"Pegida-Anhänger haben Ängste"

Warum ist der Text deutsch und arabisch gesetzt?

Er soll auch Flüchtlingskindern zugäng­lich sein, zum Beispiel in der Kinderbetreuung im Erstaufnahmelager oder in Vorbereitungsklassen. Die arabische Schrift ist wunderschön. Auch die Illustrationen von Lina Satar. Mir gefällt, wie sie mit Licht und Perspektive arbeitet. Und ich mag ­das kleine deutsch-arabische „Wörterbuch“ am Schluss.

Wie schätzen Sie die Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland ein?

Ich finde es großartig, dass die Väter des Grundgesetzes aufgrund unserer Er­fahrungen im Nationalsozialismus verfügt haben, dass jeder, der verfolgt wird und dessen Leben bedroht ist, bei uns Auf­nahme findet. Darauf können wir stolz sein. Und noch stolzer können wir sein, wenn wir uns wirklich daran halten. Das setzt aber natürlich gleichzeitig auch Grenzen, denn wer nicht verfolgt ist, hat diesen Anspruch nicht. Und das ist manchmal tragisch, weil das Recht auf Asyl eben nicht für Menschen gilt, die aus Regionen kommen, in denen Hungersnot herrscht und keine politische Verfolgung, und deren Lebensperspektiven schlecht sind.

Können wir so viele Menschen in Deutschland integrieren?

Wirtschaftlich packen wir das, da mache ich mir keine Sorgen. Aber gesellschaftlich ist es nicht so leicht verkraftbar. Die Menschen, denen es nicht so gut geht, ­gehen bei uns doch vielfach auf die Straße, ­weil sie Ängste haben. Diese Ängste werden von rechts befeuert und gelenkt. Es ist sehr wichtig, sensibel mit diesen Befürchtungen umzugehen. Pegida wird inzwischen von Rechtsextremen gesteuert – umso wichtiger, ihnen die Menschen, die Angst haben, wieder zu entreißen.

Vielleicht Stoff für ein Jugendbuch?

Das gibt es schon: „Sommer unter schwarzen Flügeln“ von Peer Martin. Es schildert nicht nur die Not der Geflüchteten, sondern auch, wie sich solche Haltungen wie bei ­Pegida entwickeln.

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