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Die Verachtung des Patriarchen
Vor 15 oder 16 Jahren bin ich dem heutigen russisch-orthodoxen Patriarchen kurz begegnet. Damals hatte ich ein vages Gefühl, das sich heute leider zur Gewissheit verfestigt hat.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
11.03.2022

Einmal wurde ich gebeten, an einer ökumenischen Begegnung teilzunehmen. Es ging nach Russland, ein mir unbekanntes Land, dessen Sprache ich nicht spreche. Da es eine gute Regel ist, sich des Urteils über Länder zu enthalten, deren Sprache man nicht beherrscht, habe ich vor allem die Augen aufgemacht und den Mund gehalten. Und es gab vieles, das ich nur staunend anschauen konnte: die Stadt Moskau, die prächtigen Gottesdienste, die Gedenkorte.

An einem Abend stieß auch der heutige Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kirill zu uns. Er gab sich als sehr guter Gastgeber, freundlich redete er mit uns – wenn ich mich recht erinnere, auch auf Deutsch. Er trank mit uns ein Glas Wodka. Er schenkte jedem von uns ein Osterei aus Holz.

Aber ich hatte das leise Gefühl, dass wir in seinen Augen nicht recht zählten. Dies verstärkte sich bei Gesprächen, in denen die russisch-orthodoxe Seite uns deutlich zu machen versuchte, dass der aufgeklärte Protestantismus mit seinem Einsatz für Menschenrechte, auch für homosexuelle Menschen, einem Irrweg folgte. Dass wir deswegen keine richtigen Christen und folglich – bei aller Höflichkeit – zu verachten seien.

Nun hat Kirill, der seine Kirche auf das Engste mit dem Putin-Regime verbunden hat, sich zum Krieg geäußert und ihn als Teil eines Kreuzzuges gegen den in seinen Augen dekadenten Westen gedeutet, als metaphysischen Krieg gegen eine teuflisch-übermächtige Homosexuellen-Lobby. Nebenbei bemerkt: Wenn er wirklich Anstoß an problematischen Formen von Homosexualität nehmen würde, hätte er längt gegen die „dedowschtschina“, die traditionelle, auch sexuelle Erniedrigung von Rekruten in der russischen Armee, protestieren müssen.

Der Mensch ist ein moralisches Wesen, weshalb auch Gangster ihr Tun ethisch begründen. Darum hat Putin erklärt, er wolle die Ukraine von Nazis befreien. Vielleicht sollten der Regierungs- und der Kirchenchef sich in Zukunft besser abstimmen. Denn was soll die Ukraine nun sein: eine Heimstatt von Nazis oder von homosexuellen Aktivisten? Doch was zählen schon solche argumentativen Details, wenn es darum geht, das Gefühl eigener Größe und Güte sowie die Verachtung der Feinde deutlich zu machen?

Und nun drehe ich Kirills Ei in meiner Hand hin und her, schaue auf die rührende Zweisamkeit von Gottesmutter und Christuskind, denke dabei aber an das von Russen bombardierte Kinderkrankenhaus, an Freunde, die krebskranke ukrainische Kinder mit ihren Familien nach Norddeutschland gebracht haben, an die Familie, der wir glücklicherweise gerade eine Wohnung vermitteln konnten, und an die Glaubensgeschwister in den kleinen Kirchen Russlands, aber auch in der russisch-orthodoxen Kirche selbst, die unter dem Putin-Regime, aber auch unter der Kirill-Kirche leiden.

P.S.: Wer eine der wunderbarsten Künstlerinnen der Moderne kennenlernen will – denn sie ist noch ziemlich unbekannt –, höre sich mein Podcast-Gespräch über Gego mit der Kunsthistorikerin und Kuratorin Stefanie Reisinger an.

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Lieber Russlandbesucher in freundlicher Absicht,
ich könnte dieses Holzei wohl nicht behalten. Es käme mir vor, als beschmutze es meine Wohnstatt. Oder als sei es das Holz, woran uns der andere nageln möchte. Aber ich würde nicht einsehen wollen, warum wir uns von anderen Christen kreuzigen lassen sollten. Was zuviel ist, ist zuviel. Ich würde es in ein Osterfeuer legen und so versuchen, Abstand zu gewinnen.
Mit nachdenklichem Gruß
Ulrike P.

Antwort auf von Ulrike Pfalzgraf (nicht registriert)

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Liebe Frau Pfalzgraf, natürlich habe ich auch darüber nachgedacht, was ich jetzt noch mit diesem Holzei machen, ob ich es wegtun soll. Ich zögere noch und werde es erst einmal behalten - als ein Memento.

Antwort auf von Johann Hinrich…

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Lieber Herr Claussen, als ich es mir vorstellte, dieses Ei der Flamme zu übergeben, kam mir wiederum der Gedanke, die russische Kirche übergebe mit diesem Motiv freiwillig oder unfreiwillig alle Schutzbedürftigen an uns, weil sie selbst außerstande sein könnte, sie zu schützen - die Kinder und Frauen, die pazifistischen Männer und die alten Menschen. Vielleicht ist es also auch ein Eingeständnis der russisch-orthodoxen Kirche: Kümmert Ihr Euch, wir können es nicht. Wir sind (noch) nicht so. Vielleicht verachtet diese Kirche dort ja selbst noch die Dargestellten auf dem Holzei - in ihrem Wahn, Stärke und althergebrachte Männlichkeit sei das Allerwichtigste.
Dann müsste man das Holzei als Flüchtling achten und darüber meditieren, was es einem raten könnte.
Manchmal tut Nachdenken in zwei oder mehr Schritten not.
Herzliche Grüße
Ulrike P.

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Nun ja, es hat jahrzehntelang niemanden gestört, daß die russisch-orthodoxen Vertreter im ÖRK die aggressivsten Scharfmacher waren, wenn es gegen Apartheid,Vietnamkrieg und NATO-Doppelbeschluß ging. Dafür waren sie - vor allem auch den bundesdeutschen Vertretern in diesem Gremium - als Mehrheitsbeschaffer hochwillkommen.Da hat niemand gefragt, was sie z.B. zum Einmarsch in die Tschechoslowakei sagten.
Jetzt scheint es einigen evangelischen Amtsträgern zu dämmern - spät kommt ihr, doch ihr kommt ....

Antwort auf von querdenker (nicht registriert)

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Dass der anständige Bürger nichts gegen den Vietnamkrieg und den Nato-Doppelbeschluss hatte und hat, ist bekannt. Dass auch die Apartheid in diese Reihe gehört, ist erfreulich offenherzig. Für die Jüngeren unter den Lesern:
https://de.wikipedia.org/wiki/Apartheid

Fritz Kurz

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