Raus aus der Schockstarre!
Raus aus der Schockstarre!
Martin Obrikat
Raus aus der Schockstarre!
Schluss mit der Mutlosigkeit! Ein Kunsthistoriker, der Pfarrer wurde, ermutigt zum Jobwechsel.
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
08.12.2021

Auferstehungskirche Aachen, Sonntag, 10 Uhr: Es sind gar nicht so viele gekommen. Die 25 Anwesenden verteilen sich über die längs gestellten Bänke und schauen einander in die maskierten Gesichter. Die Sonne strahlt durch das gläserne Rundumoberlicht und erhellt den großen Kastenbau. Heute predigt Pfarrer Dr. John Nicholls. Unter der großzügig angelegten Orgelempore steuert ein Mann am Mischpult das Mikrofon, regelt die piepsenden Rückkopplungen runter und überträgt den Gottesdienst ins Internet; nicht alle trauen sich aus ihren vier Wänden.

"Lasst euch nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem", ­lautet der Wochenspruch. "Danach sehnen wir uns, dass uns das Böse nicht verschlingt", betet Nicholls. Und: "Schenke uns die Kraft deines Geistes, auch unbequeme Wege zu gehen." Nach der Lesung soll die Gemeinde "Zieh an die Macht, du Arm des Herrn" singen. Der Kantor intoniert ein interessantes Choralvorspiel; die Melodie des wenig bekannten Liedes spielt er nicht. Man quält sich schlecht vorbereitet durch die Noten.

Umso erfrischender die Predigt: Nicholls hat im Mobil-Magazin der Bahn einen Artikel über Jobwechsler ge­lesen. Er selbst ist promovierter Kunsthisto­riker und hatte an Museen gearbeitet, bevor er zur Theologie fand: Ein Drittel der Deutschen können sich vorstellen, mit ihrer Arbeit ­ noch einmal ganz neu anzufangen. Doch die ­wenigsten trauen sich so etwas. Wie schade!

Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff

Burkhard Weitz

Burkhard Weitz war als chrismon-Redakteur bis Oktober 2022 verantwortlich für die Aboausgabe chrismon plus. Er studierte Theologie und Religionswissenschaften in Bielefeld, Hamburg, Amsterdam (Niederlande) und Philadelphia (USA). Über eine freie Mitarbeit kam er zum "Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und war mehrfach auf Recherchen in den USA, im Nahen Osten und in Westafrika. Seit November 2022 betreut er als ordinierter Pfarrer eine Gemeinde in Offenbach.

"Ich bin nicht gekommen, Frieden zu ­bringen, sondern das Schwert", sagt Jesus. Gemeint sei wohl ein Schwert, das eine Schneise durch das Dickicht schlägt. "Solch ein Schwert können wir gebrauchen, wenn wir den Blick in die Zukunft richten." Nicholls ruft auf, die Schockstarre nach Corona zu ­lösen, nicht vor Trägheit zu ermüden, aufzubrechen, loszulassen, etwas zu wagen. "Das Evangelium will uns streitbarer machen. Seien wir gewiss, dass uns unser Glaube trägt." Der Organist reagiert mit interessanten, aber doch spröden Harmonien.

Die Kollekte ist für Kinder­garten und "innovative" Projekte bestimmt. Na, etwas konkreter darf’s schon sein! In der Für­bitte verrutscht Nicholls ein Satz: "Wir erkennen, dass viele junge Leute die Orientierung ­verlieren, weil niemand ihnen die Richtung weist." Hm, ist das so? Die Empfehlung vorm Segen, "Ziehen Sie sich warm an", gilt wohl denen hinterm Bildschirm. ­ Der Organist hat sich ein etwas trübes Nachspiel ausgesucht. Immerhin endet es im ­strahlenden Dur.

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