Johanna HabererPrivat
20.10.2010
Invokavit
Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.
1. Mose 3,7

Mitten ins Chaos hat Gott einen Zaubergarten gesetzt. Alles gibt es da: wuchernde Pflanzen, geschmeidige Tiere, einen Nachthimmel mit funkelnden Sternen, Früchte, die den Menschen in den Mund wachsen, glitzernde Quellen, fischreiche Teiche, Insekten, Gewürm ­ und die Schlange. Bevor dieser Garten entstand, hatte Gott ein gigantisches Schöpfungswerk vollbracht. Er hatte die Ordnung der Natur hergestellt, die Gestirne in die Himmelskuppel gehängt, Erde und Meer getrennt und die Urflut gezähmt. Als ihm später die Menschen zu viele und zu böse werden, lässt er die Urflut wieder los und Hunderttausende werden ertrinken.

Doch zwischen dem Chaos und der mörderischen Sintflut liegt im Gedächtnis der Menschheit dieser Garten, in dem es alles gibt, auch das unendliche Leben und die Erkenntnis von Gut und Böse. Diese Dinge wachsen dort auf Bäumen, und wer sich reckt, kann sie erreichen. Gott hat angeblich ihren Genuss verboten, aber die Bibel hält fest, dass der Mensch so geschaffen ist, dass er sich an das Verbot, Erkenntnis zu gewinnen, nicht halten kann.

Es ist auch für Gott aussichtslos, seine Geschöpfe an der Erkenntnis zu hindern. Es ist zu vermuten, dass Gott das gar nicht wollte. Er hätte den Baum ja mit einer Mauer umgeben können oder einfach außerhalb der menschlichen Reichweite aufstellen können. Gott fordert den freiwilligen Verzicht auf die Unterscheidung von Gut und Böse. Nein! Das kann Gott von seinen Geschöpfen, denen er seinen Atem eingehaucht hat, eigentlich nicht verlangen, denn dann müsste der Mensch auf das Göttlichste verzichten, was sein Schöpfer dem Ebenbild mitgegeben hat: das Bewusstsein.

Bewusstsein heißt Selbsterkenntnis. Die ersten Menschen lebten offenbar dort im Garten Eden in der unfraglichen Übereinstimmung mit ihrer Umgebung. Paradies heißt offenbar: das fraglose Leben. Das Leben ohne die Anfechtungen des Geistes. Die paradiesische Anmut einer solchen Existenz können wir bei Säuglingen und Kleinkindern erleben, die keine Empfindung verbergen und Angst nur instinktiv spüren. Aber wenn das Kind größer wird, steht es eines Tages vor dem Spiegel und sagt: "Ich!"

Mit diesem Bewusstsein ist das Nachdenken über sich selbst verbunden und die Chance auf eine freie Willensentscheidung. Letztlich ist damit die Möglichkeit des Menschen verbunden, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und die Konsequenzen seines Handelns zu tragen. Um nichts Geringeres geht es in der Urgeschichte am Anfang der Bibel.

Die Strafe, die Gott den Menschen für ihre Generalübertretung zumutet, ist klein, verglichen mit dem ungeheuren göttlichen Schatz des menschlichen Bewusstseins. Wir müssen arbeiten und unser Leben und Überleben im Schweiße unseres Angesichts verdienen. Wir haben Schmerzen bei der Geburt, obwohl die Menschheit dank ihres Bewusstseins diesen göttlichen Fluch inzwischen erheblich abmildern kann. Und wir müssen sterben. Gott sei Dank. Dank unseres Bewusstseins sind wir die einzigen Lebewesen, die den eigenen Tod vorauswissen und reflektieren können.

Die Schöpfungsgeschichte erzählt von der milden Strafe, die die Menschheit erhielt, weil sie sich Gott näherte. Der Preis des Bewusstseins ist allerdings auch noch, dass wir das Gefühl eins zu sein mit Gott verloren haben. Aber auch da erbarmte sich Gott ­ und wurde Mensch.