15.03.2021

Liebe Leserin,

lieber Leser,

schicken Sie in Ihrem Freundeskreis auch manchmal per Whatsapp diese Witze rum? "2050 wird das Land von Kindern geführt, die von weintrinkenden Müttern zu Hause unterrichtet wurden." Ich finds lustig. Aber nicht mehr ganz so lustig, seit wir für chrismon mit Eva Hoch und Jörg Böckem gesprochen haben. Die eine therapiert Drogen- und Alkoholabhängige in der Münchner Uniklinik. Der andere war jahrelang von Heroin und anderen illegalen Drogen abhängig, schreibt heute Bücher und geht zur Aufklärung in Schulen und Gefängnisse. Beide klagten: Corona macht das Suchtproblem noch viel übler, als es vorher schon war.

Ja, auch das Alkoholproblem. Wir hängen alle viel zu viel zu Hause rum, wir sind erschöpft - und es beobachtet uns niemand. Jede und jeder Dritte trinkt mehr Alkohol seit Corona, und wie praktisch, dass im Zoom-Meeting niemand die Schnapsfahne riecht. Schlimme Zeiten aber auch für Heroinabhängige. Deren Hilfsnetz ist von heute auf morgen zusammengebrochen. Und übrigens auch die Lieferkette: Viele Drogen kommen schlicht nicht mehr so leicht über geschlossene oder überwachte Grenzen. Klingt nach einer guten Nachricht. Führt aber dazu, dass schwer Drogenabhängige noch übleres Zeug zu sich nehmen. Hinzu kommt, dass ihr oft geschwächter Körper sie anfällig macht für einen schweren Corona-Verlauf. 

Alles ganz schön elendig und nicht so Heroin-schick wie in der gerade wieder aufgelegten Serie "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo". Ist es nicht verrückt, wie viele Generationen Buch und Film in den Bann gezogen haben? Böckem, der so alt ist wie ich, erinnert sich: "Das Spannende an dem Buch fand ich gut, und das Schreckliche, dachte ich, passiert mir nicht." Abschreckend wirkt es gar nicht. Drogen sind eben nicht nur "scheiße", sie geben dir was. Warum wir das S-Wort, wie manche Leser:innen beklagen, im Titel stehen ließen? Weil es ein Zitat ist von Jörg Böckem. Und weil manche uns geschrieben haben: Genau wegen dieses Titels hätten sie das Interview gelesen. Ja, was ist das, was jenseits von "scheiße" so schön ist an Heroin, Kokain oder Psilocybin?   

Abschreckung allein funktioniert ja offenbar nicht so gut bei unseren Jugendlichen. Hat sie jemals funktioniert, zum Beispiel, als unsere Lehrer:innen in den 70er Jahren Videos von ausgemergelten Junkies und teergeschwärzten Lungen zeigten? Aber fahren Eltern wirklich besser, die sich heutzutage mit ihren Kindern zusammen bei der Cannabisentwöhnung an der Münchner Uniklinik anmelden? Dort praktizieren sie "Candis", ein verhaltenstherapeutisches Konzept mit hoher Erfolgsquote.

Ich werde weiter ab und zu abends ein Glas Wein trinken. Aber sich selber gerade in diesen harten Corona-Zeiten gut zu beobachten, das habe ich aus dem Gespräch mit Hoch und Böckem mitgenommen. Schauen Sie auf sich. Und auf Ihre Nächsten.

Und kommen Sie gut durch die Woche!

Ihre 

Ursula Ott

Chefredakteurin 

PS: Vielen Worten geht es grade nicht so gut. Oder es geht Menschen nicht so gut, wenn sie die Worte hören: Exotisch. Rasse. Männlichkeit. Schwarzfahren. Problemstadtteil. Wo kommt das her? Und wie geht das besser? In meinem neuen Podcast "Sprachstunde" spreche ich 20 Minuten mit jeweils einem Gast darüber, warum manche Worte weh tun und was man vielleicht anders formulieren könnte. Alle zwei Wochen auf chrismon.de, Spotify, Apple Music und Deezer.