Wohnlage Tübingen Mietenwahnsinn stoppen
Wohnraumbündnis TÜ
Bundes-Baugruppen-Hauptstadt
Tübingen galt jahrzehntelang als Vorreiterin guter Stadtentwicklung. Kurze Wege, viele bunte Baugruppen mit Ideen und Konzepten für die Allgemeinheit. Längst reicht das nicht mehr aus und Stadtakteure fordern mehr Genossenschaften und weniger Eigentum. Mittendrin: Der Baubürgermeister
Tim Wegner
29.09.2022

In seiner Heimatstadt lebt Ulrich Otto gerne - er bezeichnet sie als Hauptstadt der Baugruppen. Lange Jahre hatte sie für ihn Vorbildcharakter.

Doch da brauche es neue Akzente. Statt Vorreiterin zu sein, hinke die Stadt z.B. beim Bezahlbar-Wohnen, hinterher. Ein Grund: Zu viele Baugruppen mit Wohneigentum. Darauf, und nur darauf, habe die Stadt zu lange gesetzt. 

Ulrich Otto hat viele Jahre in der Schweiz Gemeinschaftswohnprojekte evaluiert und gesehen, wie so bezahlbarer Wohnraum im größerem Maßstab geschaffen werden kann. Diesem Vorbild folgend, hat er in Tübingen zusammen mit vielen anderen 2020 die Genossenschaft „Neustart Solidarisch leben+wohnen“ mitgegründet. Die Initiative hat Großes vor: Wohnungen für ca. 500 Menschen auf einem städtischen Areal sollen entstehen, dazu viel soziale Infrastruktur wie ein selbstorganisiertes Lebensmitteldepot, Sharingkonzepte bei Gästezimmern und Mobilitätsangeboten, eine Kantine oder eine Pflege-WG.

Genossenschaften, und damit eben auch dauerhaft preisgedämpften Wohnraum zum Mieten, so erzählt mir Ulrich Otto im Telefonat weiter, gab es bisher kaum in der Unistadt am Neckar. Das sogenannte „Tübinger Modell“ habe viele Jahre lang ausschließlich auf kleine Baugemeinschaften im Eigentum gesetzt.

Jahrzehntelanges Erfolgsmodell: Das Französische Viertel, bebaut mit vielen Baugemeinschaften auf kleinen Parzellen

Den Start machten schon vor über 20 Jahren zwei große ehemalige Kasernenflächen: Im Französischen Viertel und im Loretto Areal vergab die Stadt meist eher kleine Parzellen an Baugruppen, immer mit einem Konzeptverfahren, also nicht an Investoren. Auch jüngere Familien mit wenig Einkommen konnten sich das zu damaligen Konditionen leisten. Das Ergebnis führte zu Vierteln in Tübingen, die heute vielen Stadtplaner*innen als Vorbild dienen. Bunt, durchmischt, wenig Privatautos, kurze Wege zwischen Wohnen und Arbeiten und eine sanierte Altstadt nebenan. Vorbild für die „15-Minuten-Stadt“ – die seit wenigen Jahren international von Barcelona bis Paris zum Trend wird.  

Ulrich Otto will das Erfolgsmodell keinesfalls kleinreden, aber er will weiter gehen: „Die richtig gute Idee und Praxis haben nicht verhindert, dass auch in diesen Vierteln teuer verkauft oder vermietet wird.“ Die angestrebte soziale Durchmischung hat nur begrenzt geklappt, stattdessen blieben Akademiker und gut Verdienende unter sich, mit „ganz vielen Tischtennisplatten und ganz vielen kleinen Gemeinschaftsräumen.“

Manifeste Probleme durch Gentrifizierung und Bodenspekulation

Der gesamtgesellschaftliche Mehrwert sowohl für eine gute Nachbarschaft als auch in puncto bezahlbarer Wohnraum könnte deutlich größer sein. Mietenwahnsinn, Gentrifizierung, teilweise Spekulation sind manifeste Probleme: "Immer mehr Menschen hier können sich Wohnen in der Stadt nicht mehr leisten", so Neustart-Genosse Ulrich Otto.

Am 23. Oktober Ist Oberbürgermeisterwahl in Tübingen. Die Wohnraumfrage ist zentral und findet sich in allen Wahlprogrammen. Die drei Haupt-Kandidat*innen sind Boris Palmer, parteilos; Sofie Geisel, SPD, und Ulrike Baumgärtner, Grüne.

Nomen est omen: Die Genossenschaft "Neustart" in Tübingen will einen Neustart der städtischen Wohnungspolitik

Zusammen mit anderen gemeinwohlorientierten Stadtakteuren arbeitet die Neustart-Genossenschaft im „Wohnraumbündnis“, hat dort eine Reihe von „Wahlprüfsteinen“ entwickelt und stellt Fragen:

  • Wie müssen wir das Tübinger Modell grundlegend weiterentwickeln?
  • Sollten wir städtische Grundstücke gar nicht mehr im Eigentum vergeben?
  • Und sowieso immer nur auf Erbpachtbasis?
  • Sollen sie zu 100% an Genossenschaften, Mietshäusersyndikat & Co gehen?
  • Soll die Stadt zugunsten kostensparenden seriellen Bauens und einer noch umfassenderen Gemeinschaftsinfrastruktur auf die bisherige Kleinteiligkeit verzichten?

Fast hörbar sind die Bauchschmerzen von Tübingens Baubürgermeister Cord Soehlke, als ich mit ihm zum Thema telefoniere. Viel zu "absolut" seien solche  Forderungen, so seine Meinung. Seit 2010 ist Soehlke Chef der städtischen Bauverwaltung. Als Baubürgermeister kennt er seine Stadt, alle Projekte, die vielen positiven Entwicklungen aber eben auch Verwerfungen, ganz genau. 

Baugruppen mit Eigentum soll es weiterhin geben

Leidenschaftlich und voller Herzblut kann er darlegen, wie unfassbar groß und wichtig die Wohnraumfrage für den sozialen Zusammenhalt, natürlich nicht nur in Tübingen, sei. Und eben, weil sie so groß ist, dürfe man sie keinesfalls ausschließlich an der Form der Trägerschaft aufhängen. Soehlke will weiterhin auch Baugruppen und Eigentum fördern, denn diese, so berichtet er, würden mittlerweile viel durchmischter bauen: Mit Miet- oder Sozialwohnungen, mit vielen Ideen für die Nachbarschaft.

Der Baubürgermeister verweist auf die Entwicklung im Umland. Dort tun sich beispielsweise Senioren zusammen, um gemeinsam alt zu werden und gründen eine Kleinstgenossenschaft. Dass es damit nicht getan ist, weiß auch Cord Soehlke.

Der Ärger, die Wut und vielleicht sogar Verzweiflung sind ihm anzuhören, wenn er darüber klagt, dass jetzt die Menschen im Alter aus der Stadt gedrängt werden, die eben genau diese Stadt ihr Leben lang am Leben erhalten haben: Krankenschwestern oder Pflegepersonal, Feuerwehrleute, Verwaltungsangestellte...

Im Land der Häuslebauer zählte nur das Eigenheim

Längst ist er mit der Landesregierung in Gesprächen, ein großer Strategiedialog Wohnen wurde gestartet. Denn im Land der Schwaben und Häuslebauer habe man viel zu lang an den Wert der eigenen Parzelle geglaubt. Bis in die 2010er Jahre, so Soehlke, galt in ganz Baden-Württemberg das Credo: Das eigene Heim sei die beste Altersvorsorge. Doch gerade einkommensschwächere Menschen können sich dieses Eigentum nicht mehr leisten. Es braucht Alternativen.

Was tun? Schon lange vergibt die Stadt ihre Grundstücke nach strengeren Kriterien als früher. Es gibt das Programm „Fairer Wohnen“. Und mit einer „Dachgenossenschaft“ will die Stadt die Neugründung von Kleinstgenossenschaften unterstützen.

Und Ulrich Otto, der auch bei ihr zu den Gründungsmitgliedern gehört, sieht noch viel Luft für ein konsequenteres „neues Tübinger Modell“: „Als Wohnakteure sollten wir noch konsequenter nur noch die ran lassen, die bezahlbares Wohnen auf Dauer garantieren. Die die besten Ideen für gutes Leben mit weniger privaten Quadratmetern umsetzen, die wirklich die Stadt für Alle anzielen – enkeltauglich, sozial integriert und mit ganz viel Nutzen auch für die umgebenden Quartiere“.

Hörtipp: Radiosendung über die Neustart-Genossenschaft

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Plain text

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.

Kolumne

Dorothea Heintze

Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß aus eigener Erfahrung: Das eigene Wohnglück finden ist gar nicht so einfach. Dabei gibt es tolle, neue Modelle. Aber viele kennen die nicht. Und die Politik hinkt der Entwicklung sowieso hinterher. Über all das schreibt sie hier.