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Gemeinsames und Verschiedenes
Zwei Gespräche in dieser Woche über jüdische Religion und israelische Politik haben mir Anregungen verschafft und einfach Freude bereitet. So kann es auch gehen.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
23.06.2023

Am Montag habe ich mit dem Rabbiner Netanel Olhoeft ein Gespräch im „Kurt Kurt“ geführt. Das ist ein Kunstlabor im ehemaligen Geburtshaus von Kurt Tucholsky in Berlin Moabit. Zurzeit ist dort eine Reihe von Ausstellungen zum Thema „Reisen in der Stadt“ zu sehen. Mit Netanel Olhoeft und einer schönen Gruppe Interessierter sprach ich darüber, in Christentum und Judentum was das Reisen und das Zuhausesein in der Stadt bedeutet. Vieles habe ich dabei gelernt oder vertieft, zwei Dinge gehen mir besonders nach. Zum einen erklärte Olhoeft, welche zentrale Stellung „das Lernen“, und zwar das gemeinsame Lernen, in seiner Religion spiele, dass es eigentlich der Inbegriff religiöser Praxis sei. Da habe ich zunächst gestutzt, denn das „Lernen“ hat im heutigen Protestantismus einen eher schlechten Ruf, obwohl wir doch, bei Lichte betrachtet, eine ziemlich pädagogische Konfession sind. Aber vielleicht ist das gar kein Widerspruch.

Noch mehr stutzen ließ mich Olhoefts Beschreibung seines Judentums als einer „gesetzlichen Religion“, in der Gebote im Zentrum stünden, die es zu befolgen gelte. In meinem Studium hatte ich, nun ja, gelernt, dass man dies nicht sagen solle. Denn wer die jüdische Religion als „gesetzlich“ bezeichne, würdige es herab und befördere christliche Judenfeindlichkeit. Das ist insofern gut begründet, als in der evangelischen Theologiegeschichte „Gesetz“ als Gegensatz zu „Gnade“ gilt, als Instrument eines zornigen Gottes. Doch was ist, wenn man das Gesetz anders versteht, nämlich als eine segensreiche Weisung, die nicht starr durchgesetzt wird und an der man nur scheitern kann, sondern die in einem unendlichen Gespräch, einem lebenslangen gemeinsamen Lernen, ausgelegt und angewandt wird? Dann wäre „gesetzlich“ keine Beleidigung, sondern die sachgemäße Beschreibung einer Religion, mit der das Christentum in vielem verbunden, in anderem aber unterschieden ist.

Das ließ mich an ein Gespräch denken, das ich vor vielen Jahren mit einem älteren Kollegen geführt hatte. Man dürfe als Theologe nur über das sprechen, was Christentum und Judentum verbinde, so hatte er mich beschworen, weil jede Erwähnung von Unterschieden in den Antisemitismus führe. Das fand ich nicht überzeugend – weil es die Gefahr einer gutgemeinten Vereinnahmung in sich birgt und sinnvolle Differenzen unterschlägt –, auch wenn ich sein Motiv mit Blick auf seine und die deutsche Geschichte nachvollziehen konnte. Umso mehr freute ich mich über unser kleines Gespräch im „Kurt Kurt“, in dem Gemeinsames und Verschiedenes angstfrei, neugierig und respektvoll ausgetauscht wurde. Nur so kann man, ja schon wieder, lernen, einander besser zu verstehen.

Und dann war ich am Dienstag in den Hamburger Kammerspielen, wo Meron Mendel sein neues Buch „Über Israel reden“ vorstellte. Diesmal durfte ich einfach nur zuhören. Sehr eindrucksvoll und sympathisch stellte Mendel seinen biographischen und politischen Weg von einem Kibbuz, der israelischen Friedensbewegung, dem Wehrdienst in Hebron, über das Studium in Deutschland und seine heutige Arbeit als Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt vor. Besonders geht mir nach, was er am Ende über aktuelle Israel-Palästina-Debatten in Deutschland sagte. Allzu oft würde über ein symbolisches, imaginäres Israel geredet, und dabei gehe es primär um den emotionalen Nutzen, den dies für die jeweiligen Debattenteilnehmer habe. Mit den Wirklichkeiten in den verschiedenen Israels und Palästinas – man muss hier eigentlich immer im Plural sprechen – habe dies weniger zu tun. Das fand ich hilfreich und erinnerte mich an den wahren Satz, den mir ein Kollege erst kürzlich gesagt hatte: „Wenn wir Deutschen über Israel und Palästina reden, reden wir vor allem über uns selbst.“ Dessen sollte man sich bewusster sein, dann würde manche Debatte besser verlaufen, und einige könnte man sich ganz sparen. Dann würde nicht-jüdische Deutsche vielleicht – oder hoffentlich – ihre jüdischen Mitbürgerinnern und Mitbürger nicht mehr so häufig ungefragt und ungebremst mit ihren Meinungen über Israel behelligen.

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Endlich das Zitat: "…welche zentrale Stellung „das Lernen“, und zwar das gemeinsame Lernen, in seiner Religion spiele, dass es eigentlich der Inbegriff religiöser Praxis sei". Es hat gedauert, bis dieser fundamentale Unterschied zu den früheren christlichen Gemeinschaften gewürdigt wird. In beiden Kirchen würde das Wissen darüber und die Folgen wesentliche Denkmuster verändern. Warum war denn das jüdische Volk über alle Jahrhunderte so überlegen, dass es alle Anfeindungen nicht nur überleben, sondern aus ihnen auch immer wieder neue Kraft schöpfen konnte? Das Volk war weltweit zerstreut. Eine flächendeckende und versorgende Gemeindestruktur, die die Gläubigen mit Wissen, Können, Schutz, Recht (schreiben, lesen) und Aufsicht, wie bei den Christen, hätte dienen können, gab es nicht. Andererseits ist ihr Glaube fundamental darauf angewiesen, dass die Thora und alle Überlieferungen bewahrt werden. Um das zu können, musste mindestens ein Mitglied der Familie (am besten alle) lesen und schreiben können. Auch die vielen Nobelpreise sind ein Beweis. Ein Gegenbeispiel sind die orthodoxen kleinen jüdischen Siedlungen im Osten. Es waren häufig Gemeinschaften mit Rabbinern. Für sie galt der Bildungszwang nicht. Es waren und sind die armen Ostjuden. Ähnliche Kausalitäten gibt es mit den Indern in Südafrika und den Boatpeople in den USA. Auch dort war die Diaspora Gefahr oder Überleben. Um den Untergang zu vermeiden, war es deshalb Pflicht des Oberhauptes dafür zu sorgen, dass Lesen und Schreiben zur Bewahrung des Glaubens und der Identität gelernt wurden. Damit hatten sie eine Sonderstellung, denn selbst im christlichen alten Klerus (lateinisches Ableiern ohne Verständnis!) der Kirchen war das häufig nur Spezialisten (Mönche) vorbehalten. Auch Kaiser und Könige konnten das vielfach nicht. Sie brauchten Berater. Das waren dann sehr häufig Juden. Im Machtgefüge zwischen Staat und Kirche waren sie die Graue Eminenz. So stand auch in den 70gern bei Besuchen in Moskau hinter jedem stellvertretenden Verhandler ein Namenloser, der häufig ein Jude war. Das Muster aus früheren Jahrhunderten wiederholte sich. Zur Kenntnis von Lesen und Schreiben kam dann durch die erzwungenen Vertreibungen und Berufseinschränkungen (alles was die anderen nicht wollten oder wenn es zu mühsam war), das Wissen über fremde Kulturen und das Können anderer Sprachen. Wer lesen und schreiben kann, kann auch Rat geben, kann auch formulieren, kann auch das was andere gern können möchten. Und daraus erwuchs Reichtum und …Neid! Die Anfeindungen hatten für die „Feinde“ auch das Ergebnis, dass die Juden sich über alle Grenzen hinweg vernetzen konnten und mussten. Die Diaspora machte sie zu verschworenen Gemeinschaften. Damit aber auch verdächtig denen gegenüber, die nicht das gleiche konnten. Sie waren zudem nicht wählerisch in ihren Aufgaben und dienten Päpsten und Kaisern, dem Adel und dem Geld. So wurden sie zwangsweise zu „Fuggern“, Händlern und Edelsteinkennern. Das war gut, denn dieser Reichtum war flexibel und leicht handhabbar. Waren sich aber Papst und Kaiser mal einig, musste ein Schuldiger gesucht werden. Da gab der Tod von Jesus zusätzlich das brutalste religiöse Argument für Verfolgung und Tod. Der Quell des Antisemitismus. Da ursprünglich der Glaube dem Volke Israels (nur in mütterlicher Linie) vorbehalten war, gab es auch keine religiöse Konkurrenz, die man hätte bekämpfen müssen. Geflissentlich (es hätte ja stören können!) wurde auch übersehen, dass nicht die Juden (und auch nur eine kleine Mob-Gruppe!) Jesus allein verantwortlich getötet haben. Sie waren lt. AT nur ein Werkzeug im höheren Auftrag. Das zu verstehen ist unbegreiflich, zumal es ja vor 30/33 gar keine christliche Religion geben konnte. Suchte man, trotz aller Verfehmung wieder Berater, wurden sie für viel Geld und Sicherheit geholt. Bis zum nächsten Pogrom. Das Lernen ist nicht nur der Inbegriff religiöser Praxis, es ist auch eine Überlebensgarantie mit dem Risiko von Neid.

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Ursachen und Wirkungen haben einen langen Atem. Seit Beginn des Papsttums fehlt den Christen die Hälfte der potentiellen Bildung. Denn durch das Zölibat war keine Fortsetzung (und wenn, dann nur verschämt) der eigenen Persönlichkeit und Intelligenz möglich. Der Klerus musste sich deshalb zur Nachfolge am einfachen Volk und Adel bedienen. Dadurch war auch diese Quelle reduziert. Vor dem Kriege sollen deshalb auch 90 % der Professoren Protestanten gewesen sein. Auf jeden Fall, protestantische Pfarrerfamilien und Rabbinergesellschaften waren tragende Säulen der weltweiten Bildungsgesellschaft. Und sind es bis heute! Das Zölibat und die sexuelle Introvertiertheit führte insofern zu einer "geistigen Behinderung", als eine Vervielfältigung der eigenen besten Fähigkeiten nicht öffentlich möglich war. Dieser Aderlass war in der Vergangenheit gegenüber dem Judentum immer wieder spürbar. Die Schleif-Spuren führen, besonders bei der SPD und den Grünen, immer noch bis in die protestantisch geprägte preussisch norddeutsche Politik. Erkennbar nur an zu vermutenden Tendenzen. Weber hat dazu Denkanstöße geliefert. Es ist mit langer Wirkung sträflich, wenn mit dem Zölibat ein Teil der Menschlichkeit unterdrückt wird. Dem Prunk fällt diese Einsicht schwer.

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Dann kann man sich ja einigen auf: "Umzu überleben, die gesetzliche Familien-Verpflichtung zum Lernen dessen, was man in fremder und feindlicher Umgebung zum Überleben und für die Bewahrung des Glaubens braucht". Dagegen spricht die Aussage von H. Claussen, wonach das Lernen im heutigen Protestantismus doch einen schlechten Ruf hat. Die Meinung ist sehr Interpretationswürdig. Wird da abgezielt auf die Naturwissenschaften und Ingenieure? Wem dem tatsächlich so sein sollte, ja dann....! Kommt da wieder ein anthroposophischer und esotherische Touch in das Gefühl des richtigen Glaubens?

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Diese Auslegung des Begriffes Gesetz ruft nach Widerspruch. Auch das NT ist voller Gefahren und Belohnungen, die mit Gesetzen reguliert werden sollen. Gesetze sind formulierte notwendige Erfahrungen. Sie sind ein Gerüst, um die menschlichen Schwächen einzuhegen. Normalerweise! Leider haben die Christen der verg. Jahrhunderte mit Dogmen, Ablässe und indirekt mit Verträgen, damit Schindluder getrieben. Ein Gesetz als ein Verbot des Verstandes (dieses Verständnis ist nach dem Text denkbar) zu verstehen, ist absurd.

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Zitat v. H. Claussen: "Zwei Dinge gehen mir besonders nach. Zum einen erklärte Olhoeft, welche zentrale Stellung „das Lernen“, und zwar das gemeinsame Lernen, in seiner Religion spiele, dass es eigentlich der Inbegriff religiöser Praxis sei". "Da habe ich zunächst gestutzt, denn das „Lernen“ hat im heutigen Protestantismus einen eher schlechten Ruf, obwohl wir doch, bei Lichte betrachtet, eine ziemlich pädagogische Konfession sind. Aber vielleicht ist das gar kein Widerspruch."

Wie weit ist denn diese Ansicht verbreitet? Um welche pädagogischen Lernziele geht es denn? Bevormundung wird ja wohl nicht gemeint sein. Lernen von der Kanzel ist mangels Dialog eine Ex-Cathreda-Vorgabe. Lernen bedeutet ein nicht mißverständliches Verstehen von absoluten Zusammenhängen. Soweit kann doch keine ernsthafte Bibelauslegung gehen.

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Alles auf den Punkt gebracht:
Das Primat der religiösen und der Allgemeinbildung lag und liegt im traditionellen Judentum bei der Familie, mit Kontrolle bei den Rabbiner. Bei den Christen lag das Primat der religiösen Bildung bei der Kurie, sp. In Rom. Dieses Primat wurde zum Mittel des Drucks, auch im Auftrag des Staates. Die Bildung zur Formung des Lebens geriet aus dem Blickwinkel. Wer nichts weis muss alles glauben. In die Lücke sprangen die, die "neutral" lesen und schreiben konnten. Das waren Jahrhunderte die Juden in Konkurrenz zu den Mönchen. Das war ihr Vorrang, den sie sich auch bezahlen liessen. Dass die Protestanten bis heute mit dem Lernen (nur religiös?) Schwierigkeiten haben sollen, ist mir unverständlich. Die früheren Lernsünden und Versäumnisse sind längst getilgt. Aber die Nachwehen sind immer noch im Antisemitismus spürbar. Das kommt davon, wenn man das Lernen anderen überlässt. Das Ergebnis kann dann auch Fremdmanipulatilon durch geistige/liche Inquisition sein. Das ist neben den Religionsinhalten der grösste und folgenreichste Unterschied und Ursprung allen Grauens.

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