Mobbing
Jedes Anderssein ist anders
Saša Stanišić hat einen Kinderroman geschrieben – über Wölfe, schweigende Mehrheiten in der Schule und kreative Wege aus dem Mobbing
Der Wolf als Traum - für jeden Leser von Saša Stanišićs Kinderroman hat der Wolf eine andere Bedeutung
Der Wolf als Traum - für jeden Leser von Saša Stanišićs Kinderroman hat der Wolf eine andere Bedeutung
Regina Kehn
12.06.2023
8Min

chrismon: Herr Stanišić, hatten Sie eine schlimme Zeit in der Schule? Oder woher kennen Sie die Dynamik, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?

Saša Stanišić: Während meiner Schulzeit in Heidelberg ­habe ich beobachtet, wie einem meiner Schul­kameraden das Leben zur Hölle gemacht ­wurde, systematisch, aus Lust am Quälen. Wir waren 15 oder 16 Jahre alt, als das losging. Und alle, mich eingeschlossen, haben sehr, sehr ­wenig dagegen getan. Das ist eine passive Täter­position, wie ich jetzt weiß. Man darf nicht einfach nur Zeuge bleiben, man hat als Zeuge eine Verantwortung. Das falsche Bewusstsein von damals – wenn ich selbst nicht mitmobbe, bin ich nicht der Böse: Das hat mich sehr lange beschäftigt.

Und jetzt haben Sie einen Kinder­roman darüber geschrieben.

Ja, es war mir ein Anliegen, meine eigenen Ängste, meine Ohnmacht und Passivität von damals in einem Text zu verarbeiten.

Warum treibt Sie das Thema so um?

Saša StanišićKatja Sämann

Saša Stanišić

Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad (Jugoslawien) geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Seine Erzählungen und Romane wurden in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er erhielt unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse für »Vor dem Fest« und für »Herkunft« den Deutschen Buchpreis 2019. Sein Bilderbuch "Hey, hey, hey, Taxi" war 2022 für den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Im April 2023 erschien sein erster erzählender Kinderroman "Wolf" im Carlsen Verlag. Saša Stanišić ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt in Altona, Hamburg.

Einerseits, weil solche ­extremen Ausprägungen des sozialen Drucks sowie Aggressionen und Übergriffe nach wie vor zu häufig ­geschehen und harte Spuren im Leben der Opfer hinterlassen. Und andererseits, weil ich überzeugt bin, dass man den Dynamiken einer systematischen Schikane zuvorkommen kann, wenn man früh genug nicht nur erkennt, dass jemand leidet, sondern auch handelt. Sich organisiert als Klassenverbund, als Gruppe, als schulische Unterstützung. Das Buch ist ein Appell an die große schweigende Mehrheit – nicht zu schweigen.

Was kann Literatur, was ein Sachtext über Mobbing nicht kann?

Die Sachbücher, die ich zum Thema gelesen habe, richten sich fast alle an die Erwachsenen und reflektieren deren Rolle bei diesen Pro­zessen. Das ist ja auch okay. Meine Hoffnung ist, dass erzählende Literatur direkter wirkt: Dass sie durch die beschriebenen Emotionen ­näher an die Emotionen der Betroffenen heran­kommt. "Ich sehe dich" – dich, das ­Opfer –, sagt meine Geschichte. Ich versuche mir ­darin vorzustellen, was du durchmachen musst, du bist nicht allein. Aber auch: Ich sehe die Täter, und ich sehe auch euch, die schweigende Mehrheit. Tut etwas! Ich zeige in meiner Geschichte nach jedem Mobbing­akt sogar Handlungsanleitungen auf, ohne zu moralisieren oder es so darzustellen, als sei es der einzig mögliche Weg. Jedes Mobbing ist individuell.

In "Wolf" trifft es einen Jungen im Ferien­lager . . .

Genau. Jörg wird in der Schule und auf der Gruppenreise gemobbt. Andere Kinder ­suchen geradezu nach Gründen, um ihn zu terrorisieren. Etwa weil er große Ohren hat und nicht so sportlich ist. Er wandert und zeichnet ­gerne und wirkt oft selbstversunken. Mit Kemi, dem Ich-Erzähler, hat er in der Schule wenig zu tun. Dieser ist nie um Worte verlegen, hasst aber Gemeinschaftsausflüge in die Natur. Da hat er übrigens was von mir.

Wieso?

Natur und Mücken, zu Aktivitäten gezwungen sein, die Duschen, die Gemeinschaftsküche – das empfand ich in der Schulzeit als reinste Zeitverschwendung und eklig außer­dem. Aber dann war ich doch gern überall einge­laden . . . Kemi dagegen ist heimlich froh, dass es so jemanden wie Jörg gibt, weil er damit nicht selbst das Mobbing­opfer ist. Das erkennt er auch ganz klar.

Warum spricht Kemi, der Ich-­Erzähler, den Leser und die Leserin an einigen Stellen direkt an?

Ich als Autor versuche, Kontakt aufzunehmen. Versuche, die ­Leser aus der Illusion wieder in die Wirklichkeit zu holen, um mal nachzufragen: "Wie geht es dir gerade?" Literatur, wie ich sie verstehe, ist ein offenes System, ein Dialog zwischen den Erfindungen des Autors und den Erfahrungen der Leser. Diesen Dialog suche ich bewusst mit Jugendlichen, weil ich sie bei dem brisanten Thema auch bewusst involvieren will. Nicht nur die Figuren sollen auf einer ausgedachten Bühne meiner Vorstellung agieren. Apropos Bühne. Es gibt auch schon ein Theaterstück auf der Grundlage meines Buches. Es wird im September am Theater Magdeburg uraufgeführt: Für Jugendliche ab zwölf und Erwachsene.

Kemi und Jörg in ihrer Ferienlager­hütte träumen nachts vom selben Wolf. Warum haben Sie Angst und ­Bedrohung in dieses Bild gesetzt?

Der Wolf ist eine ästhetische Entscheidung, eine von mir gern genommene Komponente von etwas Unwahrscheinlichem, Fantastischem, gelegt in das ­realistische Setting: Die Welt ist nicht ­fugenlos. Ich spiele in allen meinen Büchern damit. In "Herkunft" gibt es eine Unterwelt mit Drachen, in "Vor dem Fest" taucht der Teufel auf, im "Fallensteller" ein mythischer Fallensteller.

Und wofür steht der Wolf?

Er ist die archaische Verbild­lichung der Ängste, aber auch des Schutzbedürfnisses und ­später ­sogar der wieder­gewonnenen Stärke, als Jörg sich einmal durchsetzen kann. Wenn Kemi und Jörg ein Hoch haben, ist der Wolf ­ruhig, wenn Kemi Angst hat, wirkt der Wolf bedrohlich. Er spiegelt die ­Ereignisse des ­Tages. Das, was man auch als ­Leser ­ver­arbeiten muss. In unseren Träumen spiegelt sich unser emo­tionales Leben ja auch in Bildern.

Anfangs wirkt der Wolf ganz real.

Die Bedrohung sollte real sein – Wölfe in Brandenburg sind es ja auch. Obwohl für den Menschen nicht wirklich bedrohlich, aber die Angst bleibt. Wenn also ein Wolf plötzlich in einem Ferienlager auftaucht, ist das fast wahrscheinlicher, als dass zwei Menschen in einem Haus genau denselben Traum haben.

Wie reagieren Kinder auf den Wolf als ­Metapher?

Meine Probeleser haben den Wolf für sich klar als Traum identifiziert und sich nicht groß Gedanken darüber gemacht, für was er steht. Das fand ich gut. Wenn das Buch in der Schule gelesen wird, hoffe ich, dass es Kinder und Jugendliche anregt, eigene Bilder für ihr soziales Leben und ihre Ängste zu finden.

Was kann das helfen?

Ein vertrauensvolles Klima in einer Gemeinschaft ist eines, in dem alle Mitglieder über ihre Gefühle offen sprechen dürfen, sofern sie es wollen. Dass das aber gerade in der Gemeinschaft mit all den verschiedenen Interessen schwerfällt, ist kein Geheimnis. Gemobbte bekommen diese Gelegenheit nicht – und ziehen sich zurück ins Schweigen. Bilder und Geschichten dafür zu finden, ein Erzähl­klima für Emotionen zu schaffen, das kann der leichtere Weg sein, darüber zu sprechen, was man will und was man nicht will, was einem guttut und was nicht. Und wer für wen ein Wolf ist.

In Ihrem Buch sind Jörg und Kemi ziemlich kreativ. Jörg zeichnet sehr gut und Kemi ist ein Wortspieler, witzig, schlagfertig. Ist das eine Waffe oder ein Versteck?

Beides, wie es für mich in ­meiner Schulzeit auch war. Kemi braucht Abgrenzung, und die schafft er sich durch seine rhetorischen Fähig­keiten. Aber er will ja eigent­lich auch gesehen werden. Er ­möchte zum Beispiel, dass Benisha, ein Mädchen, ihn wahrnimmt. Unter seiner Sprach­maske würde er gern dazu­gehören. Er sagt auch mal: Ich wäre gern mehr wie die anderen. Aber er liest sehr gerne und beschäftigt sich doch tatsächlich mit der Börse. Er weiß ganz genau, wie er sich unberührbar macht. Es ist ein Handel: Ich gebe etwas Sozial­leben auf, dafür habe ich mehr Ruhe.

Und die Leserin freut sich über Kemis Sprachgewandtheit.

Das Buch behandelt ein schwieriges Thema nicht allzu schwer – das ist meine Hoffnung. Nur manchmal soll einem das Lachen im Hals stecken bleiben.

Warum dauert es so lange, bis Kemi und Jörg sich ein wenig solidarisieren?

Sie müssen erst mal zueinanderfinden, und es sind ja auch nur fünf Tage, die sie mit­einander verbringen. Etwa nach der Hälfte der Zeit ergreift Kemi die Initiative. Als er hört, dass Marko, der Mobber, Jörg beim Klettern im Wald sichern soll, spürt er, dass das ­wirklich gefährlich werden kann. Das setzt ihn in ­Bewegung. Er läuft durch den Wald und stellt sich unter den Kletterbaum neben Marko. Dem passt das gar nicht, aber er muss mit beiden Händen sichern, und Kemi quatscht einfach drauflos. Später hat Marko ihn dafür kurz auf dem Kieker. Mut kostet eben auch etwas.

Helden gibt es nicht in Ihrem Buch . . .

Es wäre doch total unrealistisch, wenn ich ­eine Geschichte erzählt hätte, bei der alle ­Kinder richtig handeln, es den Mutigen ­gäbe, die Betreuer alle toll wären und alles gut ­aufgelöst würde. In Wirklichkeit dauert die Arbeit an Mobbingfällen Monate, und die ganze Schule muss daran beteiligt sein. In meiner Geschichte ist es so, dass Jörg es schon gewohnt ist, nicht aufzubegehren, er wehrt sich nicht. Und Kemi hat Angst, weil er weiß, dass er selbst zum Opfer werden könnte.

Hätten nicht wenigstens die Betreuer in Ihrer Geschichte eine gute Rolle spielen können?

Wenn man eine Gruppe und die festgefahrenen Aggressionen und Rollen nicht kennt, ist es sehr schwierig, klug und effektiv zu handeln. Die Betreuer sind hier aber auch ziemlich mit sich selbst beschäftigt. Es gibt nur zwei Erwachsene, die zumindest temporär hilfreich sind. Sonst wäre der Text auch zu eindimensional, wenn alle vor allem naiv reagieren würden.

Eine Sportlehrerin und der wunderbare Koch.

Saša Stanišić und Regina Kehn (Illustr.): Wolf. Carlsen Verlag. 192 Seiten, 14 Euro, ab 11 Jahren

Ja. In der Schule schafft es die ehemalige Zirkus­akrobatin wenigstens für die Dauer ihres Unterrichts, Respekt einzufordern und die Angriffe auf Jörg damit zu verhindern. Pädagogisch fragwürdig, wie sie das tut, aber es funktioniert. Der Koch im Ferienlager hört Kemi zu und fragt bei Jörg nach – das macht keiner von den Betreuern; die interessieren sich nicht wirklich für Jörg. Ich erinnere mich, wie wichtig es für das Mobbingopfer in meiner Schule damals war, dass ihm endlich jemand richtig zuhörte. Der Koch bedroht die Täter nicht, verharmlost aber auch die Taten nicht. Er wird damit zu einer Vertrauens­person. Und bringt schließlich auch die Betreuer dazu, sich etwas zu überlegen. Kein Happy End, in der Schule wird das Mobbing weitergehen, aber temporäre Erleichterung.

Warum liest Kemi im Ferienlager "Tschick" von Wolfgang Herrndorf?

In gewisser Weise habe ich Kemi und Jörg in ähnlichem Außenseitertum gesehen, als ungleiche Freunde – auch wenn Maik Klingen­berg und Andrej Tschichatschow viel älter sind. Es ist eine Referenz und auch Werbung für ein extrem gelungenes Buch. Maik und Tschick fliehen ja, und als sie zurück­kommen, sind sie Helden, weil sie eine coole Reise unter­nommen haben. Herrndorf geht also anders mit dem Anderssein um – und jedes Anders­sein ist anders. Meine beiden Jungs sind ­keine coolen Helden. Aber wie die beiden in "Tschick" freunden sie sich in der Krise an. Und Freundschaft bleibt einfach das größte Glück.

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