Generationenwohnen - wie geht das?

"Essentiell ist kluges Erwartungsmanagement"
wohnlage - Wohnprojekte Schweiz

ETH Zürich

wohnlage - Wohnprojekte Schweiz

Alt und jung zusammen - das ist der Traum vieler Wohnprojekte. Doch was funktioniert in der Realität - was nicht? Ein Team der ETH Zürich hat dazu geforscht

„Gelingensbedingungen“ – ein schönes Wort habe ich diese Woche gelernt. Gehört habe ich es im Gespräch mit Leonie Pock und Ulrich Otto vom Wohnforum der Eidgenössischen Technischen Hochschule, kurz ETH, Zürich.

Welche Bedingungen sind nötig, damit generationenübergreifende Wohnprojekte gut funktionieren? Und zwar, während nicht nur die Bewohner*innen, sondern auch die Wohnprojekte selbst älter werden?

Leonie und Uli kümmern sich nun schon seit fast drei Jahren um diese Frage. Zusammen mit einem interdisziplinären Forschungsteam haben sie in der ersten Projektphase 19 Generationenprojekte  in der Schweiz vertieft untersucht. Alle Projekte haben Erfahrungen gesammelt, sie sind zwischen den frühen 70er Jahren und 2017 entstanden.

Die Bandbreite reicht von kleineren Hausprojekten mit 16 Wohnungen wie die Kanzlei-Seen in Winterthur bis hin zu ganzen Wohnquartieren, wie dem Hunziker Areal in Zürich, auf dem 370 Wohnungen für unterschiedlichste Zielgruppen neu gebaut wurden, mit dem expliziten Ziel, Gemeinschaft zu generieren.

Eine weitere Gelingensbedingung, vulgo „Hauptbindemittel“ für eine dauerhafte Existenz der Wohn- und Lebensgemeinschaften, so berichtet Leonie, sei die Bereitschaft der Gründergeneration, sich dem Zeitenwechsel anzupassen, neue Ideen mit aufzunehmen, Jüngeren Platz zu machen und ihnen Verantwortung zu übergeben.

Der Name des Wohnprojekts „Solinsieme“ leitet sich ab aus dem Italienischen und meint: „Sowohl allein wie auch zusammen“. Vor über 20 Jahren wurde die Gruppe in St. Gallen von vier Frauen zwischen 50 und 60 Jahren gegründet: Sie wollten zusammen alt werden.

Mittlerweile sind die Gründerinnen älter geworden und müssen sich in Teilen neu ausrichten: „Am Anfang als wir eingezogen sind, da war es einfach, da hatte man ein gemeinsames Ziel, da haben alle am selben Strang gezogen. Und das ist heute nicht mehr so. Die Bedürfnisse und die finanziellen Möglichkeiten sind ganz unterschiedlich [...]. Es ist nicht so, dass wir deswegen jetzt verkracht sind, aber das ist ein Thema“, berichten sie im Interview mit dem Schweizer Forschungsteam. Solinsieme war ein Pionierprojekt, das insbesondere in seinen Anfangsjahren außerordentlich große überregionale Aufmerksamkeit und dafür mehrere Preise erhalten hat.

Gerade bei selbstverwalteten Projekten für die zweite Lebenshälfte kann das gemeinsame Altwerden herausfordernd sein. So lässt sich beobachten, dass sich 50plus Projekte für Menschen aus allen Generationen öffnen, während es den umgekehrten Weg fast nie gäbe, berichtet Leonie. Wie auch über längere Zeit eine tragfähige Alterszusammensetzung immer neu erreicht wird, ist zentral für Generationenwohnprojekte

Doch wer sein Projekt mit zu vielen Hoffnungen und Wünschen überfrachtet, der scheitert: „Die ältere Dame, die Ersatzomi spielen soll, wird genauso selten Realität, wie die junge Mutter, die diese ältere Dame später pflegt“, gab mir Leonie mit auf den Weg.

„Kluges Erwartungsmanagment“ nennt Ulrich Otto die hier geäußerte realistisch-pragmatische Grundhaltung. Für das Forscher*innen-Team waren die vielen Interviews in den letzten drei Jahren eine Art „Realitätscheck“: Was funktioniert warum und wie lange?

Eine Dokumentations-Broschüre zu den 19 Generationenprojekten ist fertig. Im Herbst 2023 folgt ein Film und eine noch tiefergehende Folgestudie für sechs der Projekte.

Einfache „Rezeptzettel“ für den Erfolg gemeinschaftlicher Wohnprojekte wird es nicht geben, dafür sind alle Projekte, Voraussetzungen und Zusammensetzungen der Gruppen zu unterschiedlich. Doch die Erkenntnisse dieser „erfahrungsgesättigten Wohnprojekte“, so Uli Otto, müssten mit Blick auf die riesigen Erfahrungen nach Jahren prallen gelebten Lebens, im Guten wie im Schlechteren, endlich intensiver erforscht werden. Fast täglich entstünden neue „Hochglanzprojekte“ mit schicker Architektur und ambitionierten Anfangs-Zielen – wie all das umsetzbar und wirklich lebensfähig werde: "Das wissen wir bisher kaum."

PS:
Gerade im Verhältnis zur Schweiz hat die Wohnforschung in Deutschland großen Nachholbedarf, berichtete mir die Stuttgarter Professorin Christine Hannemann. Durch eine Veranstaltung ihres Habitologie-Netzwerkes hatte ich letztes Jahr Leonie Pock kennengelernt. Auch Uli Otto war schon mal in der Wohnlage. Er lebt und arbeitet mittlerweile in Tübingen und reformiert dort mit anderen die Wohnlandschaft – als Aktivist in einem Projekt, das sich ganz stark von den Schweizer Wohnprojekten inspirieren lässt. Merke: Menschen, die sich für neue Wohnformen interessieren, treffen irgendwie immer wieder aufeinander.

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