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Was von einem Skandal übrig bleibt
Ein Neonazi soll im Grab eines jüdischen Wissenschaftlers beigesetzt worden sein, berichteten Medien vor zwei Jahren. Das war stark übertrieben. Aber dieser vermeintliche Skandal steht stellvertretend für manches, was falsch läuft beim Journalismus im digitalen Zeitalter
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
07.07.2023

Vor kurzem erklärte mir ein Kenner der Medienbranche, was die Digitalisierung aus Zeitungen – vor allem den kleineren und ärmeren – macht. Die Artikel werden hier zuerst für den Online-Auftritt geschrieben. Sofort wird ausgewertet, welche von ihnen am häufigsten geklickt werden. Aus ihnen werden dann Texte für die Papier-Version, zudem erhalten sie immer eine Fortsetzung – gleichgültig, ob es neue Erkenntnisse gibt oder nicht. Das meint „Online First“: Nicht mehr die ausgedünnten Redaktionen bestimmen, was geschrieben und veröffentlicht wird, sondern der Automatismus der Clickability.

Und was wird geklickt? Natürlich vor allem das, was sofort erregt, spontan empört, sich in eine simple gut-böse-Alternative packen lässt. Eine Prise Sex and Crime kann dabei nicht schaden. Damit lassen sich Skandale produzieren, die die Medien-Welt (in der viel voneinander abgeschrieben wird) eine Weile im Galopp hält – bis das Interesse erlahmt, die Geschichte ausgelutscht ist und durch eine nächste Story ersetzt wird.

Das erinnerte mich an einen Skandal, der vor fast zwei Jahren nicht nur die Berliner Kirchenwelt erschüttert hat und den ich zufälligerweise aus der Nähe beobachtet hatte. Aber erinnert sich sonst noch jemand an die Geschichte von der Nazi-Beerdigung auf dem evangelischen Friedhof Stahnsdorf? Sie geht so:

Auf dem zweitgrößten Friedhof Deutschlands, südlich von Berlin in Stahnsdorf, wurde ein Neonazi und Holocaust-Leugner beerdigt. Eine kleine Gruppe übler Typen nahm daran teil. Am nächsten Tag berichtete eine Zeitung, der Neonazi sei im Grab eines bedeutenden jüdischen Wissenschaftlers begraben worden. Viele Medien in Deutschland und im Ausland griffen die Geschichte auf. Sogar die BBC titelte: „German shock at neo-Nazi burial in empty Jewish grave“. Wichtige Menschen gaben zornige Statements ab. Strafanzeigen wurden erstattet, Maßnahmen angekündigt. Die evangelische Kirche als Trägerin des Friedhofs kam massiv unter Druck und veröffentlichte Entschuldigungen.

Dabei hätte man wissen können, dass in Deutschland niemand in das Grab eines anderen gelegt wird. Höchstens in ein Stück Friedhof, das früher einmal das Grab eines anderen gewesen ist. So es auch hier: Vor mehr als vierzig Jahren war das Grab von Max Friedlaender abgelaufen. Aus Gründen des Denkmalschutzes und der Pietät hatte der Friedhof seinen Grabstein, wie auch einige andere, stehen lassen. Das ergab natürlich ein sehr anstößiges Bild, wie da eine Gruppe Neonazis um eine offene Grube und neben einem Stein mit einem jüdischen Namen steht. Der Vorwurf einer Zeitung allerdings, die Angehörigen hätten diese Grabstätte gezielt erworben, um zu provozieren, ließ sich nicht bestätigen. Sicherlich hätte die Friedhofsverwaltung anders und besser entscheiden können. Aber waren die heftigen Vorwürfe gegen sie fair gewesen? Ich hatte kurz vorher den Friedhofsverwalter in einer anderen Angelegenheit als einen sehr kundigen und verantwortungsbewussten Kollegen kennengelernt.

Hätte man sich mehr Zeit genommen, hätte man genauer überlegen können, wie man diesen Toten charakterisieren sollte. Der 1934 mit 84 Jahren verstorbene Musikwissenschaftler stammte zwar aus einer jüdischen Familie, war aber evangelisch getauft und beerdigt worden. Wie er sich selbst verstanden hat, weiß ich nicht. Ihn aber umstandslos als Juden zu bezeichnen, wie viele Medien es getan haben, erschien mir ziemlich bedenklich.

Irgendwo muss jede Feindschaft enden

Man hätte auch in Ruhe darüber nachdenken können, wie man mit toten Neonazis umgehen sollte. Ich würde sagen: Solange keine Wallfahrtsstätten daraus werden, an denen problematische Dinge geschehen, sollen auch Neonazis ordentliche Gräber auf evangelischen, katholischen oder staatlichen Friedhöfen erhalten. Wir sind doch nicht wie diese Leute. Als Jugendlicher haben mich die Worte beeindruckt, mit denen 1977 der damalige Stuttgarter Bürgermeister Manfred Rommel (CDU) die Beerdigung von toten RAF-Terroristen auf einem städtischen Friedhof gegen massive Proteste aus den eigenen Reihen verteidigt hatte: „Irgendwo muss jede Feindschaft enden; und für mich endet sie in diesem Fall beim Tod“. Dies sollte auch hier gelten – natürlich vorausgesetzt, dass dieses Grab nicht politisch missbraucht wird. Und ja, es hätte nicht genau an diesem Ort liegen müssen.

Doch was hat die ganze Erregung von damals eigentlich gebracht? Welche Lehren wurden aus ihr für den Kampf gegen Antisemitismus heute gezogen? Hat sie zu mehr antirassistischer Aufmerksamkeit geführt? Kaum jemand noch kennt diese Geschichte. Längst ist sie von anderen, echten oder vermeintlichen Skandalen überspült worden und diese wiederum von wiederum anderen. Rechtsextreme Mobilisierungen finden meines Wissens in Stahnsdorf nicht statt. Für Max Friedlaender wurde immerhin eine Gedenktafel angebracht. Aber sonst? Die Erregungsintensität damals und die Folgenlosigkeit heute stehen in einem befremdlichen Missverhältnis.

Daran musste ich nach den Ausführungen des Medienkenners zum Clickability-Kult in deutschen Verlagshäusern denken und habe mir vorgenommen, in Zukunft besser darauf zu achten, welcher Geschichte ich mit meinen Klicks Auftrieb verschaffe und mit welchen Missständen ich mich ernsthaft beschäftigen möchte.

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