Lena Uphoff
15.11.2010

Als der Kollege Willi zum ersten Mal in meinem Büro stand und mit weit ausholender Armbewegung, gerötetem Gesicht und leicht außer Atem keuchte: "Herr Brummer, wir haben da ein Riiiiiesenproblem! ", beschleunigte sich mein Puls merklich. Und meiner Fantasie bemächtigten sich schlimmste Ahnungen.

In Zehntel-, nein in Hundertstelsekundenfrequenz durchzuckten mein Hirn Katatstrophenszenarien: Die Druckerei ist bankrott, der Prokurist ist mit der chrismon-Kasse durchgebrannt, alle Grafikerinnen sind einer unheimlichen Infektion zum Opfer gefallen. Die Reihenfolge mag politisch und ethisch inkorrekt sein, vielleicht suchten mich die Schreckensvisionen auch in gerade umgekehrter heim.

"Ja", hauchte ich gefasst, räusperte mich, meine Aufmerksamkeit damit ganz auf den Unheilsboten konzentrierend, "ja - was ist passiert?" Willi sah mir ernst ins Gesicht und hub an: "Die Kollegin Eleonore P. sieht sich außerstande, den Text über die vietnamesischen Fischer vor Juni zu liefern." Schweigen. Dann frage ich: "Und was machen wir?" Willi zog die Stirn kraus: "Am besten ist, wir ziehen die Reportage aus Berlin vor." - "Einverstanden. Sonst noch etwas?" - Nein, das sei alles gewesen, antwortete der Kollege.

"Riiiiesenproblem"

Inzwischen erschrecke ich nicht mehr, wenn Willi in die Tür tritt und ein "Riiiiesenproblem" präsentiert. Ich kann mich darauf verlassen, dass er nämlich mindestens drei sofort wirksame Lösungsvorschläge parat hat und es sich eigentlich nur um eine ganz normale Alltagsschwierigkeit handelt. Ich kenne meinen Kollegen inzwischen. Willi ist ein dramatischer Mensch. Er gehört auf eine Bühne. Wie der Bote in einer antiken Tragödie oder einem Werk von Shakespeare tritt er auf, seine Meldung gestisch und mimisch unterstreichend.

In der Lokalredaktion im Schwarzwald, in der ich das Zeitungshandwerk gelernt habe, wirkte die Sekretärin Hilde. Eines Morgens kam sie zehn Minuten später als sonst zur Arbeit. Unser Chef rief ihr spöttisch entgegen: "Na, Hildchen, war's gestern spät?" - "Nee, eigentlich nicht", erklärte die Angesprochene, ohne die Stimme zu heben, "ich hatte heute Morgen nur ein kleines Problem. Mein Auto stand auf dem Parkplatz in Flammen, warum, weiß ich noch nicht." Sie ließ uns mit offenen Mündern stehen, zog in aller Ruhe ihren Mantel aus und setzte sich an ihren Platz.

Hilde "unterspielte", wie die Theaterleute sagen, ein vor allem im Film beliebtes Element zur Steigerung der Spannung. Der Urvater dieser Technik ist Anaxagoras, ein vorsokratischer Philosoph, etwa 500 vor Christus geboren. Als man ihm mitteilte, dass in einer Schlacht seine beiden Söhne gefallen seien, antwortete Anaxagoras nur knapp: "Ich wusste, dass ich Sterbliche gezeugt habe." Nicht überraschend, dass er sich als Mathematiker vor allem mit der Quadratur des Kreises beschäftigt hat. Wenn man das ernsthaft versucht, ist ein stoisches Wesen allemal nützlich.

Die geradezu idealtypische Verkörperung des Unterspielers gelang einst dem Schauspieler Peter Falk mit der Figur des TV-Serien-Detektivs Columbo. Als ich mir jedoch neulich aus purer Nostalgie einmal fünf Columbo-Folgen hintereinander reinzog, konnte ich mich ab der dritten einer gewissen Müdigkeit nicht erwehren. Wirklich spannend ist Unterhaltung wohl nur, wenn sie uns zu überraschen vermag.

Ich sprang auf und griff ihm ans Revers

Ich liebe es, überrascht zu werden, habe meine Freude sowohl am Unterspielen wie an opulenter Dramatik. Eine Meldung mal so, mal so präsentieren zu können, möglichst noch unter Berücksichtigung der jeweiligen Stimmungen des Publikums, macht den guten Rhetoriker aus.

Neulich stand der Kollege Willi vor meinem Schreibtisch.

"Herr Brummer", sagte er beiläufig, "wir haben da eine klitzekleine Schwierigkeit ..." Ich sprang auf und griff ihm ans Revers. Es war tatsächlich etwas Schreckliches passiert. Die Espressomaschine hatte den Geist aufgegeben. 

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