NS-Vergangenheit
Sind Sie Kriegsenkel?
Der Krieg in Israel triggert Sie? Vielleicht gehören Sie zur Generation der Kriegsenkel*innen. Die Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand erklärt, wie uns die Vergangenheit prägt - und warum Schweigen überlebenswichtig sein kann
Eine Frau steht vor blauem Himmel mit dem Rücken zum Betrachter. Sie wird von einem Kind umarmt, von dem nur die Hände zu sehen sind
Wer stützt hier wen? Die Mutter das Kind - oder das Kind die Mutter? Symbolbild
Maud Evrard / plainpicture
Tim Wegner
26.01.2024
7Min

Der Krieg in Israel und die hohen Zustimmungswerte für die AfD machen mir große Sorgen. Der Gedanke, dass Jüdinnen und Juden auch in Israel nicht sicher sein können, triggert mich richtig. Hängt das damit zusammen, dass ich eine Kriegsenkelin bin?

Ingrid Meyer-Legrand: Ja, das würde ich sagen. Die Eltern der Kriegsenkel*innen wurden zwischen 1928 und 1946 geboren und waren noch von der NS-Ideologie geprägt, sie haben als Kinder Krieg und Flucht erlebt, das hat sich auch auf uns übertragen. Viele von uns spüren eine Verantwortung Israel gegenüber und dafür, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.

Prägt die NS-Zeit uns auch dann, wenn die eigenen Eltern gar keine dramatischen Kriegs- oder Fluchterlebnisse hatten?

Man muss nicht unmittelbar persönlich betroffen sein, die ganze Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, stand unter dem Eindruck der Verbrechen aus der Zeit des NS, viele waren traumatisiert, auch wenn darüber im Wesentlichen geschwiegen wurde. Die Generation der Täter, unsere Großväter und Großmütter, die für NS-Staat und Krieg verantwortlich waren, saßen ja ganz schnell wieder in leitenden Positionen und prägten weiter die Stimmung und Normen. So blieb das Schulsystem rigide, die Prügelstrafe war noch lange erlaubt, Kinder hatten keine Rechte, Andersdenkende wurden ausgeschlossen.

Ingrid Meyer-LegrandPrivat

Ingrid Meyer-Legrand

Ingrid Meyer-Legrand führt als Systemische Therapeutin, Supervisorin und Coach ihre eigene Praxis in Berlin und Brüssel. Sie ist selbst Kriegsenkelin und hält seit vielen Jahren Vorträge, Seminare und Workshops zu diesem Thema. 2016 erschien von ihr das Buch "Die Kraft der Kriegsenkel - Wie Kriegsenkel heute ihr biografisches Erbe erkennen und nutzen" (Europa Verlag).

Gibt es Untersuchungen zur Traumatisierung der Kriegskinder, also unserer Eltern?

Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass 30 Prozent der Kriegskinder schwer traumatisiert sind durch die NS-Erziehung, den Krieg und die Flucht und dadurch, dass den Geflüchteten die Ankunft in der Bundesrepublik nach dem Krieg so schwer gemacht wurde. Weitere 30 Prozent sind leicht traumatisiert. 90 Prozent der Kinder von überlebenden Juden und Jüdinnen sind schwer traumatisiert, sie mussten ja auch noch verkraften, dass ihre Eltern zum Teil umgebracht worden waren oder sie selbst schon verfolgt wurden.

Mein Vater war Antisemit. Kann es sein, dass ich unbewusst seine Schuld auf mich genommen habe und etwas wiedergutmachen will?

Ja, darin sehe ich durchaus eine Verbindung. Denn stellen wir uns vor, ein Verwandter hat in der Vergangenheit enorme finanzielle Schulden gemacht und dadurch die ganze Sippe an den Abgrund gebracht. Das würden wir uns doch immer wieder vor Augen führen, als Mahnung, dass wir es bloß anders machen. So ist es auch mit der Schuld aus der NS-Zeit. Ich würde aber lieber den Begriff Verantwortung benutzen: Viele Kriegsenkel*innen wollen es anders machen als die Eltern und Großeltern: weltoffen sein, Menschen gleich behandeln, egal, welcher Religion sie angehören oder woher sie kommen.

Dann ist es wohl kein Zufall, dass ich seit Jahren ehrenamtlich ein Mädchen, jetzt eine junge Frau, aus schwierigen Verhältnissen begleite. Auch ihre Familie ist vor einem Krieg geflohen.

Ja, genau. Das ist kein Zufall! Viele Kriegsenkel*innen engagieren sich für Benachteiligte, viele haben Berufe ergriffen, die mit Empathie und Fürsorge für andere zu tun haben, sind Therapeutinnen, Lehrer, Journalistinnen, Sozialarbeiter oder Juristinnen geworden. Viele haben schon früh gelernt, von sich abzusehen und für andere da zu sein. Denn die Eltern waren oftmals die Bedürftigeren, die wegen all des Schlimmen, das sie im NS und im Krieg erlebt haben, geschont werden mussten und der Hilfe bedurften. Öffentliche Hilfe gab es nicht. Die Fürsorge für das Leid der Eltern wurde ins Private abgeschoben. Dafür waren wir - die Kinder - da. Mit diesem biografischen Erbe im Gepäck haben viele von uns dann als junge Menschen in den 1970ern und 80ern Freiheit und Selbstverwirklichung nachgeholt und sich selbst in den Mittelpunkt der Welt gestellt. Sie haben studiert, sich in allen möglichen Initiativen engagiert, viel ausprobiert.

In Ihrem Buch "Die Kraft der Kriegsenkel" schreiben Sie, dass viele sehr mutig waren und ihre angestammten sozialen Milieus verlassen haben, oft ohne große finanzielle Sicherheit.

Das hat auch mit den Aufträgen der Eltern zu tun: "Mach etwas aus dir. Wir konnten es nicht!", hieß es oftmals vonseiten der Kriegskinder-Eltern. Es hat aber auch mit den Möglichkeiten der offenen Gesellschaft seit Anfang der 1970er Jahre zu tun, die es breiteren Schichten der Bevölkerung erlaubten, höhere Schulen zu besuchen. Viele Kriegsenkel*innen haben diese Chancen genutzt und – nachdem sie in ihren Familien eher für das Leid ihrer Eltern zuständig waren – sich selbst und ihre Bedürfnisse und Interessen in den Mittelpunkt gestellt. Die Erwartung, dass eine Arbeit Sinn machen muss, dass man nicht lebt, um zu arbeiten, wurde in der Zeit ausformuliert. All das wurde eine Zeit lang auch großzügig von Sozialleistungen abgepuffert. Das hatte irgendwann ein Ende, und viele sind ins Schlingern geraten. Denn nach dem Studium wartete auf viele die Arbeitslosigkeit. Und so haben bis heute nicht alle ihren Platz gefunden. Nicht alle konnten und können mit dieser Unsicherheit und Unbehaustheit gut umgehen. Viele aber halten an ihrem Traum eines selbstbestimmten Lebens fest und erfinden sich immer wieder neu.

Wie erklären Sie sich die hohen Zustimmungswerte für die AfD? Hat das auch etwas mit den Kriegsenkel*innen zu tun?

Viele wollen oder können die Verantwortung für die Verbrechen der Nazis, ihrer Vorfahren, nicht übernehmen und meinen, wenn sie einen Schlussstrich unter diese Geschichte setzen, sich daraus entlassen zu können. Daran knüpft die AfD an. Gehe ich in meiner Arbeit als Psychotherapeutin dem nach, stoße ich sehr oft auf massive Schuldgefühle bei Einzelnen und vor allem auf Hilflosigkeit und Ohnmacht. In Anbetracht dieses Infernos der deutschen Geschichte ist das natürlich auch kein Wunder. Sehr oft reicht es aber aus, Wege aus dieser Ohnmacht aufzuzeigen und im eigenen persönlichen Umfeld aktiv zu werden.

Lesen Sie hier, wie Niklas Frank, der Sohn eines hohen NS-Funktionärs, mit der Familiengeschichte umgeht

Hören Sie in Ihrer Praxis jetzt öfter, dass der Überfall auf Israel triggert? Macht der Zulauf für die AfD vielen Sorge?

Ja, ich kann schon sagen, dass sich viele bedroht fühlen. Das fing mit dem Ukraine-Krieg an, ein Krieg direkt vor der Haustür. Und der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober setzte der ohnehin aktuell zu beobachtenden großen Unsicherheit noch eins drauf.

Was können wir der Bedrohung entgegensetzen?

Wir alle haben die Möglichkeit, da wo wir sind, Einfluss zu nehmen. Wir leben in einer demokratischen Gesellschaft, in der wir mitbestimmen können, wie wir leben wollen. Wir sollten wieder anfangen, unsere Gesellschaft zu gestalten, wie es die Kriegsenkel*innen seit den 1970er Jahren gemacht haben. Nach dem Motto: "Das Private ist politisch!" Und ganz konkret schauen: Welche Möglichkeiten habe ich, um mich mit meinen Interessen einzubringen? Das geschieht ja jetzt auch, wie wir an den großen Demonstrationen gegen die AfD sehen.

Schweigen als Bewältigungsstrategie

Wir Kriegsenkel*innen kreisen aber auch ganz schön viel um uns selbst. Geht es heute zu viel um Gefühle und Befindlichkeiten?

Auf keinen Fall! Unsere Eltern haben eine große Härte gegen sich und andere erlebt und durften keine Gefühle zeigen. Vor diesem Hintergrund ist es doch von Vorteil, dass wir heute so differenziert unsere Gefühle äußern können! Je besser wir uns selbst kennen, umso besser können wir auch mit anderen umgehen.

Kann es in bestimmten Situationen gut sein, sich nicht zu erinnern und zu verdrängen? Meine Mutter hat sehr viel in sich vergraben, das Leben musste weitergehen.

Das kann durchaus eine Bewältigungsstrategie sein, mit dem großen Leid zurechtzukommen. Ich warne auch davor, die Eltern mit Fragen zu traktieren: "Erzähl doch mal, was du erlebt hast! Bist du vergewaltigt worden?" Wer erzählt schon gern von schlimmen Ereignissen? Niemand! Zu schweigen war für sie oft überlebenswichtig. Denken wir nur daran, wie mit vergewaltigten Frauen bis heute umgegangen wird. Daher sollten wir durchaus vorsichtig sein mit unseren Fragen. Manche Fragen können die Eltern auch gar nicht verstehen, weil sie aus einer anderen Gefühlswelt kommen. Und unsere Gefühle sind an unsere Welt gebunden. Gefühle sind immer gesellschaftlich konstruiert.

Wie meinen Sie das?

Die Eltern sind anders groß geworden. Sie selbst, ihre Gefühle ganz allgemein und auch ihre Verletzungen haben kaum Gehör gefunden. Sie mussten sich anhören: Was du fühlst, ist gar nichts gegenüber dem, was die Soldaten erlebt haben. Wenn wir sie fragen, wie hast du dich gefühlt, als die Bomben fielen, können sie wenig sagen. Sie haben es schlicht nicht gelernt, über sich und ihre Gefühle zu sprechen. Denn das setzt ja voraus, sich selbst ernst zu nehmen. Das war während der NS-Zeit und in der Folge verpönt. Das machte man nicht.

Das heißt, man entwickelt bestimmte Gefühle gar nicht, wenn sie verboten sind?

So ist es. Dass wir heute so sehr auf unsere Gefühle schauen, ist eine Entwicklung seit den 1970er Jahren, als wir anfingen, mehr "ich" zu sagen. Als Kinder haben wir ja noch oft gehört: Stell dich nicht so an, ist doch nichts passiert. Aber natürlich ist was passiert. Heute fragen wir unsere Kinder: Brennt der Schmerz? Sticht der Schmerz? Schmerz zu fühlen ist mit Resonanz und Sprache verbunden. Was wir fühlen und wer wir sind, das ist uns gesagt worden: Jetzt bist du müde und nicht krank. Oder: Du bist ein kluges Kind und nicht einfach nur vorlaut. Wir entwickeln uns, unsere Identität, zu der natürlich auch unser Gefühlsleben gehört, in Resonanz mit anderen. Bleibt die Resonanz aus, wie bei den Kriegskinder-Eltern, dann bleibt da ein weißer Fleck. Das Ergebnis: Unsere Eltern kennen sich in dem Sinne, wie wir uns heute kennen, nicht. Darin besteht dann wiederum die große Ratlosigkeit und Sprachlosigkeit zwischen den Kriegskinder-Eltern und den Kriegsenkel*innen, ihren Kindern.

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