Auf der Suche nach der Stille

Schrei doch nicht so!
Unsere Autorin ist auf der Suche nach Stille - in Yogaräumen, Zendos und Kirchen

Dowell/Getty Images

Unsere Autorin ist auf der Suche nach Stille - in Yogaräumen, Zendos und Kirchen

Unsere Autorin ist auf der Suche nach Stille - in Yogaräumen, Zendos und Kirchen

Genervt vom Lärm der Welt macht sich unsere Autorin Ursula Ott auf die Suche nach Orten, wo sie zur Ruhe kommen kann. Sie besucht Kirchen, Fitnessstudios, Yogaräume. Und stellt fest: Der Weg in die Stille ist kein einfacher

Hilfe, ist das laut. Ich liege auf dem Zahnarztstuhl, und nein, es ist nicht der Bohrer, der mich nervt. Es ist die Zahn­hygienikerin, die im Raum nebenan ­ihrem Patienten erklärt, wie er die ­Zähne putzen soll. Deutsch ist nicht seine Muttersprache. Aber muss sie ihn deshalb anschreien? Warum fällt mir das heute so auf? Warum nervt mich neuerdings die Baustelle mit dem Presslufthammer auf meinem Weg zur ­Arbeit? Und haben die Autofahrer immer schon so idiotisch gehupt, wenn sie gemerkt haben, dass ihnen jemand den einzigen freien Parkplatz wegnehmen will? Das klappt doch mit Hupe auch nicht besser . . .

Mich stört, was ich jahrelang gar nicht wahrgenommen habe – der Lärm der Welt. Vielleicht ist sie auch lauter geworden, die Welt, das lässt sich schwer sagen. Wissenschaftlich belegt ist immerhin, dass mein Wohnort Frankfurt am Main die zweitlauteste Stadt in Deutschland ist, ansonsten ist die Studienlage unklar. Jedenfalls sind viele Menschen so wie ich lärmempfindlicher geworden. Meine Krankenkasse bietet jetzt Kurse in Achtsamkeit an. In der Innenstadt hat eine Art Pop-up-Meditationszentrum aufgemacht, wo man ohne Voranmeldung "innere Stille lernen" kann. Und selbst in der Werbung vom Baumarkt meditiert eine junge Frau mit Tattoo und Haarknoten, während ihr Freund in grasgrüner Farbe um ihren Lotussitz herumpinselt.

Ich selber bin, so lange ich mich selber kenne, eher laut. Ich fürchte, ich nerve Menschen in meiner Umgebung bisweilen ebenso, wie ich jetzt von der Zahnarzthelferin genervt war. Unvergessen der Großraumwagen, in dem mir ein Mitpassagier sagte: "Ihre gute Laune ist mir zu laut!" Ich bin diejenige, die man im Restaurant nicht am Nachbartisch haben will. Ich lache laut, ich spreche laut.

Aber mir dröhnt auch, seit ich denken kann, der Kopf – und gegen meine Migräne, sagen die Ärzte, könnte langfristig die Stille helfen, die man zum Beispiel in einem Kurs für MBSR lernen kann, Mindful Based Stress Reduction. Eine Methode, die ihren Ursprung im Buddhismus hat, aber vom US-Amerikaner Jon Kabat-Zinn vor 30 Jahren verweltlicht wurde. Dann trat sie einen beispiellosen Siegeszug in den USA und Europa an – bis hin zu meiner Krankenkasse. Nicht nur bei Stress und chronischen Schmerzen, sogar bei Panik­attacken und Depressionen soll das Achtsamkeitstraining genauso gut wirken wie Antidepressiva, wies gerade ein Team um die Psychiaterin Elizabeth Hoge von der George­town University nach.

Ursula Ott

Ursula Ott ist Chefredakteurin von chrismon und der digitalen Kommunikation im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH. Sie studierte Diplom-Journalistik in München und Paris und besuchte die Deutsche Journalistenschule in München. Sie arbeitete als Gerichtsreporterin bei der "Frankfurter Rundschau", als Redakteurin bei "Emma", als Autorin und Kolumnistin bei der "Woche", bei der "Brigitte" und bei "Sonntag aktuell" sowie als freie Autorin für Radio und Fernsehen. 2020 und 2021 wurde sie unter die 10 besten Chefredakteur*innen des Jahres gewählt. 2019 schrieb sie den Bestseller "Das Haus meiner Eltern hat viele Räume. Vom Loslassen, Ausräumen und Bewahren".
Foto: Lena UphoffUrsula Ott, chrismon Chefredakteurin

Mein MBSR-Kurs findet in Bayern statt. Jede Stunde eine andere Übung, eingeläutet mit einer Klangschale. Mir gefällt am besten der "Body Scan": Wir liegen still auf der Matte, wandern mit unserer Wahrnehmung durch den Körper, vom linken großen Zeh bis zum rechten Ohr. Dabei schweifen die Gedanken ständig ab. Beim rechten großen Zeh fällt mir ein, dass ich einen Geburtstag vergessen habe, bei der linken Schulter bin ich längst ausge­stiegen. Aber ich bin sicher, das wird besser, wenn man – das versprechen wir uns in diesem Kurs – täglich trainiert.

Manches finde ich eher stressig. Ich werde von einer anderen Person schweigend und mit verbundenen Augen durch den Garten geführt, schrecklich. Geführt werden, das lag mir schon als Teenie im Tanzkurs nicht. Auch die Einheit "achtsam essen" dient nicht der Entspannung. ­ Wir sollen uns schweigend und dankbar darauf konzentrieren, wer das Getreide geerntet, die Semmeln gebacken und das Frühstück bereitet hat. Die Idee gefällt mir. Es ist Oktober, zwei Tage vorm Erntedankfest, von der Ecke des Speisesaals wacht Jesus vom Kreuz. Während ich mein Müsli löffle – danke, Bäuerin! Danke, Müller! Danke, ­Fabrikarbeiterin, die die Haferflocken in Tüten gefüllt hat! – liest die Kursleiterin Weisheiten von Thich Nhat Hanh vor.

Später, als wir wieder sprechen dürfen, frage ich, ob sie nicht auch mal einen schönen Bibeltext lesen könnte, so kurz vor Erntedank. Mir schwebt Psalm 65 vor, nur so als Beispiel, "die Auen stehen dick mit Korn", da könnten wir uns inmitten der Getreidefelder auch gut bedanken und entspannen. Kommt nicht gut an.

Kritik, das wird mir noch öfter begegnen, ist ein seltener Gast in Meditationskreisen. MBSR sei eine weltliche Methode, Religion habe hier nichts zu suchen, erklärt die Trainerin sichtlich angenervt. Dabei war Thich Nhat Hanh ein buddhistischer Mönch, gehörte also auch einer Religion an. Später in der Abschiedsrunde spiegeln mir die anderen Teilnehmerinnen, dass ich alles viel zu sehr mit dem Kopf reflektiere. Stimmt schon, aber abschalten kann ich ihn auch nicht, mein Weg soll in die Entspannung führen, nicht in die Verblödung.

"Meditieren heißt, still und unbewegt dazusitzen"

Immerhin: Der Kurs ist mein Einstieg in die Medi­tation. Was ist das überhaupt, Meditation? Der fran­zösische Schriftsteller Emmanuel Carrère bietet in seinem Roman "Yoga" gleich sieben Definitionen an, die beiden simpelsten sind: "Meditieren heißt, still und unbewegt dazusitzen." Und: "Meditation heißt, einen Zeugen in sich hervorzubringen, der den Gedankenstrudel beobachtet, ohne sich davon mitreißen zu lassen." Das scheint mir die große Kunst. Sich nicht mitreißen lassen. Das kann man üben. Und mit der Übung passiert tatsächlich eine Art Umbau im Hirn.

Eine Vielzahl von Studien zeigte: ­Während gestresste Menschen eine enge Verbindung ­haben zwischen der Amygdala und den Hirnregionen, die für Angst zuständig sind, wird diese Verbindung beim Meditieren lockerer. Und: Durch die Meditation gibt es weniger Aktivität in den Hirnregionen, die Schmerz bewerten. Das wäre für mich ja schon ein großer Fortschritt. Wenn die Migräne schon nicht besser wird – vielleicht macht sie mich künftig nicht mehr so fertig?

Die MBSR-Trainerin rät: Sucht euch zum täglichen Üben auf Youtube ein Video, bei dem euch die ­Stimme zusagt. Meine Wahl fällt auf einen Österreicher, ich liebe Wien, dort habe ich geheiratet und viele glückliche ­Stunden verbracht. Spätestens wenn die gemütliche, gemächliche Wiener Männerstimme nach 28 Minuten Reise durch Beine, Arme, Rücken und Schultern sagt: "Wenn du an den Ohren angekommen bist, dann sage dir: Geräusche san nur Geräusche" (eigentlich sagt er: Geroische) – bin ich tiefenentspannt. Später schickt mir meine Schwester eine schwäbische Version des Body Scans. Auch diese vertraute Sprachmelodie höre ich gern, und mir gefällt ihr Satz "Es gibt nichts zu tun und nichts zu erreichen." ­Interessant, denke ich, wie die unterschiedlichen Nationalitäten das MBSR interpretieren. Oh je, da ist er schon wieder, der Gedankenstrudel.

"Toxische Achtsamkeit" heißt ein Vorwurf gegen den neuen Trend

Ich telefoniere mit etlichen Achtsamkeitstrainerinnen. Unglaublich, wie gefragt die sind. Die eine kann freitags – da hätte ich am ehesten Zeit – gar nicht, weil sie da Wochenendworkshops für Firmen gibt. MBSR ist ein Markt geworden, es gibt weit über 1000 ausgebildete MBSR-Trainer*innen. Immer mehr Firmen bieten Kurse an, um im harten Wettbewerb junge Köpfe an sich zu binden. Oder um sie weiter zu optimieren? "Toxische Achtsamkeit" heißt ein Vorwurf gegen den neuen Trend. Eine andere Trainerin will 80 Euro für die Einzelstunde. Puh. Ich suche doch nur einen Ort, an den ich spontan oder regelmäßig gehen und zur Ruhe kommen kann. Für einen angemessenen Preis.

Da hört mein Mann im Fitnessstudio die Durchsage: "Denk nicht nur an deinen Body, denk auch an deinen Mind: Unser neues Angebot – My Meditation." Ein neues Kursangebot, Sonntagabend um 19 Uhr. Ich muss mich aufraffen, Sonntag um 19 Uhr liege ich gern in der Jogginghose vor dem "Weltspiegel". Jetzt also auf in das Studio, eine ehemalige Tennishalle in einem Gewerbegebiet zwischen ­Reifenhändler und BMW. Der Kurs findet direkt nach Yoga statt, in der gro­ßen Turnhalle liegen deshalb schon über 40 Leute Matte an Matte, als wir kommen. Es riecht, wie es Sonntagabend nach vielen Kursstunden riecht in einem Fitnessstudio. Zwei Drittel Frauen, viele Yogaprofis mit eigener Matte, geblümter Decke, zartlila Wollstulpen über den Handgelenken.

"Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren"

Unser Meditationslehrer heißt Nikos, er hat Mühe, den Lärm des Luftreinigungsgeräts zu übertönen, das uns vor Corona schützen soll. Ich verstehe fast nichts und außerdem irritiert mich seine Playlist: Statt einer Klangschale, die Anfang und Ende einer Meditation markieren soll, dudelt eine Art Endlosklangschale aus der USB-Box. Doing, doing, doing. Zwischen dem Geklimper erzählt Nikos, soweit ich das verstehen kann, etwas von Schweben und von Ruhe. Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren. Höre den Luftreiniger. Die Medizinbälle im Fitnessraum nebenan. Versuche mir meinen Ösi-Lehrer ins Gedächtnis zu ­rufen. Geroische sind nur Geroische. Aber hier sind zu viele ­Geroische für mich. Mein Mann, vorher eher skeptisch, ist begeistert und steigt um 20 Uhr entspannt ins Auto. Ich bin enttäuscht. Künftig lieber wieder "Weltspiegel" und Sofa. Fitnessstudios, glaube ich, sind eher was für den Body. Mein Mind muss woanders spazieren gehen.

Vielleicht in einer evangelischen Kirche? Eine Freundin empfiehlt mir die Paul-Gerhardt-Gemeinde in Frankfurt-­Niederrad, ich telefoniere mit Pfarrerin ­Claudia Vetter-Jung, die in ihrer Zeit als Klinikseelsorgerin die ­Meditation für sich entdeckt hat: "Ich bin damit an Schlaganfall- und Demenzpatienten herangekommen, die über Worte nicht mehr ansprechbar waren." Sie bietet jetzt als Gemeindepfarrerin Donnerstagabend ein "Herzensgebet" an. Auch hier hat es Jesus eher schwer. "45 Minuten für dich selbst und für Gott" – wenn sie damit werbe, zum Beispiel im Nachbarschaftsnetzwerk "nebenan.de", sei der Zulauf bescheiden. Besser funktioniere die Aus­schreibung: "Weil es mir guttut."

Ein Stuhlkreis, in der Mitte liegt ein Tuch mit einem Kreuz aus Teelichten

Ich probiere aus, ob es mir guttut. Fahre an einem düsteren Weltuntergangsregenabend vorbei an den Bürotürmen von Frankfurt-Niederrad, einer städtebaulichen Sünde der 70er Jahre. Nie, wirklich niemals würde ich auf die Idee kommen, hier ein Wohlfühlangebot zu suchen, aber dafür ist Kirche ja da, um auch in die unwirtlichen Ecken der Stadt zu leuchten. Die Pfarrerin hatte mich gewarnt, es sei kalt in der Kirche, Anweisung des Evangelischen Regionalverbandes: Energie sparen. Außerdem müsse sie anschließend schnell weg zu einem Anschlusstermin. Das stresst mich Migränepatientin gleich mal stellvertretend für die Pfarrerin.

Als ich in dem sehr hell beleuchteten, modern renovierten Gemeindehaus ankomme, sitzen drei ältere Damen da, am Ende sind wir zu fünft, darunter ein Mann. Trotz dicker Wolldecken bleibt es wirklich kalt. Ein Stuhlkreis, in der Mitte liegt ein Tuch mit einem Kreuz aus Teelichten. Die Pfarrerin, eine große Frau mit einer imposanten graublonden Haarmähne, sagt jetzt noch mal, dass sie anschließend schnell wegmuss, ihr Blick aufs Handy begleitet uns durch die 45 Minuten.

"Den Buddhisten bin ich zu protestantisch und den Protestanten zu buddhistisch"

Der Ablauf gefällt mir gut, da ist mehr Bewegung als im Fitnessstudio. Der Abend beginnt mit einer Klangschale, einer echten. Die Pfarrerin spricht im Sitzen einen Psalm, dann stehen wir auf und schütteln und bewegen uns, langsam tauen die Zehen auf. Mit unseren Körpern formen wir mal ein Kreuz mit ausgebreiteten Armen, mal verbeugen wir uns, mal lassen wir die Luft durch den Kopf ein­strömen und die Fußsohlen wieder ausströmen. Am Ende sitzen wir 15 Minuten ganz still. Und hören pünktlich auf. Ich bin erleichtert, dass die Kollegin ihren Termin schafft. Aber so richtig zur Ruhe bin ich nicht gekommen in dem hellen, kühlen Gemeinderaum.

Vetter-Jung hat ihre Ausbildung beim Jesuitenpater Franz Jalics und beim evangelischen Pfarrer Rüdiger ­Maschwitz gemacht, außerdem mischt sie buddhistische Elemente ein. –"Ich bin eine Grenzgängerin", sagt sie, "den Buddhisten bin ich zu protestantisch und den Protestanten zu buddhistisch." Klingt gut, zwischen den Stühlen finden sich ja meist die interessantesten Schätze.

Und dort, in den Grenzbereichen, gibt es für die Kirchen bestimmt auch Potenzial. Denn es kann ja nicht sein, dass teure MBSR-Kurse wochenlang ausgebucht sind, zum evangelischen Meditationsabend aber nur fünf Leute kommen. Vielleicht kann sich die Kirche noch mehr ab­gucken vom Buddhismus? Und könnten die Kirchen selber, diese uralten durchbeteten Räume, noch mehr zu Räumen der Stille werden? "Die Kirche kann helfen, Ruhe und Entspannung zu finden", sagt der Arzt Dietrich Grönemeyer in einem Interview mit "Zeitzeichen". Er war in Indien, in einer Begegnungsstätte in Dharamsala. "Das war so etwas Berührendes, dass ich mich gefragt habe, warum wir nicht die Kirchenräume öffnen und sie den Menschen anbieten."

Das ist kein revolutionärer Gedanke, "offene Kirchen" gibt es längst. Aber rund um die Uhr, wie Grönemeyer das vorschwebt, davon sind sie weit entfernt. Um zur Ruhe zu kommen, muss man vorher schon ins Internet gucken. Seit Wochen will ich in die katholische Heilig-Kreuz-Kirche, die mir eine Kollegin empfohlen hat, eine offene Kirche für Meditation und Stille. Sieht wunderbar aus im Netz. Aber offen ist sie nur zwischen 17 und 19 Uhr in einem Stadtteil, der weit von mir entfernt ist. Um 17 Uhr mache ich Feierabend, um 18 Uhr bin ich hungrig – ich gebe zu, ich bin eine komplizierte Sinnsucherin.

"Mir gefällt die Vorstellung, in einem Kirchenraum zu sitzen"

Also gebe ich noch einmal "Kirche" und "Meditation" in die Suchmaschine ein, und siehe da, es ploppt eine wunder­schön gestaltete Seite auf: Zazen in Frankfurt City. In der evangelischen Festeburgkirche im Stadtteil Preungesheim gibt es das Angebot: "Sitzen in Kraft und Stille. Die ­Gedanken zur Ruhe kommen lassen." Sechs Abende für 80 Euro. Klingt genau richtig für mich. Schnell verstehe ich: Die Kirche ist nicht die Veranstalterin, nur die geeignete Location, die Zazen-Gruppe hat den Ort nur gemietet. Schade. Aber mir gefällt die Vorstellung, in einem Kirchenraum zu sitzen.

Als ich an einem Novemberabend die schwere Kirchentür öffne, stellt sich eine fröhliche Frau in einem einfachen blauen Anzug als Steffi vor und sagt, es sei ja gar nicht so kalt, weil gerade noch die Laternenkinder da gewesen seien. Gleich wird mir wärmer. Im Kirchenraum, der heute Abend zur "Zendo" wird, zur Medita­tionshalle, liegen symmetrisch 14 dicke schwarze Matten auf dem Holzboden, auf jeder Matte eine hölzerne kleine Bank und eine weiße Porzellantasse. Die Kirchenstühle sind hinter einem japanischen Paravent verstaut, davor stehen imposante Klangschalen, zwei Stövchen mit Tee und eine große Trommel. Beim Zazen kommt es vor allem auf das Sitzen in der Stille an. Wir sitzen viermal 25 Minuten, dazwischen lockern wir kurz die eingeschlafenen Füße.

Was sich anhört wie die Speisekarte vom Sushirestaurant, hat durchaus eine Bedeutung

Hier hat alles seine strenge Ordnung, und selbst ein zerstreuter Geist wie ich lernt schnell: Wie man bei der Teezeremonie die Tasse hält, wie man sitzt, sich verbeugt, wie man das laminierte Blatt für die "Rezitation" unter der Matte hervorzieht und vor die Brust hält. Nur das Rezitieren selber ist schwer für die Anfängerin. Hannya Shingyo heißt der erste Text, den wir erst langsam vor­lesen und dann, die Trommel geht jetzt immer schneller, in beschleunigtem Tempo wiederholen. Wir Neuen kommen kaum hinterher. Macht nichts, lernen wir, allein die Phonetik habe beruhigende Wirkung, auch beim Zuhören.

Ich schließe die Augen und lausche der Trommel und den fremden japanischen Worten, Shiki soku ze ku. Ku soku ze shiki. Was sich anhört wie die Speisekarte vom Sushirestaurant, hat durchaus eine Bedeutung. Wörtlich heißt es "Form ist Leere, Leere ist Form". Mein Nachfragen kommt nicht so gut an, das kenne ich jetzt ja schon. Form ist Leere, das klingt zumindest harmlos. Und die Laute, das stimmt wirklich, haben etwas Beruhigendes.

Es sind lange Montagabende, zwei Stunden meditieren, danach Matten aufräumen, Teetassen ­spülen und Kirchenstühle wieder aufstellen. Aber ich freue mich schon am Wochenende auf den Montagabend. Beim dritten Mal lernen wir eine Atemübung. Ich werde einzeln in die Sakristei zu Wolfgang, dem Zenmeister, gerufen: Warum bin ich hier, wie geht es mir, was ist mein Ziel? Danach bekomme ich meine "Taiwa", meine persönliche Übung. Bald kaufe ich mir eine Meditationsbank, gefertigt in der Behindertenwerkstatt, auf der sitze ich abends zu Hause und übe meine Taiwa.

Wolfgang, um die 70, ehemaliger Vertriebsleiter, bietet die Zazen-Kurse seit 25 Jahren an, er ist ein gewinnender, freundlicher Typ. Spricht vom Advent, erinnert an die Strafgefangenen, die nicht weit von der Kirche in der JVA einsitzen. Eigentlich könnte das hier eine richtig nette Kirchengemeinde sein, aber kaum legen wir die Hände aneinander, sagt er: "Es sieht nur aus wie Beten, wir beten hier nicht." Ist ja gut. Für mich passt sie trotzdem, diese Symbiose aus ­Meditation und Kirche.

"Schrei doch nicht so"

Kurz vor Weihnachten ruft der Zenmeister an. Leider habe die Gemeinde die Mietpreise erhöht, außerdem die Heizung abgestellt. Die Kirche sei praktisch gewesen zu Corona-­Zeiten, wegen der Abstände. Aber künftig treffe man sich lieber in einer beheizten Turnhalle im Taunus. Schade.

Also geht meine Suche nach der Stille weiter. Beim Journalistenstammtisch treffe ich einen Kollegen, der donnerstagabends im ­Yogastudio meditiert. Er schickt mir erst mal Buchtipps, das gefällt meinem Kopf. Eines der Bücher bestelle ich mir, "Der Weg beginnt unter meinen Füßen". Mein Kopf will eben doch im Groben und Ganzen ver­stehen, was er da treibt beim Meditieren.

Die Welt ist in der Zwischenzeit leider auch nicht leiser geworden, neuerdings wird in meinem Haus auch noch das Dach renoviert. Iiiiiäng macht die Bohrmaschine, tok, tok, tok der Hammer. Nicht jedes Geräusch lässt sich wegatmen. Manchmal helfen klare Worte. Als vor meinem Fenster ein Autofahrer rumschreit, weil er zugeparkt ­wurde, versuche ich es erst mit den guten Kopfhörern. Dann mache ich das Fenster auf und sage so sachlich wie möglich: "Schrei doch nicht so." Hilft. Er hält tatsächlich den Mund. Mein Weg beginnt eben doch eher im Kopf.

Leseempfehlung

Plötzlich wird das Gespräch intensiv und die letzte U-Bahn ist weg. Besondere Momente kann man nicht herstellen, aber sich drauf einlassen, wenn sie da sind
Das eine ist alt und das andere neu und zeitgemäß – könnte man denken. Aber Spiritualität als individuellen Freiraum gibt es seit Jahrhunderten

Neue Lesermeinung schreiben

Wir freuen uns über einen anregenden Meinungsaustausch. Wir begrüßen mutige Meinungen. Bitte stützen Sie sie mit Argumenten und belegen Sie sie nachvollziehbar. Vielen Dank! Damit der Austausch für alle ein Gewinn ist, haben wir Regeln:

  • keine werblichen Inhalte
  • keine Obszönitäten, Pornografie und Hasspropaganda
  • wir beleidigen oder diskriminieren niemanden
  • keine nicht nachprüfbaren Tatsachenbehauptungen
  • Links zu externen Webseiten müssen zu seriösen journalistischen Quellen führen oder im Zweifel mit einem vertretbaren Prüfaufwand für die Redaktion verbunden sein.

Die Redaktion behält sich das Recht vor, Beiträge zu bearbeiten, macht dies aber stets kenntlich. Wir zensieren nicht, wir moderieren.
Wir prüfen alle Beiträge vor Veröffentlichung. Es besteht kein Recht auf Publikation eines Kommentars.

Lesermeinungen

Liebe Ursula Ott,
vielen Dank für den wunderbaren Artikel Meditiern und Pilgern'. Ich habe mich in so vielem wiedergefunden und herzlich gelacht. Und jetzt komme ich endlich mal dazu diese Email zu schreiben.
Auch ich habe ein Achtsamkeitsseminar (meiner Arbeitgeberin im öffentlichen Dienst) 'gestört' mit Nachfragen, warum alle Beispiele aus den USA kommen, buddhistische Wurzeln beschwört werden und wir doch auch aus unseren eigenen Traditionen schöpfen könnten, wie dem christlich-jüdischen Glauben, dem Klosterleben und der Europäischen Geschichte und Gegenwart.
Auf die Diskussion um kulturelle Aneignung wurde ich dann erst später aufmerksam, sonst hätte ich das auch noch mit Augenzwinkern eingebracht. Denn einige Achtsamkeits-Therapien verkaufen sich auch gleich mit indigener Namensgebung und dies sicherlich, ohne dass die First Nations an dem Profit beteiligt werden. Hat da schon mal jemand drüber geschrieben?
Meine kleine renitente, traditionsbewusste Gegenwehr beim Versuch des Meditierens, beim Hören von Body-Scan-Podcasts oder der Yoga Endentspannung etc. ist es manchmal, das Vaterunser aufzusagen. Einfach beruhigend. Und kann ja auch gegendert werden ;)
Ich freu mich auf Ihre nächsten Artikel.
Mit österlichen Grüßen
Theda Minthe
Hannover

Liebe Frau Ott

im Jahr Reformationsjahr 2017 waren Sie zu Gast im Frankfurter Literaturhaus. Dort habe ich Sie kurz kennengelernt, weil ich schon damals Ihren Humor
und "klare Ansage" sehr geschätzt habe. Nun habe ich Ihren o.a. Artikel gelesen. Entweder ich habe heftig schmunzeln müssen oder ich habe vor mich
hin gemurmelt: "Stimmt, stimmt! So ist es!" Wer die Stille und Kontemplation sucht, sollte einfach in eine Kirche gehen, aber wie Sie schon festgestellt
haben, sind die evangelischen Kirchen nur stundenweise geöffnet. Das hat seinen schlechten Grund, weil die Besucher sich nicht einem Kirchenraum
entsprechend verhalten. Ich will da nicht in die Details gehen! Es muß immer eine Person aus Sicherheit anwesend sein. Außerdem ist "Kirche" wie
man an den Austrittzahlen sehen kann, nicht "en vogue". Erst, wenn es dieser Gesellschaft einmal richtig schlecht geht, dann wird man sich an den
lieben Gott vielleicht wieder erinnern.
Bleiben Sie so humorvoll und "aufrecht"! Menschen wie Sie brauchen wir mehr denn je!
Ich lese "Chrismon" jedes Mal von vorne bis hinten und beglückwünsche Sie zur Auswahl der Themen und der journalistischen Kompetenz.
Mit Recht wurde das Magazin für seine Arbeit ausgezeichnet. Glückwunsch!
Ihnen persönlich und als Chefredakteurin alles Gute und herzlichen Gruß,
Eleonore Heuer

PS Als Stadtteil-Historikerin der Stiftung Polytechnische Gesellschaft habe ich während der Corona-Pandemie ein Referat mit Video-Interviews
über das Diakonissen-Mutterhaus erarbeitet. Wenn Sie die Kurzfassung interessiert, schauen Sie unter "Stadteilhistoriker" und "Unter der Haube - Diakonissen
gestern und heute" nach.
--
Mit freundlichen Grüßen

Eleonore Heuer

Liebe Mitarbeiterinnen, liebe Ursula Ott,
zufällig fiel mir eine Ausgabe der "ZEIT" in die Hand, und ich kam in den Genuss des o.g. Artikels.
Ich möchte nur die kurze Rückmeldung geben, dass ich sehr begeistert war, nicht nur vom Inhalt der Seiten,
sondern auch vom Schreibstil.
Es tat gut, sich im Text so wiederzufinden!
Herzlichen Dank, herzlichste Grüße und gute Besserung!
PS: Wie kann frau bloß vom Stimmchen zu einer Stimme kommen (mein Wunsch)?

Liebe Redaktion, liebe Frau Ott,
als regelmäßige Teilnehmerin an der Meditationsandacht der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Frankfurt-Niederrad bin ich enttäuscht und auch ein wenig verärgert über die Berichterstattung. Ich möchte an dieser Stelle unserer Pfarrerin Frau Vetter-Jung ein großes Lob aussprechen, dass sie es trotz aller Widrigkeiten dieser Zeit (Corona, Energiekrise) geschafft hat, das Meditationsangebot aufrecht zu erhalten, wenn auch unter eingeschränkten Bedingungen (Gemeinderaum statt Kirchsaal, weniger Teilnehmer_innen aufgrund der kalten Jahreszeit, Terminstress usw.). Meditation als Teil der Liturgie einer Andacht tut uns sehr gut, die Übungen sind auch Anregungen dafür, diese zu Hause fortzuführen. Und das bunte Tuch ist nicht nur ein buntes Tuch, sondern ein Meditationstuch, die Muster haben eine Bedeutung, die Kerzen dienen der Konzentration usw., warum stellen Sie die Dinge mit so einem negativen Unterton dar? Jedenfalls kommt das bei mir so an.
Nun zu Niederrad. Kennen Sie unseren Stadtteil? Wieso bezeichnen Sie ihn als unwirtlich? Ich bin hier aufgewachsen und lebe im Alter immer noch hier. Niederrad ist umgeben mit Naherholungsgebieten wie den Stadtwald und das Mainufer und hat viele Parks. Selbst die so genannte Bürostadt ist keine Geisterstadt mehr, viele Büros werden zu Wohnungen umgebaut und viele Wohnungs-Neubauten sind im Entstehen. Discounter, Drogerie, Bio-Markt, Apotheke haben sich dort angesiedelt, eine Buslinie fährt neuerdings rund und bringt vor allem ältere Menschen von A nach B. Die evangelische und katholische Gemeinde machen eine gute Arbeit, auch was die Ökumene betrifft. Unwirtlich? Ich muss doch sehr bitten.
Meditative Grüße.

Liebe Frau Ott, erstmal vielen Dank dafür, dass Sie dieses Thema aufgenommen haben und dass Sie auch in der Kirche nach Stille gesucht haben – daran denken viele sicher gar nicht mehr, wenn Sie zur Ruhe kommen möchten. Die Achtsamkeitsbewegung ist fest in säkularer oder jedenfalls nichtchristlicher Hand.
Dabei haben wir auch in unserer evangelischen Kirche mittlerweile viele Angebote.
Ihr Artikel ist für mich der Anlass, dass wir das, was wir in Frankfurt haben, besser zu bewerben – und er hält mir einen Spiegel vor:
Wie oft gehe ich gestresst in Veranstaltungen, weil ich nicht genügend Pausen einplane. Wie oft setze ich mich unter Druck, was ich alles noch schaffen muss, statt zu fragen, was ist wirklich wichtig. Und statt gegenwärtig zu sein, bin ich oft schon bei der nächsten Veranstaltung.
Auch dafür danke ich Ihnen. Er spornt mich an, weiterzumachen. Zum Meditieren gehört ja auch, wahrzunehmen, was ist und immer wieder einzuüben einfach nur da zu sein und bei mir selbst anzukommen – wohltuend für mich und letztlich hoffentlich dann auch für andere.

Liebe Frau Ott, auch vielen Dank für die offenen Worte bezüglich der Aversionen, die Ihnen entgegenschlagen, wenn Sie sich als Christ outen. Mir selber tut Zen-Meditation gut, aber ich mache in unserer Meditationsrunde keinen Hehl daraus, dass (für mich als Christ, wenn die Rede daraus kommt) Buddhismus nur als Praxis, nicht aber als Religion funktioniert. Niemand kann Ihnen verbieten, während der Meditation zu beten - wenn die Konzentration auf den Atem einmal nicht in den Fokus bringt, dann vielleicht eher ein im Atem mitschwingendes "Jesus - Christus" oder "veni -creator-spiritus" oder ein Bibelwort... und umgekehrt: warum sollte das Mitschwingen mit dem Atem nicht ein Form des Betens sein (muss Beten immer über den Kopf gehen?)... Viele Grüße

Sehr geehrte Frau Ott,
ich bin eine unregelmäßig-regelmäßige Chrismon-Leserin. Sie liegt immer der Süddeutschen Zeitung bei, die mein Mann abonniert hat und so finde ich sie dann und lese. Mir gefallen die gesellschaftlichen, oft auch ungewöhnlichen und mutigen Themen.
Irgendwie hat Ihr Artikel mich beschäftigt und darum schreibe ich spontan. Ich habe als Psychologin gearbeitet und sehr gern meditative Übungen angeleitet, inzwischen bin ich in Rente. Für mich habe ich auch immer wieder versucht ins regelmäßige Meditieren zu kommen, was mir
leider nicht gelungen ist, obwohl ich es gut finde. Ich kenne und mag den Body Scan, den Sie auch beschreiben.
Jetzt gerade verbinde ich mit Stille noch etwas Anderes. Ich singe nämlich in meinem Stimmbildungsunterricht ein Stück von Händel, „Süße Stille, sanfte Quelle.“ Mein Lehrer hat es mir vorgeschlagen, der Text hat mich angesprochen. Ich mag eine meditative Ruhe oder Stimmung. Ich glaube, dass sie Kraft gibt. In diesem Stück wird diese Kraftquelle besungen und das
freut mich.
Ich frage mich, ob sie in der Stille, nicht genau diese Ruhe, diese innere Verfassung suchen? Diese innere Haltung kann ich mir „witziger Weise“ auch beim Singen dieses Stückes klar machen.
Außerdem möchte ich Sie auf das Achtsamkeitsinstitut Ruhr aufmerksam machen. Dort finden zwei Sommer-Retreats im Schweigen statt.
Sie haben den wunderschönen Titel: „Stille ist das Element, in dem sich Großes formt.“ Ich habe 2019 an einem solchen Retreat teilgenommen
und bin bereichert nach Hause gefahren. Jetzt habe ich mich dagegen entschieden, weil ich mehr den Schwerpunkt ins Singen gesetzt habe.
Mit herzlichen Grüßen
Jutta Wilhelmi-Heimsath

Liebe Frau Ott,
mein Vater (fast 85) und ich (49) sind Chrismon-Fans. Die März-Ausgabe finde ich rundum gelungen!!! Und fand mich sehr in Ihrem Text wieder, denn es geht mir ähnlich. Ich bin nämlich auch eher laut (wie meine Eltern und mein Bruder auch - lebendig und quirlig und interessiert - aber eben auch laut). Und habe auch Migräne. Ich suche ebenso nach einem Angebot an „Stille“ bzw. „Zur-Ruhe-Kommen“.
Ein Tipp übrigens (ich habe davon finanziell nichts, bin nur sehr davon angetan): Die Akupressurmatte Shaktimat (fördert übrigens u.a. Frauen in Indien) - man legt sich für 20 Minuten drauf und ist danach wohlig entspannt - zusätzlich gibt es auch ein Stirnband, das zugegebermaßen etwas an eine Dornenkrone erinnert, aber hin und wieder auch bei meinen Migräne-Kopfschmerzen hilft.
Ich persönlich finde momentan Sport plus Entspannungsphase gut und „aktives“ Yoga und Autogenes Training - mehr wie „Traumreisen“ - u.a. an einen persönlichen Wohlfühlort.
Stimmen, die einem liegen, zu finden, finde ich sehr schwer. Ralf Maria Hölker hat z.B. eine nur 10-minütige Visualisierung auf einer Entspannungs-CD, die bei mir super funktioniert. Leider finde ich sie gerade nicht im Netz.
Viele Grüße aus dem Rodgau
Chantal Schaum