Menschen mit Behinderungen
"So eine große Nähe, in kurzer Zeit"
Junge Deutsche kümmern sich im Libanon ehrenamtlich um Menschen mit Behinderungen. Der Münchner Fotograf Erol Gurian hat sie begleitet
Im Libanon kümmern sich deutsche Freiwillige um Menschen mit Beeinträchtigungen - eine prägende Erfahrung für alle
Im Libanon kümmern sich deutsche Freiwillige um Menschen mit Beeinträchtigungen
Erol Gurian
Tim Wegner
Erol GurianErol Gurian
17.10.2023
6Min

Der Malteserorden organisiert seit 1998 Feriencamps im Libanon. In den Bergen bei Chabrouh kümmern sich junge ehrenamtliche Helfer und Helferinnen aus Deutschland um libanesische Menschen mit Behinderungen, die in Heimen leben und selten Urlaube genießen können. Die Freiwilligen bleiben insgesamt rund vier Wochen im Libanon und betreuen je einen Menschen mit Behinderung für jeweils eine Woche. Sie helfen bei Toilettengängen, waschen, füttern die Libanesen, spielen, singen und tanzen mit ihnen.

Für die Behinderten ist der Aufenthalt gratis. Im Feriencamp werden sie "Gäste" genannt. Hier sollen sie bestimmen, was gemacht wird. Fotograf Erol Gurian aus München hat die Teilnehmenden begleitet. Per Selbstauslöser haben sich rund 60 Ehrenamtliche mit ihren Gästen fotografiert. Die Bilder sollen in einem Buch und einer Ausstellung zu sehen sein.

Für die Ehrenamtlichen entstehen Kosten von rund 700 Euro, darin sind Flug, Unterbringung und Verpflegung enthalten. Die eigentlichen Kosten seien höher und werden von den Maltesern getragen, sagt deren Sprecherin. Die Pflege ist anstrengend, zwischendurch gibt's für die Helfer und Helferinnen freie Tage für Ausflüge und Erholung. Drei Freiwillige erzählen von ihren Erfahrungen:

Philippa El Hindy aus München, 18, macht gerade ihr Gap-Year:

Philippa El Hindy (links) und Warde Hanna Haddad

"Da mein Vater aus dem Libanon stammt, interessiere ich mich sehr für das Land. Im Camp geht es um Würde. Ich will den Menschen mit Behinderungen zeigen, dass sie genau so viel wert sind wie andere. Ich war drei Wochen dort, habe drei Gäste betreut. Manche von ihnen sind wie Kinder. Sie umarmen dich, halten dich fest, suchen Nähe. Wir sind oft ohne Worte ausgekommen. Mit der Frau auf dem Foto habe ich meine zweite Woche verbracht. Sie heißt Warde. Das bedeutet Rose ­– auf Arabisch. Sie ist 60, sieht aber älter aus, hat Trisomie 21 und geht mir gefühlt bis zur Hüfte. Und ich bin nur 1,63 groß. Wir haben uns sehr gemocht. Sie hat erst gegessen, wenn ich auch aß. Als ich einmal traurig war, hat sie mir ihre Hand auf die Wange gelegt. Ich hatte das Gefühl, sie wollte auf mich aufpassen.

Warde war selbstständig, andere Gäste brauchten mehr Hilfe von mir. Beim Waschen, beim Toilettengang. An meinem ersten Tag im Camp kam eine Busladung älterer Männer an, alle mit Behinderungen, viele konnten nicht allein aufs Klo. Ich dachte: Oh Gott, worauf habe ich mich da eingelassen? Aber nach dem ersten Windelwechseln hatte ich gar keine Hemmungen mehr. Das war dann auf einmal ganz normal.

Übrigens haben mir alle anderen Helfer verraten, dass sie an ihrem ersten Tag auch für einen Moment gezweifelt haben, ob sie die Pflege wirklich schaffen. Anstrengend war der Schlafmangel. Wir Helfer haben uns von sieben Uhr morgens um die Gäste gekümmert und sie abends ins Bett gebracht. Danach saßen wir oft noch bis um eins zusammen und redeten. Diese Stunden waren es wert, am nächsten Morgen müde zu sein."

Ravi Fröhlich, 18, reist im Anschluss für sechs Monate durch Argentinien:

Ravi Fröhlich (hinten) und Micheline Karam Al Ahmar

"Ich war freiwilliger Helfer im Libanon, Freunde haben mir das wärmstens empfohlen. In den ersten Tagen haben wir die Grundregeln der Pflege und ein paar Fetzen Arabisch gelernt. Ich habe mich den ganzen Tag um einen Menschen gekümmert, habe ihm zugehört ­– auch wenn ich nicht immer alles verstanden habe. Ich habe aufgeräumt, geputzt, Betten bezogen und bei Toilettengängen geholfen.

In der freien Zeit besichtigten wir Helfer das Land. An den Abenden trafen wir uns, quatschten und tranken Almaza, das lokale Bier. Eine finanzielle Entschädigung gab es nicht, im Gegenteil, man musste den Flug und einen kleinen Beitrag zahlen, weil das ganze Projekt mit Spenden finanziert wird. Und Pflege ist verdammt teuer.

Auf dem Foto ist Micheline zu sehen. Wir haben zusammen gemalt, geschaukelt, getanzt und gesungen. Sie hat viel geschlafen. Das war bei vielen so, weil sie durch die Medikamente in ihren Heimen ruhiggestellt wurden. Micheline ist körperlich eingeschränkt und hat autistische Züge. Sie und viele andere litten in den Heimen an falschen Behandlungen oder zu vielen Medikamenten. Micheline war sehr dankbar. Im Gegensatz zu anderen fiel es ihr leicht, Gefühle zu zeigen. Wenn man die Zeit so intensiv mit einer Person verbringt, die auf einen angewiesen ist, lernt man sie sehr gut kennen. Diese Intimität ist einzigartig. Ich plane, zu Ostern wieder das Camp zu besuchen."

Katharina Jacobi, 24, BWL-Absolventin aus Hamburg:

Katharina Jacobi (links) und Roweida Khalil Daou

"Ich habe gerade meinen Master beendet, und bald starte ich in meinen ersten Job. Vorher wollte ich gern beim Libanonprojekt der Malteser mitmachen. Für eine Woche geht es nur um die Erfüllung der Bedürfnisse unserer Gäste. Wir freiwilligen Helfer kümmern uns in einer Eins-zu-eins-Betreuung um sie. Bisher hatte ich keinerlei Berührungspunkte mit Menschen mit Beeinträchtigung. Dazu kam diese große Verantwortung, die man mit 'seinem' Gast in die Hände gelegt bekam.

Die ersten Tage im Camp begannen herausfordernd für mich, ich fühlte mich unsicher. Der große Zusammenhalt unter den Volontären und unterstützende Gespräche halfen mir, das Erlebte einzuordnen und Sicherheit zu gewinnen. Ein Schlüsselmoment war, als ich meinem ersten Gast in einem Moment lange und tief in die Augen blickte. Ab da an sah ich nur noch den Menschen, nicht mehr dessen Beeinträchtigung.

Die Wochen im Libanon wurden eine der lehrreichsten Zeiten für mich. Kein Small Talk, keine Höflichkeiten. Es ist ein Umfeld, in dem sich alles reduziert auf das Wesentliche. Vielleicht war man dort die beste Version von sich selbst. Roweida, neben mir auf dem Foto zu sehen, hat mir gezeigt, wie persönliche Begegnung innerhalb kürzester Zeit entstehen kann. Bei ihrer Vorfreude auf ein Wiedersehen im nächsten Jahr fühlte ich Bestätigung, dass sich all die Anstrengung, mich für meinen Gast zu verschenken, gelohnt hatte. Den Glauben praktisch zu leben und in täglichen Messen Kraft aus ihm zu schöpfen, war ein Geschenk, für das ich sehr dankbar bin."

Erol Gurian, Fotograf:

Fotograf Erol Gurian hat die Teilnehmenden vier Wochen lang begleitet

"Ich habe das Projekt realisiert, weil ich neugierig darauf war, wie sich eine sehr intensive Beziehung zwischen zwei fremden und völlig unterschiedlichen Menschen so schnell entwickeln kann. Und ob es mir gelingt, diese Beziehung in aussagekräftigen Doppelporträts zu fotografieren. Mich hat die unglaubliche Offenheit der Freiwilligen beeindruckt. Und der Team-Spirit, den ich in Chabrouh erleben konnte: Niemand hat daran gezweifelt, dass man die Herausforderungen nicht gemeinsam meistern könne.

Die Umsetzung des Projektes war sehr komplex. Meine Assistentin Sonja und ich zweifelten während des insgesamt vierwöchigen Shoots immer wieder daran, ob es uns gelingt. Da gab es die Hitzewelle mit Höchsttemperaturen um die 40 Grad. Und die Frage, ob es gelingen würde, unsere Protagonisten zu motivieren, überhaupt mitzumachen. Sie mussten dazu das Haus der Malteser verlassen und sich auf maroden Wegen durch Disteln und Staub kämpfen. Für einige der Gäste war das eine extreme Herausforderung. Sonja und ich mussten immer wieder viel Überzeugungsarbeit leisten.

Weil wir ausschließlich mit Tageslicht arbeiteten, gab es täglich nur zwei Zeiten, die fürs Fotografieren infrage kamen: morgens, zwischen sieben und neun, sowie nachmittags, zwischen 15.30 und 17.30 Uhr. Zu jeder anderen Zeit stand die Sonne zu steil für gute Porträts. Das mussten wir mit unseren Protagonisten eintakten, eine weitere Erschwernis. Aber am Ende hat es geklappt."

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