27.03.2023

Liebe Leserin, lieber Leser,

wissen Sie, was der meistgelesene Text aller Zeiten auf unserer Homepage ist? Nein, nicht einer über Liebe, Tod oder Tiere. Es ist meine nüchterne Anleitung, wie man zum Tun und Treiben von Großvätern im Dritten Reich recherchieren kann. Das Interesse an solchen Recherchen hört nicht auf, es wächst sogar.

Da sind die Älteren, die endlich wissen wollen, warum ihr Vater so ein Wüterich war oder so ein depressiver Schweiger. Aber da sind auch neugierige Enkel und Enkelinnen, die spüren: Da ist was nicht erledigt. Sie haben ausreichend emotionalen Abstand zu den Vorfahren, das erleichtert die Recherche. Hinzu kommt: Die Archive sind mittlerweile deutlich nutzungsfreundlicher.

Und die Archive braucht man. Die können rausfinden, ob der Großvater in der Wehrmacht war und wo und ob er Mitglied in der NSDAP war. Für solch eine Anfrage braucht man nur den Namen und das Geburtsdatum. Zwar finden sich meist bei irgendeiner Tante oder einem Cousin noch Dokumente (Briefe, Lebensläufe, Arbeitszeugnisse, Fotos), und in Gesprächen auch mit weiter entfernt Verwandten erfährt man von familiären Legenden (die oft immerhin teilweise stimmen), aber anfangen sollte man mit der Archivanfrage, denn Archive antworten manchmal erst nach einem halben Jahr.

Diesen Tipp hörte ich jüngst von Johannes Spohr, einem Historiker, der selbst über seinen Großvater geforscht hat und der Recherche-Workshops für Laien gibt. Ihn hatten wir deshalb jüngst zu einem 50-minütigen Webinar eingeladen: NS-Vergangenheit der eigenen Familie recherchieren. Es ist weiterhin hier anzuschauen.

Ich selbst hatte eigentlich nach Haika gesucht, der ehemaligen Haushaltshilfe meiner Großeltern. Es dauerte, bis ich kapierte, dass Haika eine Zwangsarbeiterin aus der Ukraine war. Und es brauchte einige Recherche, bis ich herausfand, warum mein Opa, ein Städteplaner und Architekt, eine "Ostarbeiterin" im Haus hatte. Er war früh in der NSDAP Mitglied, und seine Karriere endete erst, als man seinen Ariernachweis beanstandete: Seine Mutter (meine Urgroßmutter) war eine geborene Levi.

Übrigens haben ziemlich viele Deutsche eine familiäre Verbindung zur Ukraine. Denn die Ukraine war einer der Hauptkriegsschauplätze des Zweiten Weltkriegs. Sehr viele Väter und Großväter waren dort als Soldaten unterwegs oder als Angehörige der nachfolgenden Besatzungsverwaltung (womöglich auch so manche Großmutter als Schreibkraft). Auch mein Opa war dort, er kam wieder heil zurück; mein Onkel kehrte erst nach Jahren aus Sibirien heim; und der Verlobte meiner Mutter starb 1943 an einem Hüftschuss. Kurz davor hatten sich alle drei noch auf der Krim getroffen. In kurzen Hosen unter Palmen. Auch solche Fotos dürften in manchem Haushalt noch zu finden sein.

Die total verwüsteten Städte und Dörfer und die Massengräber haben die Großväter eher nicht fotografiert. Etwa jedes fünfte Opfer des Zweiten Weltkriegs in Europa ist eine Ukrainerin oder ein Ukrainer. Man könnte wenigstens Geld spenden für die nun sehr alten letzten Überlebenden der NS-Verfolgung – zum Beispiel ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter oder jüdische Kinder, die in Verstecken überlebt haben. 40.000 leben noch, nur etwa 2500 von ihnen konnte ein neu gegründetes deutsches Netzwerk helfen, ich habe die Koordinatorin interviewt (und, logisch, auch gleich gespendet). Hier können Sie das Interview lesen.

Ich wünsche Ihnen eine gute Woche!
Christine Holch
Chefreporterin

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