Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts
Uli Deck / picture alliance / dpa
Freispruch auf Bewährung?
Nicht zweimal in derselben Sache
Wer einmal rechtskräftig freigesprochen wurde, muss sich darauf verlassen können, dass es dabei bleibt. Auch, wenn sich die Beweislage ändert. Ein Gastkommentar von Strafverteidiger Christoph Grabitz.
02.11.2023
5Min

Es ist dieser eine Moment, den ein Angeklagter und sein Verteidiger nie vergessen. Die Tür zum Beratungszimmer geht auf, das Gericht kommt rein, die Roben wehen, der Saal erhebt sich, Stille kehrt ein. "Im Namen des Volkes: Der Angeklagte wird freigesprochen. Bitte setzen Sie sich."

Manchen Mandanten kommen jetzt die Tränen. Manche zittern, manche seufzen. Manche starren einfach nur ins Nichts. Lachen oder unbändige Freude? Fehlanzeige. Die kommen erst später, außerhalb dieses Saals, wenn keiner zusieht. Es gibt wenige Momente, in den die Brüchigkeit der menschlichen Existenz so plastisch wird, wie im Moment des Freispruchs.

Einen "Freispruch auf Bewährung" darf es nicht geben, hat das Bundesverfassungsgericht am Dienstag entschieden und § 362 Nr. 5 StPO für verfassungswidrig erklärt. Die Vorschrift ermöglichte eine Wiederaufnahme zu Ungunsten eines Angeklagten in dem Falle, dass neue Beweismittel auftreten. Dies verstoße gegen elementare Grundsätze des Rechtsstaats, so das Gericht. Einmal mehr hat Karlsruhe eine hässliche Entgleisung des Gesetzgebers korrigiert.

privat

Christoph Grabitz

Christoph Grabitz, geboren 1982 in Hamm. Hat an der Humboldt Universität zu Berlin Jura studiert und sich am King's College in London auf internationales Strafrecht und Kriminologie spezialisiert. Journalistische Ausbildung als Stipendiat am ifp in München. Ausbildungsstationen u.a. bei Associated Press, Kulturradio vom RBB, Financial Times Deutschland und Spiegel Gesellschaft. Derzeit ist er Strafverteidiger und Pressesprecher der Kanzlei H/T Defensio.

Ein Fall aus dem Jahr 1981 hatte zu dem umstrittenen Gesetz geführt, der Fall Frederike von Möhlmann. Die damals 17 Jahre alte Schülerin wurde auf dem Nachhauseweg vergewaltigt und mit mehreren Messerstichen getötet. Ihre Leiche wurde in einem Waldstück aufgefunden. In ihrem Slip fanden die Ermittler Spermaspuren, eine DNA-Analyse war aber in den 80er Jahren technisch noch nicht möglich.

Angeklagt wurde Ismet H. Das Landgericht Lüneburg verurteilte ihn wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf und verwies die Sache zur Entscheidung an das Landgericht Stade zurück, das H. 1983 freisprach.

Hans von Möhlmann, der Vater Frederikes, kämpfte Zeit seines Lebens für eine Verurteilung Ismet Hs. Im Jahr 2012 setzte er eine zu diesem Zeitpunkt erstmals mögliche DNA-Analyse des Spermas durch. Diese ergab eine Übereinstimmung der in dem Slip gefundenen DNA mit der DNA von Ismet H.

Frederikes Vater kämpfte für Änderung des Wiederaufnahmerechts

Wäre die DNA-Analyse bereits in den 1980er Jahren möglich gewesen, wäre Ismet H. wohl verurteilt worden. Eine Wiederaufnahme war aber verfassungsrechtlich nicht zulässig: Der Grundsatz ne bis in idem statuiert ein Wiederholungsverbot: Wer einmal am Wickel der Strafjustiz hing und rechtskräftig freigesprochen worden ist, soll sich darauf verlassen dürfen, dass es dabei auch bleibt – technischer Fortschritt her oder hin.

Hans von Möhlmann und seine Unterstützer brachten es so weit, dass die schwarz-rote Koalition 2021 das "Gesetz zur materiellen Gerechtigkeit" erließ. Ein Festhalten am Grundsatz ne bis in idem sei in Fällen von Kriegsverbrechen und Mord "schlechthin unerträglich", befand der Gesetzgeber, wenn im Nachhinein neue Beweise aufkämen.

Im Februar 2022 wurde die Wiederaufnahme für zulässig erklärt. H. kam in Untersuchungshaft. In einem Eilverfahren wiederum setzte das Bundesverfassungsgericht den Haftbefehl außer Vollzug weil es Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der Norm hatte. H. kam frei.

Hans von Möhlmann starb im Juni 2022. Eine Gnade, dass er, der so viele Jahre für die Sühne des Verbrechens an seiner Tochter gekämpft hatte, den Erlass des neuen Gesetzes noch miterlebte, die Zweifel des Verfassungsgerichts aber nicht.

Unerträglichkeit darf keine Kategorie des Rechtsstaats sein

Die Gefühle, die diesen Vater über Jahrzehnte angetrieben haben, sind nachvollziehbar: Schmerz und Ohnmacht. Empörung über den Verlust eines Kindes, das in einer so entwürdigenden Art und Weise aus dem Leben gerissen wurde, auf dem Rückweg vom Musikunterricht. Natürlich ist so etwas unerträglich.

Unerträglichkeit aber darf keine Kategorie des Rechtsstaats sein. Denn dann hält laienhafte Subjektivität Einzug in ein fein austariertes System. Dann tritt Fühlen an die Stelle von Professionalität. Gerade das bewusste Eindämmen von Emotionen in Krisen, ist auch in unserem Beruf ein Zeichen für Professionalität. Insoweit unterscheiden wir Juristen uns nicht vom Herzchirurgen, Sprengstoffexperten oder Piloten.

Dass der Gesetzgeber das missratene Gesetz mit dem Begriff "Erträglichkeit" begründete, war bereits Etikettenschwindel. Das Wort ist der berühmten Radbruchschen Formel entlehnt.

Begriff der "Erträglichkeit" ist Radbruchschen Formel entlehnt

Geltendes Recht, so der Rechtspositivist Radbruch, könne nicht länger aus der Natur oder Religion abgeleitet werden. Der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit sei, dass Gerechtigkeit ein Ideal sei, das immer nur angestrebt werden könne. Recht aber sei, ganz nüchtern, die Gesamtheit aller ordnungsgemäß erlassenen Normen. Und diese seien so lange zu befolgen, wie sie nicht außer Kraft gesetzt seien.

Wie aber umgehen mit all den Nazischlächtern, die sich nach dem Krieg darauf beriefen, sie hätten nur geltendes NS-Recht umgesetzt? Als Antwort führte Radbruch, der den Nationalsozialismus überlebte, den Begriff der "Erträglichkeit" ein. Ein eklatant unerträgliches Gesetz sei per sei kein Gesetz und müsse nicht befolgt werden. Gesetze, die per se böse seien. Das Recht auf Leben negierten oder Gleichheit vor dem Gesetz.

Der jahrtausendealte Grundsatz ne bis in idem ist keine solche Unerträglichkeit, auch wenn er in wenigen Ausnahmefällen "unerträgliche" Ergebnisse schafft.

Was den Rechts- vom Unrechtsstaat unterscheidet

Wenn ein Mensch Beschuldigter in einem Strafverfahren ist, sieht er sich beispielloser staatlicher Übermacht ausgesetzt. Der Staat darf jetzt in das Privateste eindringen, das wir haben, unsere Wohnung. Er darf unsere Briefe und Whatsapps lesen. Von unseren geheimsten Phantasien erfahren, all den kleinen oder größeren Lebenslügen. Er darf unseren Körper untersuchen und uns einsperren, obwohl wir nach dem Gesetz noch unschuldig sind.

Soweit erforderlich darf er all dies viele Jahre lang und über mehrere Instanzen tun. Über vierzig Jahre ist es her, dass die Ermittler erstmals vor der Tür von Ismet H. standen.

Ne bis in idem ist Ausdruck einer Verhältnismäßigkeit, die den Rechts- vom Unrechtsstaat unterscheidet. In bestimmten Fällen kann das Interesse eines Beschuldigten auf einen Schlussstrich höher zu bewerten sein, als das Interesse der Allgemeinheit an Gerechtigkeit. Dass hierdurch im Einzelfall ein Mensch seiner "verdienten" Strafe entkommt, wird bewusst in Kauf genommen. Das ist dann eben so. Irren macht menschlich.

Der Begriff der Sühne, der in der Debatte immer wieder fiel, ist religiös konnotiert. Jeder Strafverteidiger muss bei der Verwendung solch emotional aufgeladener Begriffe sofort alarmiert sein. Ein Gesetz, das nicht viel weniger als "materielle Gerechtigkeit" in seinem Namen trägt, ist eine Vermessenheit. Es ist kein Zufall, dass die zwischen 1933 und 1945 erlassenen Strafrechtsnormen dadurch auszeichnen, dass sie Tätertypen anstatt Taten strafrechtlich erfassen ("Mörder ist, wer…" heißt es noch immer in unserem Strafgesetz) und mit objektiven Kriterien kaum fassbare Dinge wie "Heimtücke" oder "niedrige Beweggründe" ausgerechnet in dieser Zeit Eingang ins Gesetz fanden. Die Frage, ob ein Beweggrund als "niedrig" einzustufen ist, ist beinah eine Frage des persönlichen Geschmacks.

Und was ist schon "unerträglich"? Warum, so sah die Norm es vor, sollte nur in Fällen von Kriegsverbrechen und Mord eine Wiederaufnahme zu Lasten eines Beschuldigten möglich sein? Warum nicht bei Totschlag oder Kindesmissbrauch? Wenn ich die Wahl hätte, entweder über Jahrzehnte in einem feuchten Keller eingesperrt und von meinem eigenen Vater missbraucht (Fall Joseph Fritzl, Österreich) oder aber heimtückisch im Schlaf erschossen zu werden – ich fände letzteres "erträglicher".

Selbst wenn die Norm Bestand gehabt hätte, wäre eine Verurteilung von Ismet H. im Rahmen einer Wiederaufnahme im Übrigen nicht garantiert gewesen. Die Spermaspuren sind ein Indiz, dass Ismet H. und Frederike von Möhlmann miteinander Geschlechtsverkehr hatten, als sicherer Tatnachweis für eine Verurteilung wegen Mordes taugen sie nicht. Nicht nach über vierzig Jahren.

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Ein Beweis ist ein Beweis ist ein Beweis!!!

Ein Staat aber, der den erpresserischen Wettbewerb im "gesunden" Konkurrenzdenken und die ausbeuterisch-wettbewerbsbedingte Symptomatik einfach als unumstössliche Rechtsgrundlage des "freiheitlichen" definiert, wo die Befriedung durch ein Gemeinschaftseigentum OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik menschenwürdiger wäre, dieser Staat ist wie:
Der zeitgeistlich-reformistische Kreislauf des imperialistisch-faschistischen Erbensystems auf heuchlerisch-verlogener Schuld- und Sündenbocksuche in gleichermaßen unverarbeitet-konfuser systemrational-gepflegter Bewusstseinsschwäche in Angst, Gewalt und egozentriertem "Individualbewusstsein"!?

"Das Gesetz hat die Menschen nicht um ein Jota gerechter gemacht; gerade durch ihren Respekt vor ihm werden auch die Wohlgesinnten jeden Tag zu Handlangern des Unrechts." Henry David Thoreau

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" Wer einmal rechtskräftig freigesprochen wurde, muss sich darauf verlassen können, dass es dabei bleibt."
Unabhängig davon, ob er schuldig oder unschuldig ist ? ?
Die Argumentation zeugt, meiner Ansicht nach, von einer übertriebenen Empathie für den Täter, und Geringschätzung für das Opfer.
Gefühle dürfen zwar kein alleiniger Massstab sein, aber Gerechtigkeit geht nicht ohne Emotionen.
Genau das soll doch der Sinn einer Rechtsprechung sein, ungetrübt von Falschheit, Voreingenommenheit und Vorurteil, und mit Respekt.
Ein gerechtes Urteil ist eines, das den Täter überführt und bestraft, je nach schwere der Schuld.
Bei Unschuld ist das Gesetz zu begrüßen, wenn aber die Beweise so eindeutig sind, dann stellt sich doch die Frage, warum Justitia hier so offensichtlich übergangen wird.
Begünstigt eine solche Rechtsprechung nicht den Femizid ? Denn das ist doch diese Tat ganz eindeutig.
Warum wird nicht differenziert zwischen Rechtsprechung und einem gerechten Urteil unterschieden ?
Wo bleiben dabei ein klares Urteilsvermögen , oder die Rechte des Opfers ?
Die Rechtsprechung kann sich nicht allein auf Gesetze berufen, denn wo bliebe dann der Aspekt der Menschlichkeit ?

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