Minderjähriger Flüchtling mit Lehrerin
Deutsch lernen mit minderjährigen Flüchtlingen: "Ist mein Unterricht wirklich besser als Shopping-TV?"
Jindrich Novotny
Kopf kaputt
Wessen Kopf jetzt, und wie heißt das richtig? Fünf Monate lang hat die Journalistin Melanie Schraps unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutsch unterrichtet. Das war manchmal ganz schön schwer ‒ für beide Seiten!
28.11.2015

Im September 2014 war mir per E-Mail ein Notruf zur Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge zugegangen: „Wir suchen dringend Betreuer, die irgendwie pädagogisch geschult bzw. geeignet sind.“ Da die Bayernkaserne als Erstauf­nahmestelle aus allen Nähten platzte und die Plätze in den Münchner Clearingstellen für Jugendliche alle schon besetzt waren, richteten die freien Träger der bayerischen Jugendhilfe im Herbst letzten Jahres mehrere Notunterkünfte als Dependancen der Bayern­kaserne ein. In einer solchen Unterkunft – einem umfunktionierten Versammlungssaal – sollten nun also 30 männliche Jugendliche wohnen und auch in Deutsch unterrichtet werden. „Das entspricht nicht gerade dem, was wir uns unter Jugendhilfe vorstellen, aber im Moment bricht einfach alles zusammen“, hatte die Verantwortliche eines freien Trägers in der Mail geschrieben.

Ein Raum für 30 Personen, keine Küche, notdürftige Sanitäranlagen im Keller, und das letztlich für sechs statt, wie geplant, für zwei Monate – vieles war nicht optimal in der Notunterkunft, doch den Deutschunterricht ließ sich der Wohlfahrtsverband ­etwas kosten. Zusätzlich zu dem für die minderjährigen Flüchtlinge obligatorischen vierstündigen Nachmittagskurs in einer Sprachschule engagierte er insgesamt drei Lehrkräfte. Jeden Vormittag unterrichteten zwei von uns parallel von zehn bis 13 Uhr.

Die Schüler, die ich an meinem ersten Tag kennengelernt ­hatte, gehörten, wie ich nun merkte, zu Gruppe A1, der Gruppe, die besonders schnell lernte. Einer von ihnen – ein hübscher, hochgewachsener Afghane namens Massoud*, der Medizin studieren wollte – brachte es innerhalb von drei Monaten so weit, dass er in die achte Klasse einer normalen Realschule aufgenommen wurde. Ein anderer, Mukhtar, hätte es aufgrund seiner Leistungen auch geschafft, hatte aber keinen engagierten Vormund, der sich kümmerte und ein solches Vorrecht für ihn erstritt.

Wenn Rezene dem Unterricht fernblieb, war das eine Erlösung für mich

Neben Gruppe A1 mit rund fünf Schülern gab es zwei Anfängergruppen, aus denen sich auf Dauer drei entwickelten: eine gute Mittelstufengruppe, die zwischenzeitlich bis zu sechs Schüler umfasste, eine weitere, deren vier bis sieben Teilnehmer keinerlei Fortschritte machten, und eine solche, deren Schüler – zehn bis zwölf an der Zahl – nicht im Unterricht erschienen. Der 14-­jährige Eritreer Tzegay war so ein Kandidat. Er lernte statt Deutsch lieber Dari, die afghanische Variante des Persischen, und das mit beachtlichem Erfolg, wie die Afghanen versicherten.

Dass der etwa gleichaltrige Rezene dem Unterricht nach einer Weile fernblieb, war zunächst eine Erlösung für mich. Er redete ununterbrochen laut auf seine Mitschüler ein. Alle waren in den ersten paar Wochen unruhig, aber niemand machte es mir so schwer wie Rezene. Um Formulierungen wie „Woher kommt er? Welche Sprache spricht sie?“ zu üben, hatte ich bei meinen Kursen an der Sprachschule Inlingua Bilder von Prominenten gezeigt. Bei den Flüchtlingen erwies sich das als schwierig. Die meisten kannten weder Queen Elizabeth noch Angela ­Merkel, Lionel Messi oder Nelson Mandela. Also zog ich ziemlich oft die Karten „Papst“ und „Obama“. Das war für Rezene ein rotes Tuch.

„Amerika! Amerika!“, rief er hasserfüllt. „And this!“, er verdrehte wild die Augen und sein Zeigefinger schnellte auf das Papstbild zu. Die Mehrzahl der Eritreer in der Einrichtung waren Christen, Rezene war einer der wenigen Muslime. Nachdem er derart rebelliert hatte, sah ich ihn monatelang nicht mehr. Erst Anfang Februar, kurz bevor die Notunterkunft aufgelöst wurde, tauchte er zweimal unvermittelt in meinem Kurs auf. Ich schaffte es nicht, ihn in den Unterricht zu integrieren. Ich konnte ihm nur irgendein einfaches Arbeitsblatt geben und ihm zwischendurch immer wieder eine Minute Aufmerksamkeit schenken. Er war geduldig, wie verwandelt, und ich freute mich darüber.

Der Security-Mann gab Nachhilfe in Mathe und spielte Schach

Es gab in der Riesenwohngemeinschaft am Münchner Hauptbahnhof immer auch Konflikte. Einige Afghanen blickten auf die Schwarzen herab. Afrooz aus der Fortgeschrittenengruppe machte einmal eine Andeutung mit Bananen und Affen­ge­räuschen und wurde dafür von meiner Kollegin für drei Tage vom Unterricht ausgeschlossen. Angeblich musste auch ein paar Mal nachts die Polizei kommen, um eine Prügelei zu schlichten oder einen Handydieb zu stellen. Einmal kamen Rezene und Girmay nach der Stunde zu mir nach vorn. Rezene ergriff Girmays Hand und zwang ihn zu Boden, indem er seine Finger schmerzhaft nach oben drückte. Er sagte etwas zu ihm auf Tigrinya, der ­Sprache, die man in Eritrea spricht, und im Befehlston. Daraufhin begann Girmay, Liegestütze zu machen, während Rezene ­mitzählte. Ich war schockiert von diesem Schauspiel der Unterdrückung. Zugleich war mir klar, dass ein gewisses Gewaltpotenzial in einer Gruppe von Halbwüchsigen normal ist.

Allen mehr oder weniger ernsten Problemen zum Trotz verstanden sich die Jungs untereinander und mit dem Team der Einrichtung aber immer besser und wuchsen fast wie eine Familie zusammen. Der Security-Mann begann, Mathematiknachhilfe zu geben und mit den Flüchtlingen Schach oder Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen. Die Jugendlichen interessierten sich für mich und meine Kolleginnen, fragten, wie wir lebten, ob wir Kinder hätten und auch mal, ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen ins Schwimmbad zu gehen.

Beim Weihnachtsfrühstück am 24. Dezember wurden Foto­alben von fröhlichen Fußballturnieren und gemeinsamen Zoobesuchen gezeigt, die mit der Hilfe der Ehrenamtlichen zusammengestellt worden waren. Meistens wurde irgendwo in der Unterkunft gelacht, Musik gehört, Kicker gespielt – wobei es bei den Jungs zum guten Ton gehörte, dass sie jubelten, wenn ich einmal ein Tor schoss.

Unser Klassenraum wurde zugleich auch als Fitness- und Fernsehzimmer genutzt. Einmal saß bei meiner Ankunft bereits ein kleines Grüppchen vor dem Fernseher. „Guten Morgen! Was guckt ihr denn da?“, begrüßte ich sie. „Das ist gut für Deutsch“, erklärte Dawit. Shopping-TV. „Diese Hose gibt es in den Farben Grau, Blau und Schwarz.“ Die Moderatorin sprach langsam und eindringlich. Ihr Assistent präsentierte währenddessen die graue, dann die blaue, dann die schwarze Hose. „Die Hose lässt sich auch sehr leicht bügeln“, erklärte die Moderatorin, und schon gab es einen Close-up-Shot auf ein Bügeleisen, das über die Hose fuhr. „Rufen Sie gleich an! Rufen Sie heute noch an!“ Ein ­klingelndes Telefon wurde eingeblendet. „Dann bekommen Sie diese Uhr als Geschenk.“

Wer Charme hat und schlau ist, findet einen Vormund

„Ist mein Unterricht wirklich besser als das?“, überlegte ich. Zumindest bemühte ich mich darum. Ich hatte durch Rezene etwas gelernt. Ich fing an, selbst passendes Unterrichtsmaterial für die extrem langsame Anfängergruppe zu konzipieren: Arbeitsblätter mit lustigen Männchen dunkler Hautfarbe, unter die ich „Naom. Eritrea“, „Zenep. Sudan“ oder Ähnliches schrieb. Anhand dieser Zettel übten wir nun das „Er/sie heißt . . . Er/sie kommt aus . . .“. Wie jeder Mensch waren auch meine Schüler genervt, wenn wir jede Stunde das Gleiche machten. Oft verstanden sie es aber trotz der Wiederholung immer noch nicht. Nach mehreren Monaten war jede von uns Lehrerinnen zu dem Schluss gekommen, dass sich die meisten Schüler dieser Gruppe nie in ein normales Schul­sys­tem würden integrieren lassen, nur in eine Förderschule.

Im Mittelpunkt dieser Gruppe stand der Junge, der während der Monate in der Einrichtung die größte Veränderung durchmachte: Hamsa. Hamsa, dem auf der Flucht ein Ohrläppchen abgeschnitten wurde, weil er der Schlepperbande nicht genug bezahlen konnte. Nichts konnte er sich merken, gar nichts. „Ich heiße . . . Wie heißt du?“ Unendlich langsam lernte er, überhaupt Wörter nachzusprechen. Alles war für ihn zwanzigmal so schwer wie für einen Schüler mit normaler Begabung oder unter nor­malen Umständen, aber er ließ nicht locker. Irgendwann entdeckte er seine Methode des Lernens: Er schrieb jeden Satz dreimal auf, immer mit der Übersetzung in seiner Muttersprache Tigrinya.

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Manchmal sprach er mir den Satz auf Tigrinya andächtig vor, und ich versuchte, ihn nachzusprechen. Das brachte ihn immer zum Lachen. Und wenn ich morgens in die Klasse kam, saß er schon im Schneidersitz unter dem Tisch und murmelte die deutschen Sätze immer wieder vor sich hin. Selbst die ehrgeizigsten Schüler aus der Fortgeschrittenengruppe berichteten voller Ehrfurcht von Hamsa, der manchmal bis tief in die Nacht lernte. Und es funk­tionierte. Ich war so stolz, wenn er etwas richtig machte. „Ich bin seit August in Deutschland.“ „Die Sonne scheint.“ „Der Deutschkurs beginnt um zehn.“ „Ich lerne gern Deutsch.“

Doch nach etwa einem Monat war seine fleißige Phase vorbei. Er hing mit den anderen herum, schwänzte den Unterricht. Aber er war offener geworden, lachte und begrüßte mich mit einem kumpelhaften Aneinanderstoßen der Fäuste. Was er gelernt ­hatte, vergaß er weitgehend wieder, aber er hatte sich Selbstbewusstsein erarbeitet, einen lebendigen Blick, eine natürliche Coolness, eine Lebens- und Kommunikationsfreude. Für seine Mitbewohner war er allem Anschein nach eine Respektsperson geworden, und all das war mindestens so wertvoll wie Deutschkenntnisse.

Der Kampf ums Überleben geht für die Flüchtlinge in Deutschland weiter, und Offenheit und Charme sind hier wichtige ­Waffen. Das zeigte sich nirgends so deutlich wie beim Thema Vormundschaft.

Ein Premium-Flüchtling für die reiche Münchnerin

Im Prinzip hätten es alle verdient gehabt, einen Vormund zu bekommen, der sich für sie interessiert und sie unterstützt. Am meisten hätten es diejenigen verdient, die so traumatisiert ­waren, dass sie nicht mehr lächeln konnten, die so viel Schlechtes erfahren hatten, dass sie nicht nett sein konnten. Wie Aamir, der immer wieder für eine Woche in die geschlossene Psychiatrie musste, weil er schlimme psychotische Anfälle hatte. Er brach zusammen, schlug um sich und konnte sich hinterher an nichts erinnern. Eines Tages bestellte die Leiterin der Einrichtung einen ­eritreischen Schamanen – nicht etwa, um Aamir zu heilen, ­sondern um die Eritreer zu beschwichtigen, die seinetwegen in Panik geraten waren. Sie glaubten, dass Aamir von Dämonen besessen sei und dass diese Dämonen nun auch auf sie überspringen könnten. Aamir hatte bei einen Bombenanschlag auf ein libysches Gefängnis miterleben müssen, wie fast alle seine Mithäftlinge getötet wurden. Er selbst hatte einen Splitter ins Auge bekommen und war seitdem auf diesem Auge blind.

Auch Nahom hätte einen guten Vormund gebraucht: Er tat sich so schwer mit dem Lernen und überhaupt mit jeglicher Kommuni­kation, war so in sich gekehrt, so unheilbar traurig, und sein ­irgendwie zu großes Gesicht zu allem Überfluss von Eiterpickeln übersät. Ich hatte für den Deutschunterricht eine riesige Welt­karte mitgebracht, die die Jungs faszinierte. Die meisten von ihnen ­sahen wohl zum ersten Mal so eine Karte und waren nicht in der Lage, ihr Heimatland zu lokalisieren. Eines Tages, in der Pause, blieb Nahom lange vor der Karte stehen. Er zeichnete mit dem Finger seinen Weg von Afghanistan bis an die Küste des Libanon nach. „This?“, fragte er und zeigt auf das Blau. „Das Meer“, sagte ich. „Meer . . . Und this?“ Er machte eine schaukelnde Handbewegung. „Boot?“, fragte ich. „Ja, Boot! Boot big problem. Thirty dead body in the Meer. Big problem.“ Stille. „Gut, dass du hier bist“, sagte ich nach einer Weile und strich über seinen Arm beziehungsweise die dicke Daunenjacke, in der er steckte. Einige der Flüchtlinge trugen immer ihre Daunenjacke, wie Schutzpanzer. Das waren nicht die, die einen guten Vormund bekommen haben.

Hanibal hatte Glück. Eine reiche Münchnerin hatte einen Sack gebrauchter Kleidung gebracht und mit einigen der Flüchtlinge einen Ausflug in den Zoo unternommen. Dann suchte sie sich den­jenigen aus, der am charmantesten und intelligentesten war, einen, mit dem man sich sehen lassen kann, einen richtigen Premium-Flüchtling. Hanibal war ein schlaksiger Typ in schwarzen Röhrenhosen, figurbetonten Hemden und mit einem großen, aus Horn geschnitzten Kreuz um den Hals. Obwohl er oft unaufmerksam war oder gar nicht kam, war er fast der beste Schüler meiner Mittelstufenklasse. Frau Vormund lud ihn am Wochenende zu sich nach Hause ein und übte mit ihm Deutsch. Danach durfte er durch die Discos ziehen. Wenn er mich sah, kam er mit einem breiten Grinsen auf mich zu, erkundigte sich nach meinem Befinden und verwickelte mich in irgendeinen Small Talk. Er war anzüglich, aber auf eine lustige Weise.

Ein paar Mal lud er mich ein, in der Flüchtlingsunterkunft zu Mittag zu essen. Während die anderen Jungs sich nicht einmal zu mir an den Tisch trauten, setzte sich Hanibal direkt neben mich, rutschte immer näher und zeigte mir auf seinem Handy Fotos von seiner neuen Familie. 

"Prostitution ist nicht gut", sagte ich

Der offiziell 17-Jährige – wahrscheinlich war er älter – hatte tatsächlich angefangen, seinen Vormund „Mama“ zu nennen. Ein paar Mal sah ich sie zusammen. Er schmiegte sich an sie, legte ihr den Arm um die Schulter, so wie er es bei seinen Freunden auch machte. Als ich erfuhr, dass er am Wochenende bei ihr geschlafen hatte, war ich skeptisch. „Ist sie deine Mama und deine Freundin?“ Er verstand. „Nein“, grinste er. „Sie ist meine Mama und mein Vormund.“

Hanibal war aber auch ein Junge, der intelligent und fröhlich war, trotz schweren Schicksals. Als ich versuchte, den Schülern den Unterschied zwischen „seit“ und „vor“ beizubringen, war ­Hanibal der Erste, der begriff und ein Beispiel parat hatte: „,Meine Eltern sind vor neun Jahren gestorben.‘ Und: ,Meine Eltern sind seit neun Jahren tot.‘ Richtig?“ „Äh . . . ja, richtig. Das tut mir leid.“ „Kein Problem.“

Beide sind sie am selben Tag gestorben.

Eines Tages fragten mich die Schüler nach der Bedeutung des Wortes „Hure“ und der männlichen Form davon, um mir dann zu erzählen, dass Temesgen sich angeblich prostituiere – für 50 Euro pro Freier. Während die Schüler leidenschaftlich zu moralisieren begannen – „Fickificki machen mit der Freundin ist okay, aber das ist nicht okay“ –, nahmen meine Gedanken eine ganz andere Richtung: Wer sich von Eritrea bis nach München durchge­schlagen hat, ist erwachsen. Ihr müsst zwar lernen, wie man Zähne putzt, aber was Prostitution, was Vergewaltigung ­bedeuten, wisst ihr wahrscheinlich besser als ich. Soll ich euch etwas vom Ausgeliefertsein erzählen, euch, die ihr, auf rostige Boote gepfercht, über das Mittelmeer gefahren seid, mit einer Scheibe Brot pro Tag als Verpflegung? Soll ich euch sagen, dass Prostitution sozial inakzeptabel ist, euch, die ihr in Deutschland sowieso hin- und hergeschoben werdet wie Vieh? „Prostitution ist nicht gut“, sagte ich schließlich, „sie ist sehr schlecht.“

Mit abstrakten Begriffen konnten die Schüler wenig anfangen. Wörter wie „Fußabstreicher“ und „Versichertenkarte“ lernten sie mit Begeisterung, aber was „das Leben“ sein soll, leuchtete ihnen nicht ein. In allen Diktaten las ich stattdessen „Liebe“. Liebe und Sex waren für unsere Flüchtlinge schätzungsweise noch wichtiger als für andere Gleichaltrige. Sie kamen aus Gesellschaften, in denen Frauen verschleiert und oft sogar beschnitten sind, plötzlich nach Deutschland, wo auf jedem zweiten Werbeplakat eine überlebensgroße Frau in Unterwäsche abgebildet ist. Zum ersten Mal im Leben schämte ich mich fast dafür, dass hier überall solche Plakate hängen. Gleichzeitig erlebten die Flüchtlinge einen totalen Liebesentzug: Eltern und Geschwister waren für sie außer Reichweite, Mädchen, in die man sich verlieben könnte, gab es aber auch nicht. Mädchen kennenlernen würden sie wohl erst, wenn sie den Sprung auf eine Regelschule oder Berufsschule geschafft hätten, das war ihnen auch klar.

Nicht nur Abstrakta, auch Verhältniswörter bereiteten den meisten Schülern Schwierigkeiten. Begriffe wie „seit“ und „vor“, „erst“ und „schon“ verursachten Frust und wurden wieder vergessen. Ende Januar war jedoch plötzlich eine Präposition in aller Munde: „außerhalb“. Gemeint war: außerhalb von München.

Altersschätzungen des Jugendamtes erscheinen oft grotesk

Aber von Anfang an: Der Extra-Deutschunterricht war eine ­gute Investition. Einige der Flüchtlinge machten auf diese Weise sehr schnelle Fortschritte. Möglicherweise wollte der Träger der Einrichtung damit aber auch erreichen, dass die Halbwüchsigen ­weniger in der Stadt herumstreunten und nicht so schnell rebellisch würden. Die materiellen Bedingungen in der Notunterkunft waren für einen Zeitraum von sechs Monaten nämlich alles andere als ideal: 30 Jugendliche in einem Schlafraum! Irgendwann hieß es, der Wohl­fahrtsverband besitze ein Haus in München, in das sie bald alle zusammen einziehen würden. Es sei im Umbau und schon fast fertig.

Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus: Meine Kollegin und einige unserer Schüler machten einen Ausflug zu jenem Haus und stellten fest, dass die Umbaumaßnahmen noch nicht einmal begonnen hatten. Gegen Ende Januar war zum ersten Mal die Rede davon, dass die Flüchtlinge in Kleingruppen aufgeteilt und außerhalb Münchens untergebracht werden müssten.

Nun fühlten sie sich belogen und zeterten, sie seien auf ­keinen Fall bereit, München zu verlassen. Es gab ein quälend langes Hin und Her. Wahrscheinlich würden sie bayernweit verschickt werden, aber ob in einer Woche oder einem Monat und wohin, das konnte keiner sagen. Von Schwandorf war die Rede und von Fürth. Während Hanibal sich auf einen Berlinurlaub mit seiner Mama freuen durfte, die sich bereiterklärt hatte, ihn nach ­Schließung der Notunterkunft dauerhaft bei sich zu Hause aufzunehmen, wurden die anderen Jungs regelrecht weichgekocht.

„Ich kann nicht, Kopf kaputt“, diese Ausrede hörte ich jetzt täglich im Unterricht – und ließ sie meistens gelten.

Es kam mir perfide vor: Die Flüchtlinge wurden letztlich gezwungen, München zu verlassen. Man stellte ihnen keine Alternative in Aussicht. Und dennoch konnte man sie nicht gegen ­ihren Willen umsiedeln. Also mussten sie selbst entscheiden und unterschreiben – obwohl sie gar nicht genau wussten, was sie da unterschrieben, da niemand bereit war, ihnen die Adresse der jeweiligen neuen Unterkunft zu geben.

Ich erinnere mich daran, wie zwei Betreuer und die Chefin der Unterkunft auf Efret einredeten, er müsse jetzt sofort entscheiden, ob er nun nach Schwandorf gehen wolle oder nicht. „In Schwandorf wirst du leichter einen Arbeitsplatz finden“, er­klärten sie ihm. Solche Argumente machten mich wütend. ­Dabei war mir das Grundproblem ganz klar: Es war nötig, dass die Jungs so schnell wie möglich einen Platz in einer richtigen Jugendhilfe­einrichtung bekamen, sonst riskierten sie, an ihrem 18. Geburtstag in die Bayernkaserne zu müssen.

Ein Flüchtling, der noch nicht 18 ist, wird in Deutschland nicht abgeschoben und hat einen Anspruch auf Schule und Jugendhilfe. Deshalb geben sich so viele als Minderjährige aus, was dann vom Jugendamt geprüft wird. Die Resultate solcher Alterseinschätzungen des Jugendamtes erschienen uns, die wir die Schüler fast täglich erlebten, jedoch in vielen Fällen grotesk. Musterschüler Massoud aus Afghanistan war ein besonnener, ­gebildeter, höflicher, 1,80 Meter großer junger Erwachsener – und wurde als 15-jährig eingestuft. Martins aus Nigeria hielten wir sogar eher für 30 als für 17, und er erzählte oft von der Firma, in die er in Nigeria involviert war, anscheinend mindestens als Teilhaber. Andererseits war da Girmay aus Eritrea, der während der sechs Monate enorm in die Höhe schoss. Auf den Brief, in dem das Jugendamt geschrieben hatte, er sei 17 Jahre alt, war er so stolz wie nur ein 14-, 15-Jähriger es sein kann. Und dieses Alter schien realistischer.

Von Girmay lernte ich das einzige Wort auf Tigrinya, das ich nie vergessen werde: „Aiuaaa“ heißt (wenngleich es natürlich ganz anders geschrieben wird) so viel wie „aha“. Seine kleinen Erleuchtungen brachten mir viel Freude, ihr intellektueller Wert war jedoch gering. Girmay machte beim Lernen kaum Fort­schritte. Dafür lachte er umso mehr und kommunizierte mit Händen und Füßen. Dass er den Weg von Eritrea bis nach München geschafft hatte, konnte ich kaum glauben. Er musste einfach vom Himmel gefallen sein. Oder Teferi hatte ihn hergebracht. Teferi, sein Freund. Auch er hatte einen kindlichen Humor, wirkte aber absolut unabhängig. Er war klein, mit Augen, die schon alles gesehen hatten, ein richtiges Straßenkind. Er ruhte sich in der Flüchtlingsunterkunft ein paar Wochen lang aus – so wirkte es –, und irgendwann verschwand er. Drei Tage später erfuhren wir, dass er nun in Schweden lebt. Und auch Girmay entging der Umsiedelung nach Schwandorf: Eine meiner Kolleginnen, die sich über die Fehleinschätzung seines Alters ärgerte, übernahm die Vormundschaft für ihn und besorgte ihm einen Platz in der Münchner Jugendhilfe.

„Warte!“, sagte Filiam. „Ich habe ein Geschenk“

Und die anderen? Das Jugendhaus in Schwandorf, für das Efret sich so eilig entscheiden sollte, hatte mehr als ein Dutzend Plätze frei. Schließlich wurde noch eine nette, wirkungsvolle Weise gefunden, die Jungs von dieser Option zu überzeugen: Eine Sozialarbeiterin aus Schwandorf kam extra nach München, um sich den Jungs vorzustellen und von ihrer Einrichtung zu erzählen. Der Großteil unserer Eritreer zog schließlich dort ein.

Der 13-jährige Tarek, einer meiner Schüler aus der Gruppe der langsamen Anfänger, rief mich Monate später einmal von dort aus an, um zu sagen, dass es ihnen gut geht: „Schwandorf klein, Deutschkurs gut, Tzegay und ich ein Zimmer.“ Er hörte sich zufrieden an. Ich war beruhigt.

Die Notunterkunft in München sollte Ende Februar geschlossen werden. Nach der Abreise der Eritreer unterrichtete ich noch drei Tage lang, doch es waren nun zu wenige Schüler da, und niemand war motiviert. Hanibal plauderte einen Moment mit mir, Dawit kam für eine halbe Stunde in meinen Kurs, bevor er sich wegen Kopfschmerzen verabschiedete. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass die Schüler sich mehr um mich kümmerten als anders­herum. Meine Kurse waren wie ausgestorben, aber jeder schenkte mir ein paar Minuten Aufmerksamkeit, damit ich mich nicht allzu traurig und einsam fühlte.

Am Montag darauf sollten die restlichen Schüler die Notunter­kunft verlassen. Ich kam um 9.30 Uhr, um mich zu verabschieden, Dawit und Mustafa waren aber schon um 9 Uhr mit einem Bus abgeholt worden. Im Schlafsaal, in den ich jeden Morgen gekommen war, um meine Schüler zu wecken und zum Unterricht zusammenzutrommeln, war es totenstill. Nachdem ich ein paar Mal gerufen hatte, tauchte Filiam auf einem der Hochbetten in der hintersten Ecke des Schlafsaals auf. Hanibal stand ­daneben. Ich verabschiedete mich mit einem Händedruck, doch Filiam sagte: „Warte! Ich habe ein Geschenk.“ Er drehte sich um, wühlte in einer Plastiktüte und streckte mir dann ein Armband aus ­Zuckerperlen entgegen. Raus hier, dachte ich, damit sie mich nicht weinen sehen.

Ein paar Wochen zuvor hatte er in meinem Unterricht mit Buntstiften ein Bild für seine Freundin gemalt. „Ghishenk“, hatte er groß und breit darauf geschrieben, und ich hatte ihn aus­gelacht, auf nette Weise: „Was ist denn ein Ghishenk?“ „Na, ein Ghishenk, du weißt schon. Wie Weihnachten.“

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