Dmitry Glukhovsky über Russland und Putins Propaganda
"Ich kann nicht mehr nach Russland zurück"
Er kritisierte den Krieg gegen die Ukraine und lebt nun im Ausland. Der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky über Heimat, Propaganda – und die Rolle des Westens
Portraitfoto von Dmitry Glukhovsky
Dmitry Glukhovsky
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Tim Wegner
15.11.2022
8Min

chrismon: Herr Glukhovsky, wann waren Sie das letzte Mal in Russland?

Dmitry Glukhovsky: Ich habe 2021 Weihnachten noch mit meiner Familie in Moskau gefeiert. Im Januar 2022 bin ich aus Russland ausgereist und wollte im März zurück­kehren. Daraus wurde dann nichts mehr. Im Februar hat der russische Krieg gegen die Ukraine begonnen.

Wie haben Sie reagiert, als Sie davon gehört haben?

Mir war sofort klar, dass es diesmal wirklich ernst ist. Ich musste etwa eine halbe Minute überlegen, um zu entscheiden, mich öffentlich über die sozialen Medien gegen den Krieg auszusprechen.

Was ging Ihnen in diesen 30 Sekunden durch den Kopf?

Dass ich nicht mehr in meine Heimat zurückkehren kann, wenn ich den Krieg kritisiere. Dann hatte ich meine Freunde in der Ukraine vor Augen und dachte: Ich darf dazu nicht schweigen. Es gibt Momente, da kann man vor der Ungerechtigkeit kapitulieren, ohne das eigene ­Gewissen zu belasten. Aber in so einer Situation war ich nicht. Ich fühlte mich an meinem Aufenthaltsort sicher. Das hat es letztlich leichter gemacht.

Haben Ihre Familie und Freunde in Russland Probleme, weil Sie nicht geschwiegen haben?

Es ist ziemlich ominös. Niemand ist im Gefängnis, aber sie werden von den Behörden bedrängt. Meine Familie wurde mehrfach vorgeladen und verhört.

Und was würde Ihnen persönlich widerfahren, wenn Sie nun nach Russland zurückkehren würden?

Mein Anwalt in Moskau hat mir meine Fallakte zugeschickt. Darin werden Posts von mir aus sozialen Netz­werken aufgeführt, in denen ich den russischen Krieg gegen die Ukraine als solchen benenne. Dem wird eine Rede von Präsident Putin gegenübergestellt, in der er den Krieg als "militärische Spezialoperation" bezeichnet. Das scheint als Beweis für die Vorwürfe zu genügen, die mir angelastet werden: Verbreitung feindlicher Propaganda, politischer Hass gegen den Präsidenten und Diskreditierung der ­Armee. Dafür drohen mir in Russland 15 Jahre Haft sowie eine Geldstrafe von über sechs Millionen Rubel. Das entspricht etwa 100 000 Euro. Meine Moskauer Wohnung und alles, was sich darin befand, wurde konfisziert.

Wir haben uns auf der Frankfurter Buchmesse in aller Öffentlichkeit getroffen. Hatten Sie keine Angst, dass der russische Geheimdienst Sie aufspüren könnte?

Anfangs habe ich mir mehr Sorgen gemacht, weil die ­russischen Behörden meinen Haftbefehl an Interpol ­weitergegeben haben. Interpol darf aber keine politischen Verfahren verfolgen. Angst hilft in dieser Situation ohnehin nicht weiter. Man sollte natürlich vorsichtig sein und sich überlegen, wie man sich in der Öffentlichkeit bewegt. Ich glaube aber nicht, dass ich dem russischen Geheimdienst wichtig genug bin.

Viele Ihrer Science-Fiction-Bücher kann man russlandkritisch interpretieren. In "Outpost" von 2021 schreiben Sie darüber, wie Menschen in einem postapokalyptischen Russland an einem Virus erkranken, das über den Ausspruch einer Phrase übertragen wird. Analogien zur russischen Propaganda liegen auf der Hand. Haben Sie sich dafür in Russland Ärger eingehandelt?

Dafür war das Buch zu metaphorisch. Wenn es in der Gegenwart gespielt und ich Präsident Putin erwähnt hätte, wäre wohl eine Grenze überschritten gewesen. Ich ­habe nach der Veröffentlichung Morddrohungen erhalten, aber mehr ist nicht passiert. Vor dem Krieg war Russland noch nicht so autoritär. Es gab wenige Hundert politische ­Gefangene und die Regierung schreckte davor zurück, ­Oppositionelle zu töten – ganz zu schweigen von ­Künstlern. Das ist jetzt anders. Seitdem Russland im Krieg ist, ähnelt es auf sehr vielen Ebenen dem Land, das ich in "Outpost" beschreibe.

Hatten Sie eine Vorahnung?

Nein. Die erste Hälfte des Buches habe ich schon 2020 als Audiodatei veröffentlicht. Ende 2021 kam das vollständige Buch heraus. Erst danach hat "Outpost" erschreckend an Aktualität gewonnen. Im Grunde geht es in dem Werk darum, wie eine junge Generation den Preis der Alten bezahlen muss, die von Propaganda vergiftet wurden. ­ In dieser Hinsicht hat mich natürlich schon die russische Gesellschaft beeinflusst.

Wie meinen Sie das?

Wir haben schon lange einen Generationenkonflikt in Russland, der jetzt allgegenwärtig geworden ist. Viele junge Menschen haben Angst, als Nächste ­eingezogen zu werden. Sie informieren sich über das Internet, was in der Ukraine passiert. Der Zugriff auf westliche und ­ukrainische Internetseiten ist zwar eingeschränkt, aber die Bilder der russischen Gräueltaten erreichen die ­Menschen über den Messengerdienst Telegram. Die ­älteren ­Menschen müssen nicht in den Krieg ziehen. Sie informieren sich ausschließlich über das Fernsehen. Sie haben sich so sehr an die Propaganda gewöhnt, dass sie ohne nicht mehr auskommen. Sie sind wie Zombies. Sie wurden einer Gehirnwäsche unterzogen.

Gehirnwäsche, Lügen aus dem Fernseher – das erinnert an die Gleichschaltungsmethoden faschistischer Regime. Ist es in Russland so weit?

Absolut. Russland entwickelt sich gerade zu einem faschistischen Staat. Es sind sowjetische Manipulationstaktiken, die im russischen Fernsehen zum Einsatz kommen, aber das Ziel ist dasselbe wie damals bei der NS-Propaganda. Die Menschen sollen sich selbst aufgeben, um Teil einer einheitlichen Masse zu werden. Sie sollen den Westen hassen und nur noch Wladimir Putin folgen. In diesem Russland ist kein Platz mehr für jene, die nicht klein ­beigeben. Mindestens 17 000 Russen wurden seit Kriegsbeginn verhaftet. Ein großer Teil der Bevölkerung ist geflohen oder versteckt sich. Putin hat damit Russlands Zukunft ­zunichtegemacht. Selbst wenn Putins Regime stürzt, wird der Hass in den Köpfen vieler Menschen fortbestehen. Es wird lange dauern, diesen Schaden zu heilen.

Sie sprachen von einem Generationenkonflikt: Haben Familien die Kraft, diesen Konflikt zu überwinden?

In vielen Fällen nicht. Viele Menschen sind emotional stark an die Narrative des Kremls gebunden. Sie müssten einsehen, dass sie all die Jahre eine Regierung unterstützt haben, die nun Menschen grundlos ermordet. Menschen, die genauso aussehen wie wir Russen und die dieselben Traditionen haben. Das kann sehr verstörend sein. Die Putin-Anhänger geben dem Westen die Schuld, der das alles vermeintlich orchestriert habe. Oder den Ukrainern, weil sie sich nicht ergeben wollen. Viele versuchen auch, normal weiterzuleben, als sei nichts geschehen. Das sind Bewältigungsstrategien, um sich weder verantwortlich noch schlecht oder feige fühlen zu müssen.

Und um diese Illusionen aufrechtzuerhalten, braucht es das Fernsehen . . .
Ja, das Fernsehen ist zentral für Putins Macht in Russland. Der Sitz des ersten russischen Senders in Moskau wird wie eine Festung beschützt. Dort stehen Wachen mit Maschinenpistolen. Und vor dem Sender reihen sich die Busse der Bereitschaftspolizei. Ich nenne diesen Ort die "Zitadelle der Lügen". Vergleichen Sie das mal mit dem das ZDF-Studio in Berlin. Dort kann man einfach so hereinspazieren.
Glaubt Putin seine eigenen Lügen?

Er glaubt sicher nicht, dass die Ukraine von Nazis unterwandert wurde. Er ist auch kein Psychopath, wie er in Deutschland manchmal dargestellt wird – was ihn aber nicht weniger gefährlich macht. Er hat sich in den Kopf gesetzt, seinen Namen in die Geschichtsbücher zu schreiben. Er will um jeden Preis gewinnen. Und er kämpft mittlerweile um sein Überleben – nicht nur politisch. Trotzdem ist er in gewisser Weise ein Opfer seiner eigenen Propa­ganda. Denn er hat nur zwei Quellen: den Geheimdienst und seinen inneren Zirkel. Alle Menschen, die Kontakt zu ihm haben, stehen unter großem Druck und wissen, welche Informationen Putin haben will und welche sie in Schwierigkeiten bringen würden. Er ist schon sehr lange von Menschen umgeben, die nur noch Ja sagen. Ich glaube, das hat seine Persönlichkeit zerstört. Ich sehe darin auch eine Lektion für die Welt: Politische Systeme, in denen die Regierung nicht regelmäßig wechselt, entwickeln sich unweigerlich zu Diktaturen mit einer aggressiven Außenpolitik. Unbegrenzte Macht richtet Menschen zugrunde.

Manche Politikwissenschaftler sagen, der Westen habe nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Chancen vertan, Russland als ebenbürtigen Partner in die Weltpolitik einzubinden. Kann man den jetzigen Konflikt auch als ein Versagen der westlichen Diplomatie betrachten?

Vielleicht hätte der Westen weiser sein können, als Boris Jelzin Präsident war. Damals war in Russland ja alles ­kaputt. Man hätte die Gunst der Stunde nutzen können, um eine Art Marshallplan auszuarbeiten – nach dem ­Prinzip: Geld gegen Reformen. Zu diesem Zeitpunkt wäre vielleicht auch die Gesellschaft am ehesten bereit ­gewesen, den Wandel mitzutragen. Trotzdem hatte der Westen nie eine politische Verantwortung für Russland. Das war bei Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg anders. Die Nazis kapitulierten, Deutschland wurde besetzt und die Zukunft des Landes lag in den Händen der Alliierten. Russ­land wollte aber nie Teil des Westens sein. Es gab keine Bitten nach mehr Integration. Im Gegenteil: Es gab immer die Stimmen der Revanchisten und Nationalisten, die Russland wieder in alter Stärke sehen wollten, um dem Westen die Stirn bieten zu können.

Putin hat lange beklagt, er fühle sich von Nato-Staaten eingekreist und bedroht. Haben wir ihn nicht ernst genug genommen?

Ich glaube nicht, dass er Angst vor der Nato hatte. Er hat eher die Demokratie als solche als Bedrohung empfunden und befürchtet, dass die Russen irgendwann so unzu­frieden mit ihrem politischen System werden, dass Russland auseinanderfällt. Um das zu verhindern, hat er einen äußeren Feind benötigt. Wer hat denn mit den Drohungen angefangen? Putin hat so lange provoziert, bis eingetreten ist, was er immer verhindern wollte. Niemand im Westen hat darüber gesprochen, der Ukraine tödliche Waffen zu liefern, bis Putin als Aggressor aufgetreten ist. Er hat das Land damit in die Arme der Nato getrieben. Genauso wie Finnland und Schweden, die bis zum Kriegsbeginn überhaupt nicht Nato-Mitglied sein wollten. Und auch jetzt macht er noch gravierende Fehler. Er erklärt ukrainisches Territorium zu russischem Gebiet, obwohl er es nicht ­halten kann. Damit schafft er Präzedenzfälle für alle anderen russischen Regionen, die dann auch ­sagen könnten: "Wenn der Donbass nicht mehr russisch ist, wollen wir es auch nicht sein."

Was aus Ihrer Heimat vermissen Sie am meisten?

Abgesehen von meiner Familie und Freunden meinen Sie? Ich vermisse meine Moskauer Wohnung. Ich habe sie von meiner Großmutter geerbt. Sie war eingerichtet mit Möbeln, die wir seit fünf Generationen in Familienbesitz hatten und die einen großen emotionalen Wert für mich haben. Zum Beispiel gab es da einen mannshohen ­Spiegel, der mir mal für ein Buch als Vorlage diente. In dem Buch konnte der Protagonist über diesen Spiegel mit sich selbst in der Vergangenheit kommunizieren. Diesen Spiegel ­würde ich sehr gern bei mir haben.

Interview

Dmitry Glukhovsky, in Russland geboren und aufgewachsen, ist Schriftsteller. Mit seinem dystopischen Bestseller "Metro 2033" erlangte er inter­nationale Bekanntheit. Neben Russisch spricht er fünf weitere Sprachen, darunter Deutsch, Englisch und Hebräisch.

Meine ­Familie ­wurde mehrfach vorgeladen und verhört

Putin will seinen ­Namen in die Geschichtsbücher schreiben. Er will um jeden Preis ­gewinnen

INTERVIEW

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