Illustration: Emmie Arbel mit Zigarette am Esstisch
Illustration: Emmie Arbel mit Zigarette am Esstisch
Barbara Yelin
Graphic Novel
In Ravensbrück ging die Hölle los
Jahrzehntelang wollte sich Emmie Arbel nicht an ihre Kindheit im KZ erinnern. Heute schafft sie es, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Barbara Yelin schuf aus ihren Begegnungen mit der Holocaustüberlebenden eine einzigartige Graphic Novel
Gero GüntherEnno Kapitza
18.03.2024
8Min

In Ihrer Graphic Novel erfahren wir, dass bei Emmie Arbel stets eine Zuckerdose auf dem Tisch steht, obwohl sie ihren Kaffee ohne Zucker trinkt.

Barbara Yelin: Es gibt sehr wenige Dinge in Emmies Besitz, die direkt an ihre Familie erinnern. Sowohl ihre Eltern als auch die Großeltern wurden ja von den Nazis ermordet und der Hausstand in Den Haag, wo sie als kleines Kind lebte, war geplündert worden. Eine Tante hatte nur wenige Gegenstände retten können und einer davon war der Zuckerlöffel. Den hatte ihre Mutter berührt und der ist ihr unschätzbar wichtig.

Sie haben sich für Ihr Buch mehrere ­Jahre lang immer wieder mit Emmie Arbel ­getroffen. In Deutschland, in Israel, den Niederlanden und via Zoom. Diese Treffen bilden den Grundstock Ihrer Graphic Novel.

Emmie ist eine sehr präsente Erzählerin. Wenig von dem, was sie sagt,

Martin Friedrich

Barbara Yelin

Barbara Yelin, geboren 1977, ist eine der bedeutendsten Comic-Künstlerinnen Deutschlands. Ihre Karriere begann mit Veröffentlichungen in Frankreich. Yelins Comic-Roman "Irmina" über ein Frauenschicksal im Dritten Reich wurde in mehr als 10 Sprachen übersetzt. Für das Zeitzeugnis "Jan Bazuin – Tagebuch eines Zwangsarbeiters" steuerte sie 2021 die Illustrationen bei. "Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung" erscheint im Reprodukt Verlag.

entspringt irgend­einer Routine. Es war mir wichtig, ­Emmies eindrucksvolle Art zu reden und sich zu erinnern sooft wie möglich direkt umzusetzen. Das waren sehr vertrauensvolle Momente, für die ich sehr dankbar bin.

Hatten Sie von vorneherein geplant, in ­Ihren Zeichnungen als Zuhörerin selbst aufzu­tauchen?

Nein. Aber ich hatte für dieses Projekt ­eine wissenschaftliche Begleitung und die ­Expert*innen fanden, dass es gut wäre, darzustellen, durch wessen Ohren die Geschichte läuft. Es wurde mir dann auch immer wichtiger, zu zeigen, wie diese Gespräche stattgefunden haben. Die Perspektive wechselt ständig zwischen Emmie als Erzählerin und ihren Erinnerungen. Das bot mir auch die Möglichkeit, etwas Distanz zum Erzählten herzustellen.

Die Erlebnisse in den Lagern machen nur einen Bruchteil des Comics aus.

Ja, Emmie hat ihre Erinnerungen einmal selbst aufgeschrieben, und das sind nur fünf DIN-A4-Seiten. Die wenigen Zeitzeugen, die heute noch am Leben sind, haben den ­Holocaust wie Emmie auch meist als Kinder erlebt. Schon deshalb kann sie ­natürlich nur auf eine beschränkte Anzahl von ­Er­innerungen zurückgreifen. Solche "child survivors" wurden lange nicht als zuver­lässige Zeitzeugen eingestuft. Heute beschäftigt sich ein eigener Forschungszweig mit ihnen. Kindheitserinnerungen sind natürlich etwas sehr Besonderes und die Traumatisierungen, die Kinder erfahren, ebenfalls. Wenn deine frühen Erfahrungen im Konzentrationslager stattgefunden haben, ist das natürlich etwas anderes, als wenn du zuvor schon ein eigenes Leben hattest. Dass Emmie sich noch an ihr liebevolles Elternhaus erinnern konnte, hat ihr vielleicht überhaupt erst ermöglicht, die furchtbaren Erinnerungen an den Holocaust später zuzulassen.

Emmie Arbels Erinnerungen tauchen im Buch nicht chronologisch auf. Würden Sie die Bruchstücke bitte einmal für uns zu­sammensetzen.

Emmie Arbel wuchs in Den Haag auf. Mit zwei Brüdern, ihren Eltern und Großeltern. Die Familie wurde in das Durchgangs­lager Westerbork deportiert, als Emmie nicht einmal fünf Jahre alt war. Ihre Großeltern ­wurden wenig später in Auschwitz ermordet, der Vater in Buchenwald. Zusammen mit ­ihrer Mutter und ihren Brüdern kam Emmie 1944 nach Ravensbrück. Dort ging, wie sie es ausdrückte, "die Hölle los". Vieles, was dort passierte, konnte sie natürlich überhaupt nicht verstehen.

Schon rein sprachlich nicht.

Barbara Yelin: Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung. Reprodukt, 192 Seiten, 29 Euro

Ja. In den Lagern wurden ja viele ihr unbekannte Sprachen gesprochen. Die Mutter musste im nahe gelegenen Fürstenberg Zwangsarbeit leisten. Und die Kinder waren sich selbst überlassen. Im März 1945 kamen Emmie, ihre Mutter und der ­jüngere der beiden Brüder nach Bergen-­Belsen. Dass Kinder das Konzentrationslager ­überleben, war noch unwahrscheinlicher als bei ­Erwachsenen. Sie waren ja in der tödlichen Logik der Nazis wertlos, weil sie nicht arbeiten konnten. Zu Emmies ­zentralen ­Erinnerungen aus ­Ravensbrück gehört, dass ihre Haare geschoren wurden und dass sie einmal so sehr geschlagen wurde, dass sie auf einem Ohr fast taub blieb.

Sehen Sie hier: Holocaust-Überlebende über ihre Zeit in Theresienstadt

Und dann gibt es natürlich diese sehr ­deutliche Erinnerung an den Tod der Mutter in Bergen-Belsen.

Sie starb kurz nach der Befreiung des KZs, an Hunger und Krankheit. Schuldgefühle sind bei Holocaustüberlebenden oft ein Folgetrauma. Warum habe ich überlebt, während so viele andere tot sind?

Das Konzentrationslager überlebt zu ­haben, ist Glück. Aber gleichzeitig auch eine irr­sinnige Belastung.

Genau. Emmie berichtet ja im Buch auch von ihrer Nahtoderfahrung in der Krankenstation von Ravensbrück. Das Gefühl, zu sterben, beschreibt sie wie eine Erlösung. Kein Schmerz mehr, kein Hunger und Lärm. Das Leben hingegen, sagt Emmie Arbel, ist eine Aufgabe, die man so gut meistern muss, wie es eben irgend geht.

Emmie Arbel erlebt auch nach der Befreiung aus dem KZ noch schwere Traumata. Von ­ihrem jüdischen Pflegevater, selbst ein Auschwitz-Überlebender, wird sie ein Jahr lang immer wieder vergewaltigt. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 8 Jahre alt und kann aufgrund einer Tuberkuloseerkrankung das Bett kaum verlassen. Sie haben mit Emmie Arbel darüber gesprochen, ob diese Szene im Buch vorkommen soll, und Ihr Gespräch ist selber wieder Teil des Buchs geworden.

Das ging nicht anders. Diese Szene war ­eine Riesenherausforderung. Ich wollte nicht, dass sie alles andere überlagert. Und ­während man schon andere Holocaustgeschichten gehört hat, überfällt uns diese Sache aus dem Nichts. Emmie hat Gewalt erfahren in vielfacher Hinsicht: als Kind, als Jüdin, als Frau, als Schutzlose. Ich habe versucht, all diese ­Erfahrungen aus ihrer Perspektive zu ­schildern, und Emmie hatte bei allen Details, die dieses Buch betreffen, das letzte Wort. Das war so abgemacht und ist für dieses Projekt absolut wichtig.

Sie haben mit den erzählerischen Mitteln der Graphic Novel experimentiert. Oft verschwimmen die Bilder fast ins Abstrakte. Das Unsagbare wird durch dunkle Flächen angedeutet.

Ich habe viel ausprobiert und vieles auch verworfen. Ich habe das Nichterinnern durch Leerstellen dargestellt. Ich habe die Erzählung rhythmisiert. Und ich habe meine Zeichnungen immer weiter reduziert. Ich wollte das Grauen nicht einfach reproduzieren.

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Es gibt die Episode im Buch, in der Emmie in der Gedenkstätte Ravensbrück auf einem Foto eine KZ-Wärterin erkennt, und die damit verbundene Erinnerung ist so furchtbar, dass sie sie unterdrückt.

Ja, sie hat in diesem Moment ganz bewusst abgebrochen, weil sie diese Erinnerung nicht mehr aushalten wollte. Dass Emmie überhaupt mit mir und anderen über ihre Vergangenheit reden konnte, war ja nur möglich, weil sie viele Jahre lang eine Therapie gemacht hatte. Erst danach konnte sie mit ­ihren ­Töchtern und später auch ihren ­Brüdern über das sprechen, was ihr passiert war. Und dass sie seit zwanzig Jahren als Zeitzeugin mit kleinen Gruppen arbeitet, ist eine Entwicklung über Jahrzehnte, in denen sie sich die Sprache für ihre Erlebnisse errungen hat.

Beinahe unerträglich ist auch die Stelle, wo Emmie erzählt, dass sie ihre Tochter ­Tammi an den Krebs verloren hat, und sagt, sie ­wäre bereit, noch mal in den Holocaust zu gehen, wenn das ihre Tochter zurück­bringen könnte.

Viele Leute haben mir gesagt, dass sie das Buch an dieser Stelle erst mal weglegen mussten. Aber natürlich ist es wichtig, auch die persönlichen Verluste nicht zu verschweigen, die sich lang nach dem Holocaust ereigneten.

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Emmie hat ihre Therapeutin kennengelernt, weil diese für sie so wichtige Frau zuerst die Therapeutin ihrer Tochter war, die an Depressionen und Ängsten litt.

In der Traumaforschung geht man davon aus, dass die Kinder von Überlebenden sekundäre Betroffene sind, die meist auch ­Hilfe ­brauchen. Dass Emmie heute mit ihren ­Töchtern über ihre Erfahrungen sprechen kann, beruht auf schmerzvoller Arbeit und sehr viel Kraft. Aber viele Erinnerungen ­greifen bis heute in ihren Alltag ein. Bis ­heute sucht Emmie, wenn sie einen Raum betritt, immer erst nach Fluchtwegen.

Sehr beeindruckend auch, wie Emmie Orte für sich begehbar macht, indem sie kleine Regelverstöße begeht: sich beispielsweise durch eine Absperrung an einer Gedenk­stätte mogelt. Es nimmt diesen fürchterlichen Orten ihren Schrecken, wenn sie sich etwas erlaubt, das früher den sicheren Tod bedeutet hätte.

Ja, sie bringt die Dinge auf diese Weise unter ihre Kontrolle. Auch ihre Geschichte selbst zu erzählen, ist ja so eine Entscheidung der Selbst­ermächtigung.

"Wirklich sicher fühlt Emmie sich nirgends"

BARBARA YELIN

Sie haben Wert darauf gelegt, die rebellische, resolute und auch oft humorvolle Seite Emmie Arbels spürbar zu machen. Wenn Emmie beispielsweise erzählt, dass sie auf Deutschlandreisen immer irgendwelche Kleinigkeiten klauen muss. Diese kleinen Akte des Ungehorsams beweisen ihr, dass sie selbst bestimmen kann.

Sie hat mir ja auch erzählt, dass sie in dem Aufnahmecenter in Schweden, wo sie nach der Befreiung aus dem KZ untergebracht war, die Vorhänge angezündet hat. Darüber habe ich lange nachgedacht. Es war ja eigentlich ein guter Ort. Ein Ort für jüdische Kinder, die gerettet worden waren. Aber sie hatte zum ersten Mal die Möglichkeit, sich zu wehren.

Noch ein ganz anderer Punkt. Sie waren am 7. Oktober 2023, am Tag des Hamas-Überfalls, mit Emmie Arbel zusammen bei ihr zu Hause in Israel.

Ich hatte das Buch gerade unter großem Zeitdruck und nach vielen Nachtschichten abgegeben und wir wollten einfach mal ein paar Tage ganz ohne Interviews und Arbeit zusammen verbringen. Der Plan war, am 8. Oktober gemeinsam nach Berlin zu fliegen, weil sie für einen Workshop in Ravensbrück gebucht war. Der 7. Oktober war ein Sabbat, und die ganze Familie war zusammen, als die Nachrichten allmählich eintrafen. Am Abend vor unserem Flug verharrte Emmie dann nur noch rauchend vor dem Fernseher.

Und blieb dann länger als geplant in Deutschland.

Aus Sicherheitsgründen verlängerte sie ihren Aufenthalt in der Gedenkstätte Ravensbrück um fünf Wochen. Was natürlich erst mal verrückt klingt. Dass sie sich in Ravensbrück gut aufgehoben fühlte, liegt an den hervorragenden Mitarbeiter*innen der Gedenkstätte, die sie seit vielen Jahren gut kennt. Emmies Töchter hatten sie gebeten, erst mal nicht nach Israel zurückzukehren. Sie machten sich Sorgen, ihre Mutter könne die bedrohliche Situation im Land nicht aushalten. Viele Holocaust­überlebende, auch der zweiten Generation, haben in diesen Tagen eine Retraumatisierung erfahren. Wie natürlich alle Kriege und Terrorakte in Israel eine riesige zusätzliche Belastung für diese Menschen darstellen. Stellt sich natürlich die Frage: Kann so ein Ort überhaupt je ein richtiges Zuhause sein?

Haben Sie darüber mit Emmie gesprochen?

Ja. Und sie antwortete, dass Deutschland nie eine Heimat für sie werden könnte und ihr ehemaliges Zuhause in Holland von den ­Nazis komplett ausgelöscht worden war. Zu Hause, sagte sie, ist da, wo ihre Familie ist. Aber wirklich sicher fühlt sie sich nirgends.

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