Selbstversuch Gendercrossing
Mann, tut das gut!
Männlichkeit kann man lernen – ein Selbstversuch in Workshops von Diane Torr und Stephanie Weber
Zwei der Männer-Outfits. Nur Jungs-Konfirmationsschuhe gab es in Größe 38
Valerie Schmidt
Tim Wegner
14.07.2014
14Min

Da hab’ ich mir was eingebrockt. Die Männerhosen sind um die Hüfte alle zu eng, dafür schlabbert das Jackett um die Schultern. Also raus aus der Herrenumkleide, in die ich mich geschlichen hatte. Nun muss ich mich doch einer Verkäuferin offenbaren: Ich brauche original Männerklamotten, denn ich will auf der Straße als Mann durchgehen; das werde ich in einem Workshop lernen. Die Verkäuferin – jung, zierlich, Einwanderertochter – macht große Augen: boah, toll. Ob das nur für Journalistinnen sei, oder ob sie da auch mal...?

Wenigstens den Gürtel kann ich mir von meinem Mann leihen. Nach kurzem Disput. Ich: brauner Gürtel, weil die Hose braun ist. Er: nein, schwarzer Gürtel, weil die Schuhe schwarz sind. Die Schuhe habe ich aus der Kinderabteilung, Konfirmandenschuhe in Größe 38. "Schwindele dich nicht mit Reeboks für Frauen durch", hatte Kursleiterin Diane Torr vorab gemailt. ­"Männerschuhe sind geräumiger. Sie geben dir das Gefühl, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen und den Boden unter deinen Füßen zu besitzen."

Um als Mann durchzugehen, reicht Männerkleidung allein ­allerdings nicht. Das, woran man einen Mann zu erkennen meint, ist sein Habitus: sein Gang, seine Gestik, seine Mimik, sein Blick. Deshalb sollen die Teilnehmerinnen schon vor dem Kurs einen Mann finden, den sie darstellen wollen.

Hausaufgabe: Männern hinterherlaufen und sie nachmachen

"Beobachte Männer, folge ihnen", lautet die Hausaufgabe, die Diane Torr uns mailt. "Keine Angst, das merken die nicht, denn sie fühlen sich unbeobachtet." Also gehe ich in der Fußgänger­zone Männern hinterher. Männer meiner Statur spreizen gern die Arme ein wenig ab, drehen die Handrücken nach vorn, schaufeln beim Gehen. Das kriege auch ich hin.

Klar, männliches Auftreten liegt ja nicht in den Genen, sondern ist gelernt. Was haben meine Freundinnen und ich als Teen­ager trainiert, dass wir ausreichend weiblich erscheinen! Eine Hand seitlich an den Hals legen wie ein Schmuckstück. Im Sitzen die Beine umeinanderschlingen und dann seitlich kippen – elegant, aber unbequem. Das Gemachte an der Männlichkeit lässt sich ebenso imitieren. Und genau das werden wir im Wochenendworkshop "Man for a day" in Berlin lernen. Mir ist schon ganz flau.

Wie verschieden Bärte sein können! Fotos dienen als Vorlage

"Ihr seid mutig", sagt Diane Torr zur Begrüßung zu den zehn Frauen, die sie groß anschauen. Sie trägt einen geringelten Rock über schwarzen Leggings, eine frohbunte Designerjacke, sie hat rote Haare und große grüne Augen. Als Mann ist sie übrigens genauso überzeugend. Aber wieso macht sie so was Verrücktes?

Diane Torr - 160 cm groß und ganz Mann

Vielleicht fing alles mit ihrem Vater an. Der war ein alkohol­kranker schottischer Marineoffizier und sehr gewalttätig. Als die Mutter starb, blieb Diane alleine mit dem Vater zurück. Wie alle Kinder gewalttätiger Eltern lernte sie, genau zu beobachten, um an kleinsten Gesten eine bedrohliche Stimmungsänderung ­vorauszusehen. Mit 16 riss sie von zu Hause aus, sie wurde aufgegriffen und in ein geschlossenes Heim gesteckt. Mit 20 kam sie endlich raus, ausgestattet mit Freiheitsdrang und Erfahrungslust. Sie studierte Soziologie und Tanz, ging nach New York, wurde Performancekünstlerin.

Einmal posierte sie für eine Fotokünstlerin als Mann, danach blieb keine Zeit, sich umzuziehen und abzuschminken, also ging die 1,60 Meter große Frau in ihrer Verkleidung durch New York – und wurde als Mann akzeptiert. Das begann sie zu interessieren. So wurde sie im New York der 80er zur bekanntesten Frau-zu-Mann-Performerin.

Wo sie ging und stand, beobachtete sie nun Männer. Auch auf den Elternabenden der teuren Schule, an der ihre Tochter ein Stipendium hatte. Gute Mutter, dachten die anderen ganz offensichtlich, wenn sie Diane Torr eifrig mitschreiben sahen. Tatsächlich notierte sie, wie die Väter – Anwälte, Manager, Ärzte – agierten.

In ihren Männerfiguren stecke viel von ihrem Vater, sagt sie, Fünfziger- und Sechzigerjahre-Männlichkeit also, doch junge Männer, die Manager werden, legten sich genau diese Gesten zu. Effektvoll etwa der gelegentliche schnittige Handkantenschlag in die Luft. Oder: ein einzelnes Wort sagen, dann den Kopf langsam wie ein Reptil zur anderen Hälfte der Zuhörerschaft drehen, das nächste bedeutsame Wort sagen.

Diane ist 65, sie gibt "Man for a day"-Kurse seit 25 ­Jahren (Anm. der Redaktion: Leider ist Diane Torr 2017 gestorben). Die Nachfrage sei einfach da. Gerade war sie in Indien, auf Einladung des Goethe-Instituts. Die indischen Frauen wollten nicht für immer zum Mann werden, sie wollten ganz normale Dinge tun – eine Zigarette auf der Straße rauchen, in einem Lokal ein Bier trinken, nachts auf den Basar gehen. Geradeso wie die europäischen Frauen, die sich jetzt im Berliner Workshop einander vorstellen, mehr Verhaltensmöglichkeiten haben möchten.

Warum bloß wollen Frauen Männer spielen?

Susanne, 51, Kundenberaterin in einem Verlag, will nicht mehr dauernd nett sein, denn das koste so viel Kraft, Männer scheinen ihr anders, leichter ans Ziel zu kommen. Dokumentar­filmerin Daniela, 42, will in China in einem Bordell drehen ­können, und sie möchte erleben, wie es ist, als Mann die Straße entlangzu­gehen, sie erwartet ein Gefühl von Freiheit.

Geradezu mit Leidensdruck ist Olga, 23, gekommen. Die ­Studentin der Theaterwissenschaft, klein und blond, hat schon so viel versucht. Sich die Haare braun gefärbt, sich nicht geschminkt, flache Schuhe, "neutrale" Kleidung – trotzdem werde sie auf der Straße von Männern lauthals bewertet. Mittlerweile laufe sie nur noch mit Sonnenbrille und Ohrenstöpseln durch die Gegend. ­Eigentlich sei sie kurz vorm Explodieren. Endlich mal ungestört durch die Stadt zu gehen, vielleicht funktioniere das ja als Mann?

Die Verwandlung: Olga lässt sich mit Stoppeln einen Bart anschminken

Wir breiten unsere mitgebrachten Kostüme auf den Stühlen aus, Diane und ihre Assistentin begutachten. Mein Hemd sei zu farbig für den Beamten des Statistischen Landesamtes, als der ich unterwegs sein will. O. k., gehe ich halt als Medienberater. Ein mit Watte gefülltes Kondom kommt in die Hose (sieht beim Sitzen besser aus). Der Oberkörper wird straff mit einer elastischen Binde umwickelt – Shirt drüber, und wir scheinen einen trainierten Oberkörper zu haben. Fehlt nur noch die Gesichts­behaarung. Diane klebt mir Stoppeln auf die Wangen. Schließlich die Haare mit reichlich Pomade an den Schädel geklatscht.

"Super", sagen die anderen, "also grauslich. Also super."

Und nun? Was "tun" Männer? Oder besser: Was lässt ein Mann bleiben?
Hört zu lächeln auf, sagt Diane. "Als Frauen lernen wir, häufig zu lächeln, damit sich die Leute in unserer Gesellschaft wohl­fühlen. Männer lächeln nur, wenn sie einen Grund dazu haben." Wir nicken, ohne zu lächeln. "Und hört auf, dauernd bestätigend zu nicken", sagt Diane. Überhaupt: wenig gestikulieren, spärlicher Körperausdruck.

Bastel-Penis in die Hose und Klimpergeld in die Hosentasche

Was muss ein "richtiger" Mann nicht alles unterlassen! Er darf zum Beispiel viele Gefühle nicht zeigen, weil er sonst schnell mal als exaltiert, manieriert, affektiert gilt. Das hatte mir Professor Stefan Hirschauer erzählt, Geschlechtersoziologe in Mainz. Männer haben, sagte der Professor, zwar im Schnitt ein höheres Einkommen, vermutlich auch noch immer mehr Entscheidungsfreiheiten, aber weniger emotionale Freiheiten als Frauen.

Chefiges Auftreten ist noch immer eine der Leitnormen. Und so lernen wir im Kurs "Man for a day": Als Mann sitzen wir nicht vorn auf der Stuhlkante (dem Gegenüber freundlich-eifrig zugewandt), sondern zurückgelehnt auf der ganzen Stuhlfläche; wir machen uns nicht schmal (und nett) – sondern breit (und wichtig), im Sitzen wie im Gehen. Klimpergeld in der Hosentasche unterstützt die Coolness.

Öffentlich in der Nase bohren - das tun Frauen eher nicht

Sollten wir den Eindruck haben, dass jemand an unserem Mannsein zweifelt: hinstellen, Fersen heben und die Absätze mit einem satten Klack aufsetzen. Das tun Frauen nicht. Frauen fah­ren sich auch seltener mit der Zunge im ganzen Mund herum, dass die Backe ausbeult; sie pulen sich eher nicht öffentlich mit dem Fingernagel in den Zähnen. "Männer tun oft ganz selbstvergessen Dinge, die Frauen nie tun würden", sagt Diane. Es könnte ja sein, dass jemand sie beobachtet, sie stehen auch mehr unter Beobachtung als Männer.

Klar, das sind Klischees. Keine dieser Beschreibungen trifft auf alle Männer zu, noch nicht mal auf die meisten. Wir stellen ja auch nicht "die" Männer dar, sondern individuelle Männer. Nach dem Motto "Es gibt solche Typen" oder "Ich kenne so einen".

Unsere Männer sind mit breiten Pinselstrichen skizziert. Dabei sind wir gegenseitig durchaus kritisch: Dein Gang ist zu leicht, du gestikulierst noch zu viel, rede langsamer, halte den Kopf ruhig.

Übertreiben dürfen wir aber auch nicht. Als wir "Begrüßung" üben, patschen wir einander ausgiebig auf die Schultern, schütteln heftigst Hände. "Klischee", ruft Diane aus dem Hintergrund. Eine Begrüßung unter Männern sei eher kurz: Man reicht sich an geradem Arm eine schwere Hand, schaut dabei gern seitlich am anderen vorbei, schüttelt kurz. Fertig.

Auch als Frau hängt unsere Autorin gerne bequem im Stuhl, aber nicht ganz so breitbeinig

Aber wir müssen nicht perfekt sein. Es reicht, wenn die Leute es für plausibel halten, dass der Mensch, der ihnen da entgegenkommt, ein Mann ist. Sie blenden jene Details aus, die der Vorstellung von Männlichkeit nicht ganz entsprechen. Ein bekannter Effekt. Wichtig scheint nur, dass man jeden Menschen einem Geschlecht zuordnen kann. Der Soziologe Hirschauer nennt das den geschlechtlichen Ausweiszwang.

Ein Traum wird wahr: Ich bin unsichtbar

Und jetzt raus! Ich verlasse das Haus als Lars, Medienberater, Mitte fünfzig, ein gefragter Experte. Ich gehe langsam. Wichtige Leute rennen nicht. Ich gehe breit. Ich weiche niemals aus. Sollte ich was interessant finden, drehe ich den Kopf ganz langsam. Nichts kann mich aus der Ruhe bringen.

Oh nein, ich stehe mitten in einem Park! Auf der Wiese lagern wochenendgestimmte Menschen, die Zeit zum Gucken haben! Das wird übel ausgehen. Die Männer werden sich provoziert fühlen und den gefälschten Mann anpöbeln. Aber jetzt einfach wegrennen – ein kleiner Mensch mit Bart, der rennt wie eine Frau – geht gar nicht. Ich kriege schlechte Laune. Na klar, Lars hat schlechte Laune! Er ist auf einer Tagung in Berlin und hat bisher nur langweilige Vorträge gehört. Ich schaue so übellaunig, dass mir fast das Gesicht abfällt, und stapfe zum Spreeufer. Niemand guckt. Gerettet.

Oh nein, die Spreeuferpromenade ist gefühlt nur einen Meter breit! Links auf dem Geländer sitzt ein junger Mann, rechts auf der Bank lümmelt sein Kumpel. Dazwischen soll ich durch. Ich bin kurz vor Schnappatmung. Erst mal die Sicherungsposition einnehmen: Hände auf den Rücken legen, Absätze heben und runterklacken lassen, mit einem Grunzen imaginären Schleim tief aus dem Rachen hochziehen. Dann richte ich den Blick gelangweilt in die Ferne und gehe gemächlich zwischen den Männern hindurch.

Sie unterbrechen ihr Gespräch nicht eine Millisekunde. Als sei ich unsichtbar. Natürlich bin ich nicht unsichtbar, sonst ­würden die Frauen nicht geschmeidig zur Seite weichen, wenn ich ziel­strebig daherkomme. Ich habe Platz um mich. Und Stille. Niemand stört mich. Das könnte schön sein. Gerade finde ich es nur anstrengend. Ich will zurück ins Körbchen, sofort.

Da trudeln auch schon die anderen ein. Alle sind durchgekommen. Olga, als Frau genervt von ständigen Männerkommentaren, hatte geradezu eine beglückende Zeit als Mann. Unterwegs als Sascha mit die Silhouette verbreiterndem Kapuzenpulli, Baggy-Hose, Mütze tief in der Stirn, dicken schwarzen Augenbrauen. "Das erste Mal, dass mir jemand ausgewichen ist – geil! Die Leute haben mich überhaupt nicht beachtet. Wunderbar!"

Als sie einen Uhrenladen betrat, wurde sie zu den Männeruhren geschickt und dort beraten. "Toll auch, mitten im Einkaufszentrum einfach mal dazustehen. Frauen laufen immer geschäftig rum, schieben was, tragen was, als bräuchten sie einen Grund, in der Öffentlichkeit zu sein. Eigenartig. Warum gibt es keine Frauen, die rumstehen und einfach beobachten?"

"Das ist nicht nur Spaß, das ist richtig Arbeit!"

Susanne war vor allem von sich selbst überrascht: wie leicht ihr der mackerige Sam fiel. Sam, einst Junkie, jetzt Fotograf.

"Sonst, wenn ich komischen Leuten begegne, bin ich ein Schisser. Jetzt hab ich gedacht: Eine Zuckung, und ihr kriegt was auf die Fresse!" Im Café sagte sie zur Bedienung: "Püppie, bring mir mal ’nen Espresso." Fürs Bezahlen reckte sie dann nicht wie als Frau den Hals, um auf sich aufmerksam zu machen, sondern rief knapp durch den Raum: "Rechnung!" Sofort war die Bedienung da. Zum Ausgleich für das "Püppie" gab’s ein Extratrinkgeld.

Nur einmal fiel Susanne aus der Rolle. Sie sah einen kleinen Hund und zwitscherte: "Was bist du für ein Süßer!" Die Hundehalterin zog das Tier eilig weg.

Für den zweiten Ausflug müssen wir an unseren Männern noch arbeiten, findet Diane. "Das ist nicht nur Spaß, das ist richtig Arbeit!" Auch ein Hip-Hopper übe jahrelang abends vor dem Spiegel, sagt sie streng zu Olga. Olga hat verstanden: Auch der "neue" Mann, der sie gerne sein möchte, ist eine Performance und muss also geübt werden. Oberste Regel für Olga: am Satzende nicht die Stimme heben. Sonst klingt das so: "Ich bin Sascha? Ich bin Bootsmechaniker?"

Komischerweise finden die jungen Frauen meinen Lars sympathisch. Ha, ha, sage ich als Lars. Ich checke für Medienunternehmen das vorhandene Personal, wer bringt’s noch, wer muss gehen. Laut schleife ich einen Stuhl über den Boden, knalle ihn vor mich hin, bedeutungsvolle Pause, dann kippe ich den Stuhl. So geht das. Natürlich kostet meine Dienstleistung. Meine Frau hat eine Galerie. Meine Kinder studieren in den USA. Zahle alles ich. Wenn ich abends nach Hause komme, ist da nur die Katze. Die Katze kennt mich nicht.

Die jungen Frauen wollen am liebsten Softies spielen

Jetzt haben die jungen Frauen auch noch Mitleid mit mir. Und sympathisch finden sie mich immer noch. Harr, harr. Wollen wir doch mal sehen, wie weit sie kommen als neusanfte Männer, die sie sein wollen – solange es Männer wie mich gibt, wie Lars. Das will jetzt auch Diane Torr mal sehen. Lea, 25, angehende Sozialarbeiterin, und ich treffen als Männer aufeinander – als Florian und Lars.

Ich, also Lars, sitze im Büro, als der Sohn meines alten Freundes eintritt, der junge Mann ist fremd in der großen Stadt und braucht einen Erstkontakt. Ich sitze seitlich zur Tür, telefoniere in den Stuhl gefläzt mit einer Untergebenen, der junge Mann betritt den Raum – und bleibt unsicher stehen, weil ich ihn nicht anschaue. Natürlich schaue ich ihn nicht an! Stattdessen wedele ich ihn abwesend mit der Hand heran (von wem bloß habe ich mir diese Geste abgeschaut?), weise ihm einen Stuhl zu und beende erst allmählich mein wichtiges Telefonat. So, so, der junge Mann studiert also Geografie. Ah ja. Interessant. Der Student wird immer schmaler auf seinem Stuhl.

Eigentlich sei sie schüchtern, sagt Miriam. Als Mark kennt sie keine Scheu

Wohl fühle ich mich dabei nicht. Denn eigentlich bin ich als Lars gerade ratlos: Was soll ich bloß mit diesem Jungspund ­ohne Biss anfangen, den mir mein alter Freund ins Büro geschickt hat? Ich hab auch keinen Schimmer, was ein Geografiestudium beinhaltet. "Aber du wirkst total überzeugend", sagt Miriam beim Abendessen in einem Restaurant, "deine Unsicherheit hat man nicht gesehen."

Cooler Typ. Ehrlich gesagt: ein Widerling

Über Miriam hatte ich am Morgen gedacht: Aus der wird nie ein Mann. Eine zurückhaltende junge Frau, die rot wurde, als sie sich vorstellte. 22, Kunststudentin. Und Männerkleidung hatte sie auch nicht dabei. In der Mittagspause raste sie mit ihrem Freund, der mit nach Berlin gekommen war, in einen großen ­Secondhandladen und kam wieder mit grauem Anzug, Seidensticker-Hemd, geflochtenen Slippern. Hände in die Hosentaschen, fettiger Män­nerzopf, ungeduldiges Fußgeklopfe – fertig war der Kunstkurator einer großen Ausstellungshalle, der die jungen Künstler in einen knallharten Wettbewerb für eine Einzelausstellung zwingt. Cooler Typ. Ehrlich gesagt: ein Widerling.

Ich könnte diesem Mark eine reinschlagen. Das sage ich ihm auch. Da lupft er arrogant-amüsiert eine Augenbraue. Wie macht Miriam das nur? "Als Frau bin ich immer nett, immer auf andere bezogen, immer ‚Wie geht es dir?‘", sagt Miriam. "Als Arschloch ist mir das egal."
Diese Haltung werde sie künftig auch als Frau mal an den Tag legen, sagt Miriam. Wenn die Professorin fragt, wer eine be­sondere Aufgabe übernehmen möchte, will Miriam nicht mehr denken: Vielleicht bin ich doch nicht gut genug für diese Auf­gabe? Vielleicht will jemand anderes die Aufgabe? Nein, Miriam wird sagen: "Ich mach das."

Nachts arbeitet es weiter in den Köpfen. Am nächsten Morgen ist die erste Bilanz gemischt. War am Samstag Euphorie das vorherrschende Gefühl ("Die Leute ­weichen mir aus!"), finden manche ihre Erfahrungen als Mann nun auch bedrückend.

"Ich hatte naiv erwartet, ich würde mich frei fühlen, stattdessen fühlte ich mich eher depressiv", sagt Susanne über ihren Ausflug als Macho Sam. "Natürlich, nach außen gab ich vor: Ich hab alles im Griff, mein Easy Rider steht draußen vor der Tür, ­meine Freundin wartet auf mich. Aber ich war wie gefangen in mir selbst. Wie in einem Kokon. Nicht lächeln, nicht zwinkern, das fehlte mir. Mein ganzer Körper war so verschlossen." So ging es auch anderen Frauen: Sie fühlten sich begrenzt. Eine resümiert: "Die Regeln für Männer sind doch genauso dumm und begren­zend wie die für Frauen." Das Konzept der getrennten Geschlechter­rollen sei ärmlich.

Werden Männer etwa auch von ihrer Rolle geknechtet?

Hm, werden Männer geknechtet von ihrer Rolle? Das habe ich Stephanie Weber gefragt. Sie bietet ebenfalls Frau-zu-Mann-Workshops an. Beruflich arbeitet sie als Gender- und Medienpädagogin, zum Beispiel mit Studierenden. "Frauen dürfen Frauensachen machen und noch dazu die Männersachen, die sie sich angeeignet haben", sagt Weber, "Männer dürfen nur Män­ner­sachen machen." Dass Männer Ärger bekommen können, wenn sie "Frauensachen" machen, merkten auch Webers Studenten, als sie – das war ihre Aufgabe – in der Bahn offensiv Menschen ­anlächelten, nicht flirtend, sondern freundlich. Sie ernteten ­Kommentare wie: "Wenn du nicht sofort aufhörst, kriegst du eins in die Fresse."

Stephanie Weber würde nicht mit einem Mann tauschen wollen. Wie einsam sie war, als sie das erste Mal als Mann unter­wegs war! "Die Männer guckten nur kurz, damit sie nicht als schwul gelten. Und die Frauen guckten nur kurz, damit ihr Blick nicht etwa Interesse signalisiert." Aber sie hat sich einiges von Männern abgeschaut: zum Beispiel in Bewerbungsgesprächen betont langsam zu sprechen. Als wäre jedes Wort ein Juwel der Weisheit. Das beeindruckt.

Ein aufregendes Wochenende war das, als Lars. Aber jetzt will ich wieder als Frau unterwegs sein. Mit dieser Rolle kenne ich mich wenigstens aus. Und so entschieden zu gehen, dass mir auch Männer ausweichen, habe ich mir eh im Laufe meines Lebens angeeignet.

Sage ich und laufe zum Bahnhof und merke: Etwas hat sich doch verändert. Die Frauen, die mir entgegenkommen, scheinen mir verkleidete Männer zu sein; und die Männer wirken auf mich wie schlecht geschminkte Frauen. Als wenn alle nur einem Ideal­bild von Mann und Frau nacheiferten, das sie niemals erfüllen werden. Als wenn es den richtigen Mann und die richtige Frau gar nicht gäbe.

Und die anderen Frauen aus dem Workshop? Die halten jetzt öfter inne und fragen sich: Was würden in dieser Situation Mark, Sascha, Sam oder Florian tun?

Olga geht sogar anders mit Männern um. Olga, die es so satt hatte, sich auf der Straße dauernd Bewertungen ihres Aussehens anhören zu müssen, Olga reagiert nun. Sie dreht sich um, geht mit ernster Miene auf den Mann zu und sagt: "’tschuldigung, was hast du gerade gesagt?" – Er: "Nichts, nichts, ich hab nur gesagt, dass du eine süße Maus bist." – Sie: "Wer hat dich denn nach deiner Meinung gefragt? Kannste gern für dich behalten."

Schon dass die Männer dann verwirrt sind, ist ihr Genug­tuung. Überhaupt sei sie nicht mehr so leicht einzuschüchtern.

Sie denkt dann: "Das ist nur Schauspielerei, ich kann das auch."

Die Frauen des Workshops jetzt mal selbstbewusst und raumgreifend

"Also Männlichkeit als ständige Inszenierung zu entlarven." haben Sie im Dossier geschrieben.

Die Verwendung von "entlarven" im obigen Satz enthält eine abwertende, negative Konnotation (bloßstellen, siehe auch "Entlarvung" beim Duden).

Der Text ist somit abwertend, negativ dem Männlichen gegenüber.

Haben Sie Sich schon mal die Frage gestellt: Wenn Männlichkeit als ständige Inszenierung "entlarvt" wird, was genau "entlarvt" das - meistens weibliche - "Schminken"?

Ist "Schminken" eine "Inszenierung des Weiblichen" die mann "entlarven" sollte? Wenn dies für Sie keinen Sinn ergeben könnte, wieso sehen Sie einen Sinn in der "Entlarvung" der "ständigen Inszenierung" der Männlichkeit?

Wurden wir nicht deswegen so unterschiedlich in unseren "Inszenierungen" geschaffen um dem Prinzip "Gegensätze ziehen sich an" gerecht zu werden?

Es ist wirklich traurig, wie hier Stereotype gepflegt werden. Von jemand der behauptet genau dies nicht tun zu wollen. Die eigene Sprach verrät Sie ...

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... was sind das bloß für humorlose Reaktionen auf diesen originellen Text und witzigen Selbstversuch?

Hilfe, Klischees! Hilfe, Stereotype!
Hilfe, da wird ein Mann (in einer fiktiven Rolle!) als A***loch dargestellt!
Hilfe, der Untergang des Abendlandes droht!
Hilfe, da trete ich doch am besten gleich aus der Kirche aus!
Ja, haben diese Evangelischen denn keinen Oberzensor, der ihnen verbietet, solche unziemlichen Experimente durchzuführen oder gar noch darüber zu berichten?

Du liebe Zeit!
Ein paar Gänge runterschalten bitte.

Da haben ein paar Frauen einen Tag lang ein interessantes Experiment gemacht und in witziger Weise darüber berichtet, inklusive abschließender Reflexion. Ja Hilfe, und das Ganze in einem christlichen Magazin!

Liebe Chrismon-Redaktion, bitte weiter so. Bitte lassen Sie sich nicht entmutigen, weiterhin solche originellen Texte zu bringen. Dafür haben wir Chrismon schließlich abonniert. Wenn ich Klischees lesen will, lese ich Bild oder Rosamunde Pilcher, aber nicht Chrismon.

Und um das mal ganz deutlich zu sagen: Wer meint, wegen eines solchen Artikels aus der Kirche austreten zu müssen, der hatte wohl sowieso nur noch einen Anlass gesucht.

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Die Humorlosigkeit der Kommentare ist schon ein wenig verwunderlich und in ihrer Massivität auch ein wenig bestürzend.

Natürlich hat der Bericht Schwächen. Schwächen die dem Setting der '"Versuchsanordnung" geschuldet sind und die die Autorin m. M. nach hätte besser herausarbeiten können und vielleicht sollen.
Ein Rollenspiel das munter zwischen karnevalesker Travestie, Genderhumbuk und dem nicht schlecht beobachteten Chargieren mit "dicker Hose" mancher präpotenter Männer wechselt, ergibt kein schlüssiges Bild. Diese Ambivalenz gibt der Artikel durchaus ganz gut wieder. Der Erkenntnisgewinn geht für die Teilnehmerinnen einerseits und für die Leserinnen und Leser andererseits aber leider eher gegen Null.
Man soll ja nicht spekulieren, aber ich tue es jetzt doch mal. Ich vermute mal der "Kurs" wurde mit einer Erwartung eines vertieften Erkenntnisgewinns gebucht. Die Behauptung was er alles leisten kann und erklären soll, ist ganz schön beeindruckend und weitreichend. Das alles konnte er, hier nachlesbar, aber eben nicht erfüllen. Der starke Auftritt eines verkleideten Fliegengewichts z. B. kann niemanden darüber hinwegtäuschen, daß es im Ernstfall eben doch in einer niedrigeren Gewichtsklasse unterwegs wäre und den Kürzeren zöge. Wie ist aber die Erfahrung, das ein nicht verhuschtes Auftreten andererseits doch dümmlich übergriffiges Verhalten Anderer reduziert, zu werten? Wie mit dieser Erfahrung umgehen? Darauf hat die betroffene (stark verunsicherte?) junge Frau immer noch keine Antwort.
Mein spekulatives Fazit zum Artikel lautet also, daß die Autorin aus der nicht wenig ärgerlichen Erfahrung, über den Tisch gezogen und veräppelt worden zu sein, das Beste zu machen versucht. Ich halte das nicht für den schlechtesten Weg. Ein launiges, kleines Abenteuer war es schließlich doch.

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@Anna

Mit der Klassifizierung "humorlos" liegen Sie gar nicht so falsch. Grund dafür dürfte u.a. sein, dass laut aktuellem Zensus im hiesigen "Patriarchat" zwar 2 Millionen mehr Frauen als Männer leben, aber dennoch alle gesellschaftliche Sorge und Aufmerksamkeit - gewissermaßen stereotyp - allein auf erstere fokussiert zu bleiben hat. Equal Age Day? No way! Die um sechs Jahre geringere Lebenserwartung liegt ja schließlich nicht in den Genen, sondern ist erlernt – damit Manne seine patriarchale Dividende einfahren kann. "Logik", die sprachlos macht.
Eigens zu diesem Zweck angewendete Mittel und Geisteshaltungen der Aktiven wie sie in "I bath in male tears" gipfeln, beschrieb die komplett humorlose Literaturnobelpreisträgerin Lessing bereits 2001 als "denkfaule und heimtückische Kultur", welche sich des Feminismus bemächtigt habe und darauf hinauslaufe, "auf Männer einzudreschen".
Sie werden daher verstehen, wenn die "Arschlöcher" und "Widerlinge" ohne jedes Augenmaß und bar jeden Humors besagter Unkultur adäquat begegnen.

MfG

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Irgendwie erinnert mich das Verhalten von Chrismon hier bei diesem Artikel an das des Chefredakteurs des Zweiten Deutschen Fernsehens gegenüber der Kritik bzgl. der einseitigen Berichterstattung des Fernsehsenders über den Ukraine-Konflikt.

Anstatt auf die Kritik einzugehen, wird einfach behaupten die irren sich alle und das ist in Wahrheit ganz anders. Oder die Kritiker sind einfach nur wütend oder humorlos und solche Leute haben eh nie etwas konstruktives beizutragen, also das typische ad hominem-Argument gegen die mit anderer Meinung.

Jemand sagte mal: Women can't hear what men don't say.

Das trifft auf diesen Artikel und den Workshop auch zu. Die Meinung der Frau zählt und ist richtig, sie bestimmt was ein Mann ausmacht, eine wirkliche Diskussion mit Austausch findet nicht statt.

Und bei Chrismon hat keiner den Arsch in der Hose um sich mal einzugestehen, möglicherweise einen Fehler gemacht zu haben.

Die entsprechenden Textstellen wurden von den Kommentartoren schon rausgesucht und das der Kurs nicht eine einzige positive Darstellung von Männern beinhaltet, wurde auch so erwähnt. Ich glaube übrigens nicht das es Frauen witzig finden, als Widerlinge, deren Weiblichkeit von dem Leiter des Workshops als ständige Inszenierung entlarvt wird, bezeichnet zur werden. Bei sowas fällt heutzutage sehr schnell das Wort Frauenfeindlichkeit.

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„Keine Angst, das merken die nicht, denn sie fühlen sich unbeobachtet.“ Stellen Sie sich vor, dieser und andere Sätze dieses Textes käme aus Männermund und der sprachliche Gegenstand wären Frauen. Wäre Ihr Ton dann noch immer wohlwollend herablassend und gönnerhaft? Vielleicht würden Sie (im o.g. Beispiel) rufen: woher wissen die, was ich merke, fühle, denke oder mache? Verstehen Sie, was ich meine?

Grüß Göttin!

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Mit großem Interesse habe ich den Beitrag gelesen und darf dazu folgende Ergänzungen bzw. Anregungen machen:
1. Ein ergänzendes, typisch weibliches Verhalten ist häufig zu beobachten. Z. B. in ärztlichen Wartezimmern sitzen 3 von 4 Frauen mit übereinander geschlagenen Beinen. Männer dagegen meist mit gespreizten Beinen oder nach hinten gestellten Beinen.
2. Ein gravierender Unterschied: Frauen betrachten ihre Nägel, indem sie die Hände nach vorne strecken. Männer dagegen ballen eine Faust, wenn sie die Nägel der Hand betrachten. Dieser Unterschied ist so signifikant, dass meines Wissens durch dieses Detailverhalten einmal ein Agent entlarvt wurde.
3. Die Penisnachbildung mit Hilfe eines ausgestopften Kondoms ist doch wohl arg primitiv. In jedem Sex-Shop gibt es wirklichkeitsgetreuere Prothesen aus Kunststoff.

Horst Bothe

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daher muss ich leider aus der Kirche austreten. Will kein Verein finanziell unterstützen, der mich in Artikeln als von der Geburt als Widerling charakterisiert. Perfekt, wieder viele Euro gespart!

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