Rania Matar
Wolfram Gössling im April 2013. Nach der Diagnose folgte eine Chemotherapie, im Mai 2013 die erste von vielen Operationen.
chrismon: Sie sind zweimal an einem extrem gefährlichen Tumor in der Gesichtshaut erkrankt. Vor der Strahlentherapie sagte Ihr behandelnder Arzt, mit dem Sie auch befreundet sind: "Die Behandlung wird hart, ich bringe dich an den Rand des Abgrunds, lasse dich dort baumeln, dann hole ich dich zurück und bringe dich in Sicherheit." Würden Sie das auch zu einem Ihrer Patienten sagen?
Wolfram Gössling: Das ist in der Tat ein hartes Bild. Ich selbst würde das nicht sagen, weil es Patienten unter Umständen Panik macht. Mir hat das Bild aber geholfen, es gab mir das Gefühl, dass mein Arzt hinter mir steht mit allem, was er kann. Ich habe ihm komplett vertraut.
Sie sind Onkologe und wurden vor zehn Jahren selbst Patient. Sprechen Sie jetzt anders mit Ihren Patienten als früher?
Ich bin direkter, rede mehr auf Augenhöhe mit ihnen. Meist gehe ich offen damit um, dass ich selbst Krebspatient war, das schafft Nähe. Wenn ich jemandem eine Chemotherapie erkläre, sage ich: "Ich weiß, das wird anstrengend. Ich kenne das Kribbeln in den Fingern, weil ich es selbst durchgemacht habe. Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man zerschlagen im Bett liegt und nicht aufstehen will. Aber ich weiß, dass es sich lohnt, weil wir alles tun wollen, um Sie am Leben zu erhalten."
Wünschen sich Patienten nicht einen Arzt, der Stärke vermittelt, Gesundheit ausstrahlt?
Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber ich möchte authentisch sein, mich nicht verbiegen. Warum soll ich als Arzt nicht auch Schwächen haben? Wenn ich einer Patientin von meinen Erfahrungen erzähle, hat sie eine realistischere Einschätzung, was sie in einer Therapie erwartet. Sie weiß, da ist jemand, der sie wirklich verstehen kann.
Patienten stehen oft neben sich, wenn ihr Arzt sie über kritische Diagnosen, Befunde und die geplanten Behandlungen informiert, sie sind in einer psychischen Ausnahmesituation. Was raten Sie ihnen?
Ich ermuntere sie, jemanden mitzunehmen, das kann ein Familienmitglied oder eine Freundin sein. Auch bei den Behandlungen ist es sehr erleichternd, wenn jemand Vertrautes dabei ist. Ich selbst war froh, wenn mich meine Frau, einer meiner Kollegen oder auch mal eines meiner Kinder zur Chemotherapie begleitet hat.
Krebs ist für manche Menschen immer noch mit einem Stigma verbunden, sie sprechen darüber nur unter vorgehaltener Hand. Was raten Sie Ihren Patienten, wie offen sollen sie mit ihrer Krankheit umgehen?
Ich ermutige sie, sich anzuvertrauen. Einige Patienten, die es gewohnt sind, alles mit sich allein auszumachen, teilen ihre Gefühle und Erfahrungen nicht einmal mit ihren Partnern und Kindern, mit den Arbeitskollegen schon gar nicht. Sie bleiben dann mit ihrer Krankheit allein. Ich halte das für den falschen Weg, aber jeder muss diese Entscheidung, sich zu öffnen, selber treffen. Wenn eine Freundin vorbeikommt und eine selbst gemachte Lasagne vorbeibringt, zeigt das Verbundenheit und Nähe. Ich habe selbst erlebt, wie gut das tut. Man muss ja nicht über Leben und Tod reden, man kann auch über Rezepte oder über das Wetter sprechen. Je mehr Hilfe man hat, je mehr man aufgefangen wird, desto besser.
Dr. med. Wolfram Gössling
Die Krankheit, schreiben Sie, geht oft mit einem Verlust von Selbstwertgefühl einher, weil Patienten weniger leistungsfähig sind, oft nicht mehr arbeiten können, sich zu Hause nur begrenzt um ihre Kinder kümmern. Können Sie Ihre Patienten trotzdem ein Stück weit aufbauen?
Ich versuche es. Ich kann mich erinnern, dass manche Ärzte mit mir so gesprochen haben, als wäre meine Karriere unwiederbringlich vorbei – mein Beruf, das war Vergangenheit. Ich fand das total deprimierend, weil das so perspektivlos klang. Allen Prognosen zum Trotz – die Wahrscheinlichkeit, dass ich überlebe, lag bei vier Prozent – kann ich heute wieder praktizieren. Diese Erfahrung, dass einige Ärzte mich quasi schon abgeschrieben hatten, hat sich bei mir eingebrannt. Wenn ich heute mit meinen Patienten rede, formuliere ich es so, dass sie das, was ihnen wichtig ist, unter Umständen fortsetzen können. Gerade jüngeren Patienten, die noch voll im Beruf stehen, kleine Kinder haben, versuche ich Mut zu machen. Der Beruf ist Teil ihrer Identität, sichert ihre Existenz. Bei den Älteren spreche ich zum Beispiel über ihre Großmutter- oder Großvaterrolle, wenn ihnen das etwas bedeutet. Patienten sind nicht in erster Linie Träger von Krankheiten, sondern Menschen, die ihr Leben leben wollen.
Sie schreiben, dass für Krebspatienten der Kontrollverlust besonders schlimm ist. Sie haben das Gefühl, ihrem Schicksal ausgeliefert zu sein. Ist es möglich, Patienten dieses Gefühl zu nehmen?
In gewissem Maße schon. Ich sage ihnen, dass ich als Arzt die Kontrolle übernehmen muss, was die Therapie angeht. Ich sage aber auch, dass es Bereiche gibt, in denen sie einen Handlungsspielraum haben: zum Beispiel, was sie essen, wie viel Sport sie machen, wenn das möglich ist. Hier können Patienten durchaus Einfluss auf ihre Lebensqualität nehmen, darauf hören, was ihnen guttut. Der Patient ist nicht Objekt, sondern Partner der Behandlung.
Was antworten Sie, wenn eine Patientin fragt: Warum gerade ich?
Ich sage ihr, dass die Krankheit total ungerecht und unverschuldet ist und diese Frage zu nichts führt. Ich selbst habe auch nicht nach dem Warum gefragt, sondern meine Energien lieber darauf verwendet, nach vorn zu schauen. Sicher gibt es bestimmte Faktoren, die das Risiko erhöhen, krank zu werden – Rauchen, Alkohol, Übergewicht, zu wenig Bewegung. Wenn ich das aber als Arzt einer Patientin sage, quasi ein Urteil über sie fälle, fühlt sie sich unter Umständen auch noch schuldig. Sie hat schon genug mit ihrer Krankheit zu tun, Patient sein ist ein 24-Stunden-Job.
Für Patienten kann jedes Wort, das der Arzt sagt, jedes Lächeln, jedes Hochziehen der Augenbraue eine Bedeutung haben. Wägen Sie Ihre Worte jetzt vorsichtiger ab als vor Ihrer Erkrankung?
Bestimmt. Ich passe sehr auf, dass mir nicht ein unbedachter Halbsatz rausrutscht, der eine Patientin deprimieren könnte. Kein Gespräch darf routinemäßig abgehakt werden. Der Austausch ist für mich der Kern meiner ärztlichen Arbeit, nicht, Rezepte zu schreiben oder eine Chemotherapie zu verordnen.
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Meinen Sie, dass die Art der Kommunikation zwischen Arzt und Patient Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat?
Ich bin überzeugt davon, auch wenn man das natürlich nicht messen kann. Es kann ja schon helfen, wenn sich ein Patient an die Arztworte erinnert, dreimal am Tag zu essen und einmal einen Spaziergang zu machen.
Mitunter gibt es im Gespräch sehr heikle Momente. Was antworten Sie zum Beispiel einer Patientin, die fragt: Wie viel Zeit habe ich noch?
Meist sage ich, dass ich es nicht weiß. Bei Patienten, die therapierbar sind, kann ich ja nicht vorhersehen, wie sie auf die nächste Behandlung reagieren. Wenn sie nicht ansprechen, bleiben ihnen womöglich zwei Monate, wenn sie ansprechen, zwei Jahre. Zudem hat sich die Krebsmedizin in den letzten Jahren radikal verändert, vor allem durch die Immuntherapie und die Erbgutanalyse. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie sehr mir bei meiner zweiten Erkrankung die Immuntherapie geholfen hat. Rein statistisch war es höchst unwahrscheinlich, dass ich überlebe, heute bin ich gesund. Deshalb vermittele ich meinen Patienten, dass die Statistik nur ein Durchschnittswert ist und sie unter Umständen, wenn sie Glück haben und die Therapie anschlägt, länger leben können. Wir Ärzte brauchen Statistiken, um unsere Behandlungsschemata einzuhalten, aber wie die einzelne Patientin reagiert, wissen wir nicht. Kaum jemand ist Durchschnitt.
Was sagen Sie einer Patientin, bei der der Krebs so weit fortgeschritten ist, dass der Tod absehbar ist?
Ich bin ehrlich, sage ihr, dass wir keine Therapie mehr anbieten können. Aber auch hier gebe ich keine Prognose ab, sage ihr nicht, dass sie noch zwei Wochen zu leben hat. Ich spreche mit ihr über ihre Wünsche, wie sie ihr Lebensende gestalten möchte, etwa im Hospiz.
Sind diese Gespräche belastend für Sie?
Ja. Manche Patienten kommen mit der Hoffnung oder auch Erwartung, dass ich ihr Leben retten kann. In einigen Fällen ist das nicht mehr möglich. Das bedrückt mich, auch über unser Gespräch hinaus. Ich möchte helfen, aber kann es nicht.
Würden Sie sagen, dass Ihre Krankheit Sie zu einem besseren Onkologen gemacht hat?
Nicht besser, aber anders. Ich bin jetzt empathischer, kann mich mehr in meine Patienten hineinversetzen. Ich weiß, was es heißt, verwundbar zu sein.
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