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Jeder braucht einen anderen
Über 300 Menschen hat die Sea-Watch 4 im Mittelmeer gerettet und nach Palermo gebracht. Wie geht es weiter für die Bootsflüchtlinge?
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Thomas Lohnes
19.10.2020

Kapitän Stevan Nonkovic und seine Crew halten Ausschau nach schiffbrüchigen Migranten auf dem Weg nach Europa – und treffen innerhalb von 48 Stunden auf drei Schlauchboote mit insgesamt mehr als 200 unterkühlten und erschöpften Menschen.

"Jeder weiß, wie Migranten hierhergekommen sind", sagt Amadou Diallo. Der 21-jährige Mann aus Guinea erzählt die Geschichte seiner Flucht ungern. In Palermo auf Sizilien hat er sich eine neue Existenz aufgebaut. Seit fünf Jahren ist er in Italien. Sein Weg in Europa bleibt steinig.

Amadou spricht fließend französisch und italienisch, darüber hinaus ein gutes Englisch. Er hat mit befreundeten Migranten:innen in Palermos Altstadt einen Laden aufgebaut, da sitzt er meistens am Computer: In der "Giocherenda" ist er für die Verwaltung zuständig. Andere nähen Taschen und verkaufen sie im Internet. "Jeder gibt, was er kann", sagt Amadou. Das ist die Idee von "Giocherenda". Das Wort kommt aus der afrikanischen Sprache Pular und heißt "solidarisch sein", gemeinsam Freude, Wissen und Fähigkeiten teilen. Herzstück des Ladens an der Via Aragona sind Spiele, die nicht auf Gewinnen und Verlieren aus sind, sondern Gemeinschaft stiften. Gemeinschaft ist ein hoher Wert in der afrikanischen Kultur, sagt Amadou. Ein Wert, den das Team von "Giocherenda" auch Europäer:innen vermitteln will. Das Logo ist ein Baum, um den sich Menschen tummeln, junge und alte.

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Constanze Broelemann

Constanze Broelemann, Jahrgang 1978, leitet die Graubündner Redaktion der evangelisch-reformierten Zeitung in Chur. Die Zeitung "reformiert" ist die auflagenstärkste evangelische Zeitung in der Schweiz. Außerdem arbeitet sie in Teilzeit im Pfarramt in der Schweiz und macht schwerpunktmäßig Konfirmandenarbeit.
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Fotograf Thomas Lohnes dokumentierte für den epd die erste Mission der "Sea-Watch 4".

Amadou Diallo (links) aus Guinea und sein Kollege Omar Sillah aus Gambia arbeiten im "Giocherenda"-Laden in der Altstadt von Palermo. Im "Porco Rosso" beraten Freiwillige die Migranten.

Amadou kam als 16-Jähriger mit dem Boot nach Italien. Als unbegleiteter Minderjähriger hatte er einen besonderen Schutzstatus in Europa. In einem Gemeinschaftscenter des italienischen SPRAR (System zum Schutz der Asylbeantragenden und Flüchtlinge) verbrachte er das erste Jahr auf dem Kontinent. Er bekam Essen und einen Schlafplatz. Schon damals sagte er: "Danke dafür, aber ich bin nicht gekommen, um hier bloß zu essen und zu schlafen". Amadou wollte weiter, er wollte die Schule beenden, die er in Guinea angefangen hatte. 2016 machte er seinen Schulabschluss und begann, Tourismus-Wissenschaften an der Universität von Palermo zu studieren. Um sich das Studium zu finanzieren, arbeitete er als Rezeptionist in einem Restaurant. Wegen Covid-19 fällt der Job im Restaurant jetzt weg. Auch für das Studium ist Amadou derzeit blockiert. Das sogenannte Salvini-Dekret von 2018 wirkte in Italien bis Anfang Oktober noch, die Vergabe von humanitären Aufenthaltsbewilligungen war ausgesetzt, und das hieß: keine Beschäftigung, kein nationaler Gesundheitsdienst, Sozialhilfe und Wohnraum. Ob sich die Situation für die Flüchtlinge durch ein beschlossenes neues Gesetz verbessern wird, ist noch unklar. Die "Giocherenda" ist derzeit das Einzige, was er tun kann, dort ist er ehrenamtlich im Einsatz.

Amadou gehört immerhin zu denen, die nicht sofort zurückgeschickt werden, wenn sie von den Rettungsschiffen oder den Gummibooten, die sie über das Mittelmeer gebracht haben, an Land kommen. Tunesier bekommen direkt nach der Anlandung ein Papier in die Hand gedrückt, das sie unterzeichnen müssen. Darauf steht, dass sie umgehend das Land verlassen sollen. "Die meisten unterschreiben das", sagt Sergio Petrona Baviera vom Zentrum "Porco Rosso" in Palermo. Er und einige Freiwillige helfen Migrant:innen in Palermo, zu ihrem Recht zu kommen. Denn legal wäre es, dass die Geflüchteten zumindest wegen ihres Asylbegehrens angehört werden. Petrona sagt, dass inzwischen viele Tunesier wegen der Folgen des Klimawandels fliehen. "Als Fischer finden sie in ihrem Land keine guten Bedingungen mehr vor." Doch klimatische Bedingungen sind kein Asylgrund. Und so landen viele Geflohene ohne Aufenthaltsstatus auf den Straßen Europas, nicht selten in Prostitution und Kriminalität.

An Bord der "Sea-Watch 4" warten mehr als 300 Flüchtlinge darauf, dass das Schiff in einen sicheren Hafen einlaufen darf. Schließlich heißt es: Ja! Palermo. Die Erleichterung ist groß.

Bevor sie in Europa landen, haben die meisten Abenteuerliches hinter sich. Die Fluchtgeschichten, die wir an Bord der Sea-Watch 4 hörten, ähneln sich. Immer sind es Krieg, Gewalt, Armut oder familiäre Konflikte, die Menschen zur Flucht zwingen. Viele Afrikaner müssen zunächst die Wüste durchqueren, ehe sie nach Nordafrika kommen. Sie durchqueren sie auf Trucks, die von Kriminellen gelenkt werden, oder sie gehen zu Fuß, tagelang ohne Wasser. Viele überleben schon das nicht. An Bord der "Sea-Watch 4" waren allein 98 unbegleitete Jugendliche, wie einst Amadou einer war. Viele waren auch in Libyen. "Libyen ist die Hölle", war einer der meistgesagten Sätze an Bord der "Sea-Watch 4". In dem Bürgerkriegsland würden Ost- und Westafrikaner behandelt  wie Vogelfreie. In Auffanglagern  sind Folter und sexueller Missbrauch an der Tagesordnung. "Wir sind für die wie Sklaven", berichteten Gerettete. Da es für Afrikaner keine Möglichkeit gibt, auf legalem Weg nach Europa zu kommen und einen Asylantrag zu stellen, bleibt nur die Flucht über das Mittelmeer.

Anfang September erreicht die "Sea-Watch 4"  Italien. Die Erleichterung ist groß. Das Schiff und der Einsatz werden überwiegend aus kirchlichen Spenden finanziert – es wird von Sea Watch und "Ärzte ohne Grenzen" im Auftrag des zivilen Bündnisses "United4Rescue betrieben.

Bis heute gibt es keine gesamt-europäische Lösung, um das Sterben im Mittelmeer aufzuhalten. "Mare Nostrum", eine Operation der italienischen Marine und Küstenwache, wurde 2014 mangels finanzieller Unterstützung aus der EU eingestellt. Heute sind es vor allem zivile Seenotretter wie die "Sea-Watch", die schiffbrüchige Flüchtlinge aufnehmen.

Dass Amadou mit seinen friedlichen Spielen für Solidarität zwischen Europäer:innen und Afrikaner:innen werben will, ist ein Hoffnungsschimmer. Wer die Lebenskraft und Resilienz aufbringt, die Strapazen einer Flucht durchzustehen, kann mehr. Das hat auch den US- amerikanischen Psychologen Philip Zimbardo aufhorchen lassen. Der ehemalige Stanford- Professor hat die Gründer der "Giocherenda" gecoacht. Heute bringen die ehemaligen Flüchtlinge  sogar europäischen Führungskräften bei, wie man konstruktiv Teams führt. "Denn", sagt Amadou, "jeder braucht jemand anderen."