Missbrauch in der Kirche
Zu viel Harmonie, zu wenig Kontrolle
Die "ForuM"-Studie über Missbrauch in der evangelischen Kirche zeigt: Das überhöhte Selbstbild der evangelischen Kirche macht es Tätern leicht. Deshalb muss endlich ein Kulturschock durch die Institution gehen
Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD, bei einer Pressekonferenz zum Missbrauch in der evangelischen Kirche
Bischöfin Kirsten Fehrs, amtierende Vorsitzende des Rates der EKD, bei der Pressekonferenz am 25.1.2024 mit der "ForuM"-Studie im Arm
Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance
Tim Wegner
26.01.2024
4Min

Wir sind die bessere Kirche, bei uns sind die Hierarchien nicht so verkrustet wie in der katholischen Kirche, wir haben keinen Zölibat: Dieses Selbstbild tragen viele in der evangelischen Kirche vor sich her. Und weil man sich auf der guten, fortschrittlichen Seite wähnt, sonnen sich nicht wenige in der Annahme, sexualisierte Gewalt sei vor allem ein Problem der anderen. Die evangelische Kirche sei einfach "weniger anfällig für Missbrauch", behauptete der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber 2018 in einem Interview.

Diese Annahme wurde jetzt von den Wissenschaftlern der "ForuM"-Studie hinweggefegt: Mindestens 2225 Kinder und Jugendliche haben seit 1946 in der evangelischen Kirche und in diakonischen Einrichtungen sexualisierte Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen erlebt. Bislang geht man von 1259 Tätern aus, darunter 511 Pfarrer, viele Serientäter. Die betroffenen Kinder waren großteils unter 14 Jahre alt, in den diakonischen Einrichtungen hatten mehr Jungen als Mädchen zu leiden, in der Kirche mehr die Mädchen.

Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller ist Chefredakteurin von chrismon. Davor war sie viele Jahre Redakteurin beim "Tagesspiegel" in Berlin.

Das sei nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs", sagte Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover bei der Vorstellung der Studie. Denn anders als vor sechs Jahren, als sie die katholische Kirche untersucht haben, konnten die Wissenschaftler diesmal nur Disziplinarakten auswerten. Für die katholische MHG-Studie hatten sie zusätzlich 38 000 Personalakten analysiert. Die 20 evangelischen Landeskirchen sahen sich bis auf eine aus Personalmangel nicht in der Lage, die Personalakten durchzusehen und sie den Wissenschaftlern zur Verfügung zu stellen.

Bei der einen Landeskirche, die es gemacht hat, ergab die Analyse: 60 Prozent der Beschuldigten und 75 Prozent der Betroffenen wären ohne die Durchsicht der Personalakten unentdeckt geblieben. Würde man diese Rate auf alle Landeskirchen hochrechnen, wäre man bei über 9000 Kindern und Jugendlichen und rund 3500 Tätern. Eine solche Hochrechnung sei allerdings spekulativ und unwissenschaftlich, gaben die Forschenden zu bedenken.

"Alle Handlungsfelder und alle Einrichtungen" seien betroffen, bilanzieren die Forschenden. Das heißt im Kirchenchor kann es genauso passieren wie in der Kita, auf der Jugendfreizeit oder beim Seelsorgegespräch. Sexualisierte Gewalt geschieht in liberalen Milieus ebenso wie in strengen, pietistischen Gemeinden. Pastoren und Pädagogen in den Kinderheimen in den 50er Jahren vergingen sich an Mädchen und Jungen, und auch die reformpädagogisch beseelten Pastoren in den 70er und 80er Jahren, in der DDR kam Missbrauch ebenso vor wie im Westen. Diese Erkenntnisse sollten auch den letzten Zweifel beseitigen: Die evangelische Kirche hat ein massives Missbrauchsproblem.

Gerade das überhöhte Selbstbild der Kirche öffnet der Gewalt Tür und Tor und verhindert, dass Betroffene ernst genommen werden und konsequent aufgearbeitet wird. In einer Kirche, die sich als hierarchiearm und partizipativ wähnt, werden Machtungleichheiten eher negiert. Und wer sich eh auf der Seite der Guten wähnt, erträgt es grundsätzlich schwerer, wenn etwas nicht ins Bild passt - und guckt schneller weg. Wenn man alles besser weiß, muss man sich auch nicht ganz so energisch um Fortbildung kümmern und stempelt Betroffene eher als nervig oder als arme Opfer ab – wie es offenbar vielerorts immer noch geschieht.

Zum überhöhten Selbstbild gehört auch das evangelische Pfarrhaus. Luthers Erben sind so stolz darauf. Doch gerade die herausgehobene Position der Pfarrer in der Gemeinde, ihre theologische Deutungsmacht und oft ihr rhetorisches Geschick erleichterten und erleichtern auch heute den Zugang zu Kindern und Jugendlichen - und machen es einfacher, die Taten zu vertuschen. Denn dass ein Pfarrer so etwas tut, ist auch heute für viele Kirchenmitglieder schwer vorstellbar. So wurde gerade für Söhne und Töchter von Pfarrern und für Pflegekinder das Pfarrhaus zu einem Tatort, dem sie nicht entkommen konnten.

Lesen Sie hier, was die Betroffene Nancy Janz zur neuen Studie schreibt

Typisch evangelisch ist auch das Harmoniebedürfnis, das dazu führen kann, dass Konflikte nicht offen angesprochen werden. Wenn sich Menschen melden und von ihren schrecklichen Erlebnissen erzählen, ist der Konflikt mit dem Beschuldigten vorprogrammiert. Wenn vor lauter Konfliktscheu und weil man Unwissenheit und Schuld nicht aushält, die Situation vorschnell beruhigt, die Akte geschlossen und auf Vergebung gedrängt wird, ist das fatal.

Es hilft, wenn klar geregelt ist, was in so einer Situation zu tun ist, wer zuständig ist und wer die Verantwortung trägt, dass Aufklärung geschieht. Solche Regeln und klaren Zuständigkeiten fehlen offenbar an vielen Orten immer noch. Aber was vor allem zu fehlen scheint, ist die klare Haltung: Sexualisierte Gewalt ist ein Verbrechen. Und wenn die Kirche wirklich ein "Schutzraum" für die verletzlichen Personen in der Gesellschaft sein möchte, muss alles getan werden, um diese Verbrechen aufzuklären und zu verhindern.

Es wäre den vielen Kindern und Jugendlichen in evangelischen Kindergärten, in Konfirmandengruppen, in Chören und auf Sommerfreizeiten sehr zu wünschen, dass diese Studie endlich den nötigen Kulturschock auslöst. Denn den braucht es offensichtlich, damit sich die Mentalität ändert. Wieder einmal steht die Kirche vor einem Anfang. Mit "Kirche" sind auch wir alle gemeint, die Augen haben, um Anzeichen für Gewalt zu sehen, und Ohren, um genau hinzuhören, was Kinder erzählen.

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Bezieht diese Studie denn auch regionale Unterschiede mit ein ? Unterscheidet sie zwischen Nord und Süd, Ost und West ? Das wäre sehr wichtig. Ich wag es zu beweifeln, dass es in den evgl. Landeskirchen der DD signifikant viele Missbräuche gegeben hat. Damit hätten sich die evgl. Landeskirchen selbst diskreditiert und angreifbar gemacht. Eher unlogisch.

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Die Stärke der Autorität wird zur Schwäche der Moral, wenn die menschlichen Unvollkommenheiten unterschlagen werden. Verschleiere das Böse um die Organisation zu schützen. Kein Wunder, wenn man sich als Heilige Kirche bezeichnet. Denn was heilig ist kann nie schlecht sein. So wird die Eigensicht zu einer Falle. Jetzt kommen häppchenweise die Einzelfälle auf den Tisch. Genüsslich seziert und via Medien konsumiert. Es geht an die Substanz und das Harmoniebedürfnis der Guten ließ sie blind bleiben für den Widerspruch zwischen ihren Ansprüche gegenüber Andere und den Wünschen für sich selbst.

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Gern verweise ich auf den Pfaffenspiegel, den Hexenhammer, die Caution Criminalis, die Verwüstung der westindischen Länder, da werden Sie geholfen!
Der Glaube versetzt Berge
von Menschen unter die Erde!

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Das mit der verstörenden Harmonie kann schon Stimme. Kerzenschein und Händchen halten, einen Kreis bilden und schöne Worte sagen. Dann ein gefühlvolles Lied und Gemeinschaft erleben. Insgesamt ein infantiles feminines und "süßliches" Wohlfühlambiente? Fehlt da vielleicht doch "etwas" der maskuline Touch, der mehr Handwerk und Ergebnis statt Hoffnung und Wünsche als Ziel hat?

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Wenn man man erlebt hat, wie die Diakonie und Kirche aktiv Missbrauch vertuscht und Opfer, genau wie Zeugen, zur Strecke gebracht hat, der kriegt irgendetwas zwischen Lachkrampf und Panikattacke, wenn er der evangelischen Kirche zuhört.

Ich hoffe, ich werde alt genug, um das Ende der Amtskirche zu erleben.

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Denn der letzte, wenn auch fehlerhafte, Anker ist die Amtskirche, wenn man glaubt, Glauben nötig zu haben. Etwa eine Sekte für Kriminelle, Pädophile, Generäle und Diktatoren, die sinnstiftend das Unrecht als richtig lehren? Denn das wäre doch das Ergebnis einer ungezügelten Difersifikation. Einer Beliebigkeit, wie sie zu den Evangelikalen mit allen unerträglichen Verzweigungen besonders in Nord- und Südamerika geführt hat. Dass bei uns die Amtskirche die Diskussion einer Sexualität von Gott zulässt, ist bereits ein Zeichen dafür, wir schwach sie ist. Die Frage impliziert doch, dass man die menschliche Deutungshoheit über das "Unbegreifliche" für sich beansprucht. Sich selbst damit zum Gott über Gott erheben zu wollen, tat nur der Teufel in der Bibel.

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